"Die Kalifornische Ideologie hat einen faschistoiden Charakter"

Seite 3: "Altersgrenze von 10 Jahren"

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Gibt es auch Gegenpositionen?

Werner Seppmann: Oh ja, die gibt es. Während Frau Merkel den Computer schon in die Kindergärten hineindrücken will, gibt es aus berufenem Mund sehr ernst zu nehmende Einschätzungen, die diese Absicht als leichtfertig und verantwortungslos erscheinen lassen: Bill Gates und Steve Jobs wurden gefragt, wann sie ihre Kinder mit Computer vertraut gemacht haben. Beiden waren der Meinung, dass Computer in den Händen von Kindern nichts zu suchen haben. Sie sprachen sogar von einer Altersgrenze von 10 Jahren, die heute sicherlich nur noch schwer durchzusetzen sein dürfte, weil schon seit frühen Jahren die Kinder mit werbepsychologischen Methoden intensiv beeinflusst werden und sie auch durch das Vorbild ihrer Eltern nach dem Computer gieren.

Dennoch ist die Sinnhaftigkeit der Auffassungen von Gates und Jobs für jeden Pädagogen und Entwicklungspsychologen, der sich nicht der IT-Ideologie verschrieben hat, evident: Kinder brauchen zuerst eine Verwurzelung in der Realität, eine unmittelbare Welterfahrung und ein geeignetes pädagogisches Umfeld. All dies kann Technik nicht ersetzen. Jede Minute vor den Bildschirmen ist verlorene Zeit für die sensomotorische Entwicklung von Kindern. Die Software-Verkäufer, flankiert von einem durchsetzungsfähigen Propagandaapparat und ein auf die Öffentlichkeit einwirkendes Beeinflussungssystem (dem sich vor allem die Politiker bereitwillig unterworfen haben), erzählen erfolgreich etwas anderes. Erfolgreich sind aber nur ihre Bilanzzahlen.

"Die Kinder der IT-Elite gehen in Waldorf-Schulen"

Gibt es noch andere Gegentendenzen zu dieser Offensive der Computerisierung des Lernens?

Werner Seppmann: Den Drang zur Computer-Pädagogik gibt es weltweit. In vielen Ländern schon seit vielen Jahren. Aber in nicht wenigen werden verstärkt aus den negativen Erfahrungen - teilweise radikale - Konsequenzen gezogen. So wurden in den USA die ersten Tablet-Klassen wieder geschlossen. Auch in Norwegen wurde gerade eine Initiative zur flächendeckenden Ausstattung der Schulen mit Computern und Internetanschlüssen nach gravierenden Negativerfahrungen nach nur drei Monaten wieder gestoppt.

Auch in Australien hat es diese Entwicklung gegeben. Nach schlechten Plätzen im Pisa-Ranking wurden im Jahre 2012 circa 2,4 Milliarden Dollar für die Laptop-Ausstattung der Schulen investiert. Seit 2016 wurden sie wieder eingesammelt, weil die Schüler alles mit ihnen gemacht, nur nicht gelernt haben. Alleine schon, wenn Schülerinnen und Schülern das Mitbringen von Handys in den Schulen erlaubt wird, sind signifikante Leistungsabfälle festzustellen.

Aufschlussreich ist auch die Erfahrung einer deutschen Lehrerin, die in ihrer Klasse mit Laptops zu arbeiten versucht hat. Die Ergebnisse waren erschreckend. Beispielsweise beim Aufsatzschreiben: Denn sofort verfielen die Schülerinnen und Schülern in den Schrumpfstil, den sie bei der Kommunikation in den Sozialen Netzwerken verinnerlicht haben.

Übrigens gehen die Kinder der IT-Elite in Kalifornien in der Regel in Waldorf-Schulen, in denen die Computer-Pädagogik verpönt ist, während die Bundeskanzlerin fordert, schon Grundschüler "spielerisch" mit den Grundlagen des Programmierens vertraut zu machen. Interessant wäre es zu erfahren, auf Kosten welcher Fächer (denn der schulische Zeitrahmen ist ja nicht grenzenlos) das geschehen soll.

Hängen die in Ihrem Buch dargestellten Negativentwicklungen wie etwa öberflächliche Aneignung von Inhalten, fragmentarisiertes Denken, Konformitätszwang, Realitätsverlust und Abnahme der Subjektfähigkeit gar nicht so sehr mit der Technik zusammen, die wir benutzen, als mit der auf ökonomische Prozesse ausgerichteten Gesellschaft, die auf die Technologie zurückwirkt?

Werner Seppmann: Auf diese Frage ist es mir möglich, mit einer klaren Antwort zu reagieren: ja und nein. Es gibt natürlich ein Wechselverhältnis: Der Computer (beziehungsweise seine Programme) sind von den Widersprüchen dieser Gesellschaft geprägt - aber sie werden von ihm auch verstärkt. Fraglos wird mit dem Computer zwar kaum etwas organisiert, was nicht auch ohne ihn praktiziert würde. Jedoch geschieht dies nun mit größerer Intensität, mit umfassenderen Absichten und zunehmend auch mit einem effektiveren (um nicht zu sagen totalitäreren) Wirkungsgrad.

"Formierung von Marketingcharakteren"

Aber als naheliegende Frage drängt sich doch letztendlich auf, ob die von Ihnen beschriebene Tendenz zur Entmündigung und auch zur manipulativen Subjektprägung nur aus der Technologie resultiert. Hängt es nicht auch daran, dass viele sie nicht adäquat zu nutzen wissen? Oder anders gefragt: Ist der Gebrauch dieser Technologie im Grunde ambivalent und wird erst durch den massenhaft unaufgeklärten Gebrauch negativ?

Werner Seppmann: Nun leben wir ja in dieser Gesellschaft, in der diese beschriebenen Prozesse stattfinden und bevor wir uns Gedanken darüber machen können, wie die größten Negativwirkungen zu neutralisieren wären oder gar in welcher Weise die Computer-Technik emanzipatorische Wirkungen zu entfalten vermöchte, müssen wir uns mit den konkreten Auswirkungen im Hier und Jetzt beschäftigten. Und die sind meist, wie ich geschildert habe, zumindest sehr ambivalent, auch wenn sie nicht eindeutig negativ sind:

Einerseits haben sich die Kommunikationsmöglichkeiten universalisiert, stellen aber im Alltagsleben zunehmend auch eine zusätzliche Fessel dar, weil beispielsweise die Präsenz in den sozialen Netzwerken mit einem beständigen Zwang zur Selbstdarstellung verbunden sind. Ein wesentliche Konsequenz der herrschenden "Kommunikationskultur" ist die Formierung von Marketingcharakteren; sie stimuliert die Entstehung selbstverwertungsorientierter Präsentationsformen nach dem Prinzip einer glücklichen und sorgenfreien Welt, die von den werbemedialen Vorbildern vermittelt werden.

Jeder Hinweis auf Probleme und Selbstzweifel, die eine wesentliche Rolle in Prozessen direkter Kommunikation spielen, wird ausgeschaltet. Hinweise auf Anstrengungen und Scheitern sind in einer Atmosphäre der Selbstobjektivierung und dem Zwang zur Perfektion deplatziert. In ihrem Streben nach Positionsvorteilen in den Konkurrenzfigurationen sind die Medien-Teilnehmer bemüht, makellos und perfekt zu erscheinen. Der Verbreiter dieser Bilder und Botschaften weiß, dass das Leben nicht so ist, wie es dargestellt wird. Aber dennoch ist er geneigt, die geschönten Bilder, die er von seinen "Freunden" erhält, für bare Münze zu nehmen, und blickt mit einem gewissen Neid und sehnsüchtig auf das "bunte Treiben" und die "Erlebnisvielfalt" der anderen. Ein permanentes Gefühl, etwas zu verpassen, wird am Leben gehalten und das Bedürfnis stimuliert, sich mit Hilfe der Smartphone-Kommunikation an diesem kontinuierlichen Prozess des "kommunikativen Austausches" einzuklinken. Doch minimiert sich das Gefühl, etwas zu verpassen, nicht, sondern wird zum Anlass, immer wieder zum Handy zu greifen, um am Ball zu bleiben.

Ja, das ist ein "massenhaft unaufgeklärter Gebrauch", wie Sie es nennen, aber mit bloßen Appellen, doch vernünftig zu sein, wird er nicht verhindert werden können. Dazu bedarf es gesamtgesellschaftlicher Initiativen, obwohl ich nicht weiß, wie sie aussehen könnten. Mit irgendwelchen rhetorischen Mätzchen sind die Probleme jedenfalls nicht zu bewältigen. Wir können nicht den ersten Schritt vor dem zweiten machen. Nötig ist erst einmal eine schonungslose Bestandsaufnahme der problematischen Aspekte der Digitalisierung.

Auf der Grundlage eines solchen Wissens kann dann die Frage nach einem anderen Umgang mit dem Computer und nach seinen positiven Potenzialen als entwickelte Produktivkraft, die fraglos vorhanden sind, gestellt und diskutiert werden. Aber dann geht es nicht mehr allein um technische Fragen, sondern um die Einbettung der Technik in menschengemäße gesellschaftliche Verhältnisse. Es geht um Mitbestimmung im radikalen Sinne einer Selbstgestaltung der Lebensverhältnisse. Das Computersystem in seiner gegenwärtigen instrumentalistischen Prägung ist ein Schutzwall dagegen. Deshalb entspricht es den Interessen der herrschenden Kräfte.

Zu Teil 1: Der Mann, der vor Computern warnt

Zu Teil 2: "Negative Langzeitkonsequenzen bis in die neuronalen Strukturen hinein"

Empfohlener redaktioneller Inhalt

Mit Ihrer Zustimmmung wird hier eine externe Buchempfehlung (Amazon Affiliates) geladen.

Ich bin damit einverstanden, dass mir externe Inhalte angezeigt werden. Damit können personenbezogene Daten an Drittplattformen (Amazon Affiliates) übermittelt werden. Mehr dazu in unserer Datenschutzerklärung.