"Die Krise des Buches ist daher auch eine Krise der Geisteswissenschaften"

Seite 2: Neue technische Sprachen: Herausforderung für die Geisteswissenschaft

Man liest ja nicht nur alphabetische Texte, sondern auch Formeln oder Computercode, also Zahlenfolgen, die wahrscheinlich wirklichkeitsmächtiger sind als das, was Geisteswissenschaftler zu Papier bringen. Ist die Diskussion nicht verkürzt, wenn man vom Lesen spricht und damit nur das von Texten meint, aber die Naturwissenschaften und die Informatik mit der Formel- und Algorithmensprache nicht einbezieht? Hier wird auch immer mehr gelesen. Computerprogramme werden immer länger und komplexer, es ist eine enorme Aufmerksamkeitsarbeit notwendig, um sie schreiben, lesen und verstehen zu können. Tritt nicht damit das Textlesen in den Hintergrund, auch in der gesellschaftlichen Bedeutung?

Klaus Benesch: Das ist ganz bestimmt so. Nur einmal ein Beispiel. In Bayern wird gerade über eine Hochschulreform diskutiert, die die Universitäten auf eine neue Basis stellen soll. Das steht im Kontext der Hightech-Initiative des Freistaats Bayern. Entworfen wird eine Zukunft der Universitäten und damit auch der Geisteswissenschaften im Kontext von Hightech.

Hier schwingt mit, was du sagst, dass die neuen Technologien nicht nur eine andere Art des Lesens ermöglichen, sondern sie bedingen langfristig auch andere Texte, Darstellungsformen und Inhalte. Man sieht, wie mit den Messenger-Apps und den Sozialen Medien die Texte immer kürzer werden.

Sie kreieren ihre eigene Sprache über Emojis und Kurzformen, die zunächst nur in bestimmten Gruppen verbreitet und bekannt sind. Hier entstehen neue, interessante Textformen, die aber auch in eine durchaus problematische Richtung gehen.

Eine der Stärken der Geisteswissenschaften, über die nicht so oft gesprochen wird, ist das differenzierte, unprätentiöse Sprechen und das genaue Hinhören und -schauen auf die Sprache. Das wird in den Geisteswissenschaften noch gelehrt. Diese Kompetenz benötigt man, um die neuen technologischen Entwicklungen kritisch begleiten zu können.

Hannah Arendt schreibt in ihrem Buch "Vita activa" über die Arbeit, dass die Naturwissenschaft sich nicht mehr selbst retten kann, weil ihr die Sprache abhanden gekommen sei. Sie kann nicht mehr ernsthaft, kritisch und auf Distanz über die eigene Verfasstheit, Forschung und Inhalte nachdenken.

Naturwissenschaft denkt in Formeln, sagt Hannah Arendt.

Genau hier kommt die Geisteswissenschaft ins Spiel, die nicht in Formeln denken muss (auch wenn ihr Jargon das gelegentlich vermuten läßt), aber die Formel ernst nehmen muss als eine Gegebenheit, die die Politik bestimmt. Insofern braucht es, was ich in dem Buch auch zeigen wollte, in den Geisteswissenschaften eine gewisse Offenheit für die Situation, die du beschrieben hast.

Neuer Analphabetismus? Wenn Technik Texte erzeugt...

Nun könnte man aber auch sagen, dass die Sprache selbst zu einem Phänomen der Technik wird. Wir werden bald KI-Systeme haben, die auch komplexe, literarische Texte schreiben können. Nachrichten, Wetterberichte, Sportberichte, selbst wissenschaftliche Artikel etc. lassen sich bereits automatisch generieren. Wenn nun die Technik Texte erzeugen kann, gleich ob nun digital oder auch gedruckt, die bislang ausschließlich von Menschen hergestellt und aufgeschrieben wurden, sind das dann auch Objekte der Geisteswissenschaften? Auf der anderen Seite glauben wir, so zumindest unser traditionelles Textverständnis, dass wir aus den Texten etwas über die Welt lernen können.

Mit den maschinengenerierten Texten werden diese jedoch immer zu Oberflächen, was bedeuten könnte, dass wir, wenn wir die Welt verstehen wollen, wir die hinter den Texten stehenden Programme verstehen müssen. Wir wissen in der Regel auch jetzt schon nicht, nach welchen Regeln Algorithmen uns in den Sozialen Medien Texte auswählen. Das wird sich weiter ausprägen, wenn wir immer tiefer in den technischen Welten leben. Werden wir zu neuen Analphabeten, wenn wir den numerischen Code nicht verstehen können und uns nur auf der Textebene aufhalten?

Klaus Benesch: In gewisser Weise "ja", aus der Sicht derjenigen, die diesen Code schreiben. Die Frage ist, ob das ein Bereich ist, auf den die Geisteswissenschaften dann genauer hinschauen und Kenntnisse entwickeln müssen, damit wir beides lesen können, also unsere Narrative und das, was du als Code beschreibst. Die Hoffnung, dass dies möglich sein wird, ist allerdings nicht groß.

Codes sind komplexe Sprachen, die von Spezialisten beherrscht und angewandt werden. Ob man sich hier gerade einmal so nebenbei in das Lesen und Schreiben von Codes einarbeiten kann, dass man tatsächlich versteht, was da passiert, halte ich für schwierig, auch wenn es natürlich wünschenswert wäre. Die andere Seite aber ist, dass selbst dann, wenn man es könnte und wüsste, wie Code entsteht, es noch immer die Narration bräuchte, um aus diesem Vorgang des Schreibens von Code etwas Sinnhaftes zu machen.

Der Code selbst kreiert gesellschaftlich und philosophisch gesehen keinen Sinn, sondern er erfüllt eine Funktion. Das ist ein anwendungsorientiertes Schreiben mit dem Blick auf eine ganz bestimmte Funktion, die am Ende des Schreibprozesses steht.

In der Narration hingegen, besonders in der, mit der sich die Literaturwissenschaften beschäftigen, geht es um etwas anderes, nämlich um die Sinnhaftigkeit von Konstellationen. Darüber wird anhand von Personalisierungen spekuliert und geredet. In der Literatur konstituiert sich Sinnhaftigkeit personalisiert, in Form von einzelnen Charakteren oder Individuen, die exemplarisch dargestellt werden. Darüber kann man sich auseinandersetzen.

Das Wichtige aber ist, dass die Geisteswissenschaften und hier vor allem die Literaturwissenschaften nicht an ihrem Thema kleben, also nicht nur auf die Literatur schauen, sondern sich als Experten von Narration verstehen, die sich auch andere Narrative als literarische anschauen und lesen können.

Darin, glaube ich, liegt die Universalkompetenz und auch die Zukunft der Literaturwissenschaften und der anderen geisteswissenschaftlichen Fächer. Sie können leicht über den Tellerrand ihres eigenen Arbeitsbereichs hinaus schauen und in andere, wichtige gesellschaftliche Bereiche vordringen, für die ebenfalls Sprache, Erzählen und Geschichte essentiell sind.

Der Artikel ist ursprünglich bei den Buchkomplizen erschienen.

Klaus Benesch

Mythos Lesen

Buchkultur und Geisteswissenschaften im Informationszeitalter