Die Katholische Kirche und Missbrauch: Es nicht genau wissen wollen

Seminarkirche Hildesheim. Bild: Toksave/CC BY-SA 3.0

Sechs Jahre nach der Aufdeckung massenhaften Missbrauchs in der Kirche zeigt das Beispiel Bistum Hildesheim, wie stark bestimmte Muster vorherrschen

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Sechs Jahre nach der Aufdeckung massenhaften Missbrauchs durch Geistliche in der katholischen Kirche ist das Ausmaß der Taten noch immer nicht absehbar - und der Umgang der Kirchenleitungen mit den Überlebenden des Missbrauchs wirft weiter Fragen auf. Aktuell steht das Bistum Hildesheim im Fokus und der dort ab den achtziger Jahren arbeitende Priester Peter R., der erst als Jesuitenpater dort eingesetzt war und nach seiner Entlassung aus dem Jesuitenorden vom Bistum Hildesheim übernommen wurde.

Dass Peter R. bzw. die Kirchenleitung, die für ihn zuständig ist, noch Schlagzeilen produziert, ist erstaunlich: Denn bei Peter R. handelt es sich um einen der Haupttäter des Canisius-Kollegs, er war also einer der Geistlichen, die von Beginn des Jahres 2010 an im Visier der Medien waren. (Link auf 32039)

Außerdem haben die Jesuiten als erste Institution in der katholischen Kirche in Deutschland relativ umfassende Berichte zu den Übergriffen ihrer Patres vorgelegt; man sollte also meinen, dass wenigstens hier einiges geklärt wäre.

"Kein Missbrauch!"

Aber in einer ARD-Dokumentation vom 30.November 2015 berichtete eine junge Frau, dass sie im März 2010 zusammen mit ihrer Religionslehrerin einen Übergriff durch Peter R. beim Personalchef des Bistums Hildesheim gemeldet hat. Obwohl die Tat damals noch nicht verjährt war, hat das Bistum erst Ende 2010 Peter R. bei der Staatsanwaltschaft angezeigt, nachdem die Großeltern der jungen Frau noch einmal beim Bistum vorgesprochen haben.

Die Erklärung des Personalchefs und damaligen Missbrauchsbeauftragten, Heinz-Günter Bongartz: Was das Mädchen im März beschrieben habe, sei kein sexueller Übergriff gewesen und deswegen hätte er es nicht als Missbrauch einstufen können.

Und der Hildesheimer Bischof Norbert Trelle sprang Bongartz bei, indem er meinte, Wangenküsse zur Begrüßung seien doch unter Jugendlichen heute gang und gäbe. Von Wangenküssen zur Begrüßung war freilich nicht die Rede.

Selbst in dem stark zusammenfassende Protokoll, das der Personalchef gegen die eigenen Richtlinien nicht von den beiden Anwesenden unterschreiben ließ, kann man lesen: Das damals 14-jährige Mädchen habe berichtet, dass es vor eineinhalb Jahren bei Peter R., einem Freund ihrer Großeltern, übernachtet habe. Bei der Übernachtung im selben Raum sei ihr R. nahe gekommen und habe sie auf die Wange geküsst. Außerdem habe R. immer wieder Situationen herbeigeführt, in denen er mit ihr allein gewesen und aufdringlich geworden sei. Und er habe ihr wiederholt große Geschenke gemacht (Spiegelreflexkamera).

Bongartz, der inzwischen Weihbischof in Hildesheim ist, musste sich belehren lassen, dass selbst die beschriebenen Handlungen schon Formen sexualisierter Gewalt seien. Ursula Enders, Leiterin von Zartbitter Köln, einer Kontaktstelle gegen sexuellen Missbrauch an Kindern, erklärte:

Das Protokoll enthält ganz klar klassische Hinweise auf Täterstrategien. Jeder Täter steigert seine Handlungen und bereitet massivere vor.

Dem Hildesheimer Bistum wirft sie Versagen vor:

Ein Bistum, dass so eindeutige Hinweise nicht wahrnimmt und bagatellisiert, vertuscht die Gewalt, die ein Priester gegenüber einem Mädchen verübt hat.

Fehlte dem Missbrauchsbeauftragten nur die Kompetenz zu erkennen, wo Missbrauch beginnt? Wohl kaum: Peter R. war ja für Bongartz kein Unbekannter, außerdem ist das Protokoll mit "Ablage: Missbrauch 2010" überschrieben. Wenn man sich anschaut, wie in Hildesheim mit Missbrauchsvorwürfen umgegangen wurde, dann erkennt man: Die Verteidigung, von Missbrauch sei keine Rede gewesen, ist ein wiederkehrendes Muster.

Ein Muster, das nicht zuletzt deswegen problematisch ist, weil es diejenigen, die Missbrauch anzeigen, verantwortlich macht für das Nicht-Handeln der Institution: Hättet Ihr deutlicher gesagt, was Sache ist, dann hätten wir ja gehandelt. Statt eigenes Versagen zuzugeben, werden die Opfer des Missbrauchs erneut gedemütigt.

Peter R. und das Bistum Hildesheim

Die Zeit von Peter R. als Jesuitenpater ist in dem Bericht der ehemaligen Bundesgesundheitsministerin Andrea Fischer über Missbrauch durch Jesuiten aufbereitet: Danach arbeitete der Jesuitenpater Peter R. seit 1982 als Dekanatsjugendseelsorger in Göttingen, also im Bereich des Bistums Hildesheim. Vom Berliner Canisius-Kolleg war er zuvor versetzt worden, weil es dort Vorwürfe wegen sexueller Übergriffe gab.

Damals dachte noch niemand der Ordensverantwortlichen daran, dass man Peter R. besser nicht mit Jugendlichen arbeiten lässt. Als der damalige Jesuitenprovinzial Alfons Höfer im Jahr 1989 auch aus Göttingen Vorwürfe über "unangemessene Annäherungen" erhielt - so die Formulierung im Fischer-Bericht - bestand er auf einer Versetzung von Peter R.. Zudem erkundigte sich Höfer in Berlin, was dort gegen R. vorlag und hörte von "massiven homosexuellen Kontakte mit ihm anbefohlenen minderjährigen Jungen".

Peter R., der alle Vorwürfe bestritt und von seinem Vorgesetzten enttäuscht war, wünschte eine Auszeit vom Orden, die ihm gewährt wurde. Parallel hat das Bistum Hildesheim sich bereit erklärt, R. in seinen Dienst zu nehmen. Nun schreibt Andrea Fischer:

Bischof Homeyer war über die Vorwürfe gegen Pater Anton informiert und untersagte ihm ausdrücklich die Arbeit mit Kindern und Jugendlichen, er wurde als Pfarrer in einer Gemeinde in Hildesheim eingesetzt.

Interessant ist, dass Alfons Höfer in einer Erklärung aus dem Jahr 2010 schreibt:

Die Diözese Hildesheim wurde von mir darauf hingewiesen, dass ich einen Einsatz von Peter R. in der Jugendarbeit für unverantwortbar hielt.

Diese Formulierung besagt nicht, dass er den damaligen Hildesheimer Bischof Josef Homeyer über die Vorwürfe gegen R. informierte. Die Formulierung deckt sich aber mit einem Schreiben, das Höfer im Juli 1989 an Bischof Homeyer geschickt hat:

Herrn Prälat Holst habe ich die Gründe für die Ablösung von P. R. angedeutet. Die Fakten, die zu dieser Entscheidung führten, haben weder P. R. noch die betroffenen Jugendlichen geleugnet. Gleich welche Interpretation man diesen Fakten unterlegt, halte ich es für nicht verantwortlich, P. R. weiter in der Jugendarbeit einzusetzen. Es ist möglich, dass P. R. aufgrund meiner Entscheidung um Exklaustration aus dem Orden und zeitweilige Aufnahme in Ihr Bistum bitten wird. Einer pastoralen Tätigkeit in einer Pfarrei oder in anderen Bereichen - ausgenommen Jugendarbeit - würde ich durchaus befürworten.

Man kann nicht behaupten, dass der Jesuit hier klar gesagt hätte, dass es Vorwürfe wegen sexuellen Missbrauchs gegenüber Peter R. gab. Wenn man bei dem nachfragt, demgegenüber "Andeutungen" gemacht wurden, nämlich dem damaligen Personalchef und Missbrauchsbeauftragten Werner Holst, dann sagt der, er und der inzwischen verstorbene Bischof Homeyer hätten von den Jesuiten nichts von den gegen Peter R. vorliegenden Vorwürfen erfahren:

"Hätten wir das gewusst, hätten wir ihn nicht übernommen", ist sich Holst heute sicher. Man kann fragen, ob Höfer, der eine pastorale Arbeit von Peter R. "durchaus befürwortet", auch deswegen nicht deutlicher wurde, weil er den Problem-Bruder gerne loswerden wollte. Freilich kann man sich auch wundern, warum nach dem oben zitierten Brief keiner der Hildesheimer Verantwortlichen auf die Idee gekommen ist, bei Höfer Genaueres zu erfragen.

Keine Arbeit mit Kindern und Jugendlichen?

Ob Peter R. für seine Arbeit in der Hildesheimer Gemeinde wirklich die Auflage erhalten hat, nicht mit Kindern und Jugendlichen zu arbeiten, wie im Fischer-Bericht gesagt, kann nicht mehr überprüft werden. Holst erinnert sich, dass so eine Anweisung nichts mit Pädophilie zu tun gehabt hätte, Peter R. hätte besser mit Obdachlosen arbeiten können. Dies war ein Teil seiner Arbeit in der Hildesheimer Gemeinde.

Die Pressestelle des Bistums gibt die Auskunft, dass Peter R. vermutlich die Auflage gemacht wurde, nicht mit Kindern und Jugendlichen zu arbeiten. Aber: "Unterlagen darüber liegen in der Personalakte von Peter R. nicht vor." Eine befremdliche Lücke. Oder ist ihm die Auflage, nicht mit Kindern und Jugendlichen zu arbeiten, eben doch nicht gemacht worden?

Kontinuierliches Wegschauen

Selbst wenn die Hildesheimer Verantwortlichen nichts von den Vorwürfen gegen Peter R. aus Berlin und Göttingen erfahren haben sollten: Ende 1993 beschwerte sich eine Mutter bei Bischof Homeyer, dass Peter R. sich ihrer Tochter und zwei weiteren Mädchen auf einer Freizeit unangemessen genähert habe.

Wenn es eine Auflage gab, nicht mit Kindern und Jugendlichen zu arbeiten, wurde die offensichtlich nicht streng überwacht: Wie auch, wenn der Priester in einer normalen Pfarrei arbeitet, wo der Kontakt mit Kindern und Jugendlichen zum normalen Betrieb eines Pfarrers gehört?

Der ehemalige Personalchef und Missbrauchsbeauftragte Holst berichtet nun, dieser Fall sei an den Jesuitenprovinzial weitergeleitet worden, er habe in der Sache nicht weiter recherchieren können. Peter R.'s Auszeit beim Orden war aufgehoben worden und er war zu dem Zeitpunkt wieder volles Ordensmitglied. Die Pressestelle ergänzt:

Aus den Akten der Personalabteilung geht nicht hervor, wie das Bistum in dieser Sache vorgegangen ist.

Hat man sich dafür gar nicht interessiert? Oder eine Lücke in der Akte? Ein Gespräch mit der briefschreibenden Mutter und ihrer Tochter, so die Pressestelle weiter, sei nicht möglich gewesen, weil die sich Ende 1993 in ihrem Heimatland Mexiko aufgehalten habe.

Die Jesuitenoberen nahmen diesen neuerlichen Vorfall zum Anlass, Peter R. das Verlassen des Ordens nahezulegen; so kam es auch. Das Bistum Hildesheim hat daraufhin R. endgültig als eigenen Priester übernommen. Die Entlassung aus dem Orden, habe er nicht in Zusammenhang mit Missbrauchsvorwürfen gesehen, sagt Werner Holst heute. Von Missbrauch war - schon damals - nicht die Rede. Offensichtlich hat man sich für die, die diesbezüglich Vorwürfe erhoben, auch nicht sonderlich interessiert.

Der Beschuldigte als Kronzeuge

Für das Jahr 1997 steht wieder etwas in der Personalakte von Peter R.: Eine Frau, die im Kindergarten tätig war, hatte der Bistumsleitung von einem sexuellen Übergriff Peter R.s berichtet. Ein Protokoll ihrer Aussage findet sich aber leider nicht in der Akte, dafür das Protokoll eines Gespräches, dass der Personalchef zusammen mit dem Justitiar des Bistums mit Peter R. geführt hat: Es ging um finanzielle Unregelmäßigkeiten und den sexuellen Übergriff. Peter R. bestritt alle Vorwürfe der Frau.

Holst erinnert sich, dass R. in dem Gespräch nichts nachgewiesen werden konnte, und er sich sicher gewesen sei, dass R. zumindest nicht straffällig geworden sei. Die Frau war damals volljährig. Ein Gespräch mit ihr habe er nicht geführt, meint Holst.

Trotzdem wurde Peter R. aus der Hildesheimer Gemeinde versetzt. Sein Nachfolger dort, Diakon Wilfried Otto, kennt die Frau, die ihn damals anzeigte. Aus einem Gespräch mit dem verstorbenen Bischof weiß er, sie hätte gedroht zur Staatsanwaltschaft zu gehen, wenn Peter R. nicht versetzt würde. Holst hingegen sagt, der Vorwurf der Frau sei nicht der Hauptgrund für den Abzug gewesen, sondern Peter R.s Umgang mit Geld.

Demzufolge wurden die folgenden Vorgesetzten von Peter R. wohl auch nicht über Missbrauchsvorwürfe informiert. Hans-Joachim Osseforth, der ehemalige Pfarrer der Gemeinde in Hannover-Mühlenberg, in der R. ab 1999 eingesetzt war, gab an, ihm hätte man als Grund für die Versetzung von R. Unregelmäßigkeiten bei der Finanzverwaltung angegeben. "Also habe ich zugesehen, dass er nicht mit Geld und Verwaltungsdingen in Berührung kam." Von den Missbrauchsvorwürfen habe er erst Anfang 2010 erfahren.

Peter R. konnte als Priester weiterarbeiten - ob mit oder ohne Auflage, wer weiß das schon? Otto ist entsetzt, dass bei Peter R.s Versetzung aus Hildesheim nicht gesagt wurde, dass er übergriffig geworden sei. Die folgenden Missbrauchsfälle hätten nicht passieren müssen, wenn man hier Klartext geredet hätte, so Otto.

Das gute Gesicht der katholischen Kirche

Wer nach dem bisher Geschilderten glaubt, Werner Holst habe seinen Job als Missbrauchsbeauftragter nicht ernst genommen, den belehrt er eines Bsseren: Er habe das Thema sehr scharf und offensiv verfolgt, so Holst - uns er sei bereit gewesen einzugestehen, dass nicht immer alles richtig gelaufen sei. Im Fall Peter R. gibt er zu, dass er damals auf ihn reingefallen sei.

Bei seiner Verabschiedung aus seiner letzten Pfarrstelle im Jahr 2014 verweist Holst stolz darauf, dass er sich bei einer WDR-Talkshow im Jahr 2002 mutig Fragen zum Thema Missbrauch in der Kirche gestellt habe.

Wenn man sich die Sendung mit Bettina Böttinger anschaut, wird man erinnert, dass das Thema Missbrauch nicht erst 2010 mit den Enthüllungen am Canisius-Kolleg auf der Agenda stand: 2002 waren es die Meldungen über Missbrauchsfälle in der Katholischen Kirche der USA, die auch diesbezügliche Fragen an die hiesige Kirche provozierten.

Die Deutsche Bischofskonferenz verabschiedete deshalb auf ihrer Herbstvollversammlung 2002 Leitlinien "Zum Vorgehen bei sexuellem Missbrauch Minderjähriger durch Geistliche" - und Werner Holst übernahm die undankbare Aufgabe ins Fernsehen zu gehen, nachdem viele andere Würdenträger abgesagt hatten.

Holst räumte dort Fehler in den Bistümern ein: Früher hätte man die Täter einfach stillschweigend versetzt, "aber das haben wir ja sehr schnell aufgegeben": Therapie und strafrechtliche Verfolgung seien heute selbstverständlich, so Holst im Jahr 2002, wo er immerhin schon 18 Jahre in seinem Amt als Personalchef und Missbrauchsbeauftragter tätig war.

"Die erste Fürsorge gilt den Opfern", betonte er in der Talksendung. Deshalb habe er "in den späteren Fällen" Kontakt mit den Opfern aufgenommen, alle erdenklichen Hilfen angeboten und die Entschuldigung des Bischofs übermittelt. Und man hätte gelernt, dass die Öffentlichkeit einbezogen werden müsse.

Außerdem lobte Holst in der Fernsehsendung die neuen Leitlinien der Bischofskonferenz. Allerdings dauerte es in seinem Bistum noch gut sieben Jahre bis zu diesen Leitlinien verbindliche Ausführungsbestimmungen erlassen wurden; dies geschah nämlich erst im Januar 2010 - wobei die Kritik laut wurde, dass die Ausführungsbestimmungen möglicherweise erst nach dem Aufdecken des Missbrauchs am Canisius-Kolleg fertiggestellt und dann rückdatiert worden seien.

Die Geschichte wiederholt sich

Wenn man sich die Äußerungen von Bischöfen und Verantwortlichen der katholischen Kirche ab dem Januar 2010 anschaut, fallen viele Parallelen zu Holst Äußerungen aus dem Jahr 2002 auf: Fehler werden zumeist der Vergangenheit zugeordnet: Früher sei einiges schief gelaufen, aber spätestens 2010 habe man gelernt; und zwar dass die Opfer und ihre Bedürfnisse an erster Stelle stehen müssen, dass man die eigenen Leute nicht vor Strafverfolgung schütze und transparent mit Vorwürfen umgehe - oder um das Bild von Holsts Nachfolger Heinz-Günter Bongartz zu zitieren

Wir gehen in der Spur des Opfers.

Den Lernprozess, den man angeblich 2010 durchlaufen hat, hatte man auch schon 2002 hinter sich gewähnt. Leider belegen auch die jüngsten Veröffentlichungen um Peter R. dass die Illusion der Besserung alleine nicht ausreicht.

Anfang 2010 ist der Hildesheimer Bischof Norbert Trelle dem Vorbild des damaligen Canisius-Rektors, Klaus Mertes, gefolgt und hat Menschen, die Opfer sexueller Übergriffe geworden sind, ermuntert sich beim Bistum zu melden.

So führt der Bericht des damaligen Missbrauchsbeauftragten, Heinz-Günter Bongartz, vom 18. Juni 2010 Meldungen von 71 Menschen aus dem ersten Halbjahr 2010 auf. Zwei davon betreffen auch Peter R.: Da ist aber nicht das junge Mädchen dabei, die in der ARD-Dokumentation sprach. Deren Bericht im März 2010 wurde ja nicht als Missbrauch gewertet: Die Pressestelle des Bistums erklärt vielmehr, das eine Meldung von einer Mitarbeiterin des Bistums stamme, die angegeben habe, von Peter R. 1991 sexuell belästigt worden zu sein.

Außerdem habe eine Frau den Hinweis gegeben, dass bei einer Jugendfreizeit 1988/89 ein Mädchen auf dem Schoß von Peter R. gesessen habe. Schon im Bericht von Andrea Fischer zum Missbrauch durch Jesuiten konnte man lesen: "Beide Personen waren nicht bereit, diese Vorwürfe in einer Konfrontation mit Peter R. zu wiederholen. Seitens des Bistums wurde ein Gespräch mit Peter R. geführt, er hat die Vorwürfe bestritten."

Das Bistum bestätigt diese Darstellung - und Ursula Enders von Zartbitter Köln ist entsetzt:

Eine Gegenüberstellung von Betroffenen mit einem des Missbrauchs beschuldigten Seelsorger ist ein unverantwortliches Vorgehen, das ein hohes Risiko einer Retraumatisierung von Opfern birgt.

Dies Vorgehen lasse jegliches menschliches Einfühlungsvermögen vermissen und nehme zusätzliches Leid für die Betroffenen in Kauf. Und die Traumatherapeutin ergänzt, das dies auch den Vorgaben der Deutschen Bischofskonferenz für einen achtsamen Umgang mit Betroffenen widerspreche.

Meldet Euch doch!

Aber auch im Falle des 14-jährigen Mädchens, das sich im März 2010 ins Generalvikariat traute, hat es der damalige Missbrauchsbeauftragte mit den Leitlinien nicht so genau genommen: Wie das Bistum inzwischen einräumte, berichtete nicht nur das Mädchen von dem Übergriff durch Peter R., sondern Diakon Wilfried Otto äußerte am selben Tag in einem Telefonat mit dem Personalchef und Missbrauchsbeauftragten Bongartz den Verdacht, dass wahrscheinlich auch die Mutter des Mädchens von Peter R. sexuell belästigt worden sei.

In der WDR-Dokumentation, die aktuell, am 27. Januar 2016, ausgestrahlt wurde, berichtete diese Mutter nicht nur von dem Missbrauch durch Peter R, sondern sie vermerkte zugleich, dass sich bisher noch niemand vom Bistum bei ihr gemeldet habe. Sie ärgere sich, dass "die das als Pillepalle abtun".

Sexuelle Übergriffe seien ein wichtiges Thema, über das man reden solle - "und die machen das halt nicht." Die Bistumsleitung verteidigt sich, dass sie sowohl im März 2010, wie bei einem späteren Treffen mit den Großeltern der inzwischen jungen Frau, darauf hingewiesen hätten, dass sich doch auch die Mutter bei der Missbrauchsbeauftragten melden solle.

In den spät angefertigten Ausführungsbestimmungen zum Vorgehen bei sexuellem Missbrauch des Bistums Hildesheim ist aber ein anderes Verhalten vorgesehen, nämlich hinzugehen zu den mutmaßlichen Opfern und nicht zu warten, bis diese kommen: "Sobald der Bischöfliche Beauftragte von einem Vorwurf oder einem Verdacht sexuellen Missbrauchs Minderjähriger durch Geistliche im Dienst des Bistums Hildesheim erfährt" - allein der Verdacht reicht - habe er ein Gespräch mit dem Beschuldigten zu führen und:

Ebenfalls sofort und unmittelbar nimmt der Bischöfliche Beauftragte Kontakt zum Opfer (ggf. zu den Sorgeberechtigten) auf. Nach Möglichkeit sucht er unter Hinzuziehung eines Mitglieds des Beraterstabes das Gespräch.

Von daher verwundert es, dass Bischof Norbert Trelle bei der Pressekonferenz nach Ausstrahlung der ARD-Dokumentation Anfang Dezember meinte, die Eltern der jungen Frau verschwänden für ihn "irgendwo im Hintergrund, im Dunkel. Ob sie überhaupt noch in Hildesheim leben oder nicht, und ob man überhaupt an sie herankommt, das kann ich auch nicht sagen."

Es wäre keineswegs ein aussichtsloser Job seiner Leute gewesen, den Kontakt zur Mutter über die Großeltern herzustellen.

Kein Missbrauch - keine Verantwortung

Aber man konnte den Eindruck gewinnen, dass es Trelle bei der Pressekonferenz eher darum ging, seine Verantwortung bzw. die des Bistums kleinzureden: Wenn irgendwo in einem Sportverein ein Missbrauchsskandal entstehe und es "Beschuldigungen in alle Richtungen" gebe, könne man doch nicht sagen, dass der Verein jetzt sämtliche Therapiekosten übernehmen müsse:

Sondern man wird sich an die Beschuldigten halten, an ordentliche Strafverfahren.

Damit begründete Trelle, dass das Bistum keine Entschädigung an die junge Frau gezahlt hatte, die müsse sie vor einem weltlichen Gericht vom Täter erstreiten.

Der Vergleich mit dem Sportverein ist zumindest gewagt, wenn man bedenkt, was die Kirche über den Priester als besonderen Repräsentanten Christi lehrt. Auch misst das Kirchenrecht dem Bischof weit mehr Vollmachten und damit Verantwortung zu als einem Vereinsvorstand.

Aber auch wenn man die Theologie außen vor lässt: Die sogenannten Anerkennungszahlungen, die über eine Koordinierungsstelle der Deutschen Bischofskonferenz abgewickelt werden, sind in der Tat auf die Fälle beschränkt, in denen Schmerzensgeld oder Schadenersatzansprüche nicht mehr gerichtlich durchsetzbar sind.

Aber in der Einleitung zur Vereinbarung dieser Zahlungen schreibt die Deutsche Bischofskonferenz:

Um Opfer nicht auf einen möglicherweise langwierigen und kostspieligen Rechtsweg zu verweisen, soll bei nicht verjährten Schadensersatz- und Schmerzensgeldforderungen von den jeweils betroffenen kirchlichen Körperschaften eine außergerichtliche Einigung mit den Anspruchstellern angestrebt werden.

Nachdem eine Nachfrage zu diesem Thema der Pressestelle des Bistums Hildesheim vorlag, erklärte diese Mitte Januar, dass man der jungen Frau eine Anerkennungszahlung geleistet habe. Es waren 4.000 Euro.

Aufklärung scheibchenweise

Erst die mediale Aufmerksamkeit brachte immer mehr Details ans Licht. Der Unabhängige Beauftragte der Bundesregierung für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs, Johannes-Wilhelm Rörig, schilderte in der WDR-Dokumentation vom 27.1.2016 seinen Eindruck, dass es wohl immer noch die Tendenz gebe, die Institution schützen zu wollen, indem man Informationen zurückhalte und Tatsachen nicht nach außen trage. Darum forderte er das Bistum auf, einen unabhängigen Ermittler einzusetzen:

Um herauszufinden, ob noch weitere Straftaten vorliegen, die dann an die Staatsanwaltschaft übermittelt werden können.

Am Tag nach der Ausstrahlung der Sendung gab das Bistum Hildesheim bekannt, dass es einen unabhängigen Gutachter mit der Untersuchung der Missbrauchsfälle durch Peter R. beauftragen will. Es wäre schön, wenn so ein Ermittler nicht nur nach strafrechtlich Verwertbarem schauen, sondern auch die Vergangenheit berücksichtigen würde, wo ja noch keineswegs alles klar zutage liegt.

Außerdem wurden hier nur die Übergriffe durch Peter R. thematisiert, die in seiner Zeit als Priester des Bistums Hildesheim bekannt geworden sind. Es gab in den vergangenen Jahren noch viele weitere Missbrauchstäter unter den Geistlichen des Bistums Hildesheim. Das Beispiel Peter R. lehrt, dass vermutlich auch bei den anderen Fällen bisher nur ein Teil der Wahrheit bekannt sein dürfte.

Ob die Wahrheit dann die Verantwortlichen frei machen würde, zu ihrer Schuld zu stehen, statt sie den Opfern des Missbrauchs zuzuschieben, kann nicht versprochen werden. Aber vielleicht gelänge es, für folgende Generationen das alte Muster zu unterbrechen: Wo nicht von Missbrauch die Rede ist, ist hoffentlich nichts gewesen und entsteht hoffentlich keine Verantwortung für uns. Denn diese Hoffnung trügt zumeist und riskiert neue Opfer.