Die Invasion der Barbaren
Frankreich wird Marokko besiegen, aber ein WM-Finale ohne Europa wäre besser für den Weltfußball. Kommentar.
Wer richtig tippt, hat keine Ahnung von Fußball.
Franz Beckenbauer
Wenn du Angst vor Wölfen hast geh nicht in den Wald.
Argentinisches Sprichwort
Nach menschlichem Ermessen wird heute Abend das marokkanische Fußballwunder zu Ende gehen. Nach menschlichem Ermessen werden die Franzosen das Überraschungsteam aus Marokko schlagen und zwar, gut möglich, klarer, als alle erwarten, mit 2:0 oder 3:0.
Interessant zu beobachten war, dass im WM-Viertelfinale gerade die beiden favorisierten Mannschaften ausgeschieden sind, die im Achtelfinale die deutlichsten Siege feierten. Brasilien und Portugal. Sie hatten sich in gewisser Weise ausgespielt, sie hatten nichts mehr zuzusetzen, und vor allem aber hatten sie ganz latent und gegen ihren Willen ein unbewusstes Überlegenheits- und Unverwundbarkeitsgefühl entwickelt, Arroganz, und dies ist das Schlechteste, was einer Fußballmannschaft passieren kann.
Die Argentinier haben spätestens durch ihre Niederlage im ersten Spiel (gegen Saudi-Arabien) keine Arroganz, genauso wenig wie die Kroaten und die Marokkaner. Die einzigen, die sie haben, und zwar mit guten Gründen, sind die Franzosen. Das deutet darauf hin, dass es heute Abend ein harter Kampf werden wird.
Trotzdem kann man erwarten, dass Frankreich deutlicher gegen Marokko gewinnen wird, als viele jetzt denken. Warum? Weil Marokko die Spielweise von Spanien und Portugal den Marokkanern sehr entgegenkam. Diese ist nämlich nicht wirklich offensiv. Selbst Spanien hat keine zwingende Offensive. Beide spielen selber Konter-Fußball und sind damit den Marokkanern ähnlich.
Die Spielweise der Franzosen kommt ihnen dafür nicht entgegen. Sollten sich die Marokkaner relativ früh ein Tor einfangen, werden sie zusammenbrechen.
Fußball Romantik und Marokko-Realismus
Trotzdem ist und bleibt Marokko die Überraschungs-Mannschaft der diesjährigen WM. Eine der größten Überraschungen der WM-Geschichte. Mit Marokko feierte ein ganzer Kontinent, Afrika, auch jene Subsahara-Länder, zu denen die marokkanische Bevölkerung oft gern auf Distanz geht. Vor allem aber ganz Arabien, Ägypten, Saudi-Arabien und all jene anderen Länder, die oft untereinander verfeindet sind, zumindest miteinander oft distanziert umgehen.
Es feiern auch alle, die das "Lecturing" des Westens gegenüber dem Rest der Welt nicht mehr akzeptieren wollen.
Bemerkenswert ist, wie jetzt die Romantik aller Fußballfans auf die Marokkaner projiziert wird. Wären sie Italiener, würde man über "die Rückkehr des Catenaccio" klagen, wären es Griechen oder Bulgaren, dann würde man schimpfen, was für einen hässlichen Fußball die spielen. So aber sind es nun die Idole aller "11 Freunde-müsst-ihr-sein-Romantiker".
Dabei ist es verkürzt, nun bei der marokkanischen Mannschaft fortwährend das Kollektiv und seine Kraft zu beschwören, nur weil die der deutschen Nationalmannschaft angeblich abgeht.
Denn die Marokkaner sind auch individuelle Einzelkämpfer. Viele der Spieler sind gar nicht in Marokko geboren, sondern Kinder aus der zweiten und dritten Generation, die fußballerisch in Europa geformt worden. Der jetzt gefeierte Nationaltorhüter Bono wurde zum Beispiel in Montreal in Kanada geboren. Besonders viele wurden in Belgien geboren, andere in den Niederlanden, in Madrid in Spanien, in Frankreich.
Sie spielen in der Premier League und in der Primera Division, andere in Italien, in Frankreich, in Belgien, in Deutschland. Und zwar bei Top-Clubs: Es sind Spieler, die beim FC Chelsea, bei Paris Saint-Germain, bei Real Madrid in der ersten Mannschaft spielen, Spieler, die in der französischen, spanischen und englischen Liga zumindest auftreten, die oft auch wie etwa Achraf Hakimi die Bundesliga begeistert haben. Und Borussia Dortmund wäre froh, wenn es Hakimi hätte behalten können – der Mann war einfach zu teuer für die Bundesliga.
So sind es weniger Druck und prekäre Lebensverhältnisse, die Marokko beflügeln, sondern eher Motivation. Es ist Begeisterung, es ist Leidenschaft. Das muss man sich klarmachen: Dass in Deutschland diese Leidenschaft fehlt, nicht der Druck. Dass diese Freude am Spiel den deutschen Spielern zuletzt oft genommen wurde.
Schon darum wäre ein WM-Finale ohne Europa besser für den Weltfußball. Es würde die europäische Arroganz auch jenseits des Sports beschämen, und vielleicht auch in der Politik ein Umdenken befördern. Vielleicht geht der Traum, der sich hinter der Invasion der "Fußball-Barbaren" verbirgt, doch noch weiter.
Das Imperium wehrt sich
Noch eine letzte Bemerkung: Wer wirklich glaubt, dass das ein Zufall ist, dass ausgerechnet in der Woche vor dem WM-Finale und nach der Antwort des Emirats auf die EU-Parlamentsresolution angebliche Katar-Lobbyisten in Brüssel "enttarnt" und angeklagt werden, der ist naiv.
Glaubt man auch, dass die USA und Deutschland und jedes andere europäische Land in Brüssel nicht seine Lobbyisten sitzen hat, und diese genauso bezahlt werden?
Das Imperium wehrt sich. Das Imperium schlägt zurück.