Die Krise kurz erklärt

Seite 4: Wie schlimm wird die Krise werden? Worauf müssen wir uns einstellen?

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Kurzfristig wird das System mit Sicherheit in einer schweren Wirtschaftskrise versinken, sobald die Verschuldungsdynamik zusammenbricht, die den Kapitalismus - noch - am Laufen hält. Die anstehende globale Depression könnte durchaus die Schärfe und Dramatik der Weltwirtschaftskrise der 30er Jahre des 20. Jahrhunderts erreichen, inklusive schwerwiegender sozialer und politischer Verwerfungen und Umbrüche. Der Wirtschaftseinbruch in Südeuropa wird nicht mehr von einem späteren Aufschwung abgelöst werden. Stattdessen findet in der Peripherie der EU ein dauerhafter wirtschaftlicher und sozialer Absieg statt, der die betroffenen Länder in ihrer zivilisatorischen Entwicklung zurückwerfen wird. Es ist, als ob sich die "Dritte Welt" von Nordafrika über das Mittelmeer bis nach Südeuropa ausbreiten würde. Es findet derzeit ein Prozess des "Abschmelzens" der Wohlstandsinseln der "Ersten Welt" im globalen Maßstab statt.

Die kommende globale Depression bildet dabei nur das jüngste Stadium eines langfristigen, weltgeschichtlichen Prozesses, bei dem das kapitalistische Weltsystem nach einer gut 500-jährigen Entwicklungsperiode an die dargelegte innere Schranke seiner Entwicklungsfähigkeit stößt und an seinen eskalierenden Widersprüchen zugrunde geht. Das System tritt nun in eine Phase des chaotischen Umbruchs ein, wobei die Richtung und der Ausgang dieses Prozesses nicht prognostizierbar sind. Der US-amerikanische Soziologe Immanuel Wallerstein hat diese Periode des systemischen Umbruchs folgendermaßen beschrieben:

Wir leben in einer Phase des Übergangs von unserem existierenden Weltsystem, der kapitalistischen Wirtschaft, zu einem anderen System oder anderen Systemen. Wir wissen nicht, ob dies zum Besseren oder zum Schlechteren sein wird. Wir werden dies erst wissen, wenn wir dorthin gelangt sind, was möglicherweise noch weitere 50 Jahre dauern kann. Wir wissen allerdings, dass die Periode des Übergangs für alle, die in ihr leben, sehr schwierig sein wird. … Es wird eine Zeit der Konflikte oder erheblicher Störungen … sein. Es wird auch, was nicht paradox ist, eine Zeit sein, in der der Faktor des freien Willens zum Maximum gesteigert wird, was bedeutet, dass jede individuelle und kollektive Handlung eine größere Wirkung beim Neuaufbau der Zukunft haben wird als in normalen Zeiten, also während der Fortdauer eines historischen Systems.

Immanuel Wallerstein, Utopistik, Wien, 2002, S. 43

In gewissem Sinne können die bereits global eskalierenden Auseinandersetzungen und Verwerfungen als Teil dieses Kampfes um die Ausgestaltung des künftigen Weltsystems aufgefasst werden, auch wenn dies den Akteuren dieser Kämpfe zumeist nicht klar ist. Die ungeheure Intensivierung der Umbrüche und Konflikte resultiert aus der Tatsache, dass das gegenwärtige System für immer mehr Menschen unerträglich wird, da es an seine Entwicklungsgrenzen stößt.

Immer mehr Menschen fallen aus dem Prozess der Kapitalakkumulation heraus, sie werden "überflüssig" - während der Druck auf die noch in Arbeit befindlichen Lohnabhängigen immer weiter wächst. Die Perspektivlosigkeit der Jugendlichen im arabischen Raum etwa bildete eine wichtige Triebkraft der Umbrüche in dieser Region. Deutschland kann als eine Burnout-Republik bezeichnet werden, während in Südeuropa zweistellige Arbeitslosenraten erreicht werden.

Mit zunehmender Krisenintensität werden sich diese Widersprüche verschärfen. Der Ausgang dieses chaotischen Transformationsprozesses ist - wie von Wallerstein konstatiert - völlig unklar, da er von den unendlich komplex verwobenen Handlungen der daran beteiligten Menschen abhängig ist. Das kommende Weltsystem kann viel schlimmer (hierachischer und diktatorischer) als das gegenwärtige werden - oder auch besser, egalitärer und demokratischer. Mit Sicherheit kann aber jetzt schon konstatiert werden, dass die aus dieser Transformation hervorgehende Gesellschaft keine kapitalistische sein wird, da es das dargelegte Kapitalverhältnis selbst ist, das an seine inneren Grenzen stößt und die tiefere Ursache der gegenwärtigen Krise bildet.

Letztendlich scheint es angebracht, diese Krise auch als Chance wahrzunehmen, als Chance auf die Errichtung eines besseren, demokratischeren und egalitärenen Gesellschaftssystems. Bei Abstrahierung von den konkreten Formen kapitalistischer Vergesellschaftung nimmt die Krise ja einen regelrecht absurden Charakter an: Die Gesellschaft erstickt an ihrem Überfluss.

Der Kapitalismus verliert letztendlich seinen ewigen "Wettlauf mit den Maschinen". Weil zu viele Waren mit immer weniger Arbeitskräften hergestellt werden können, versinken immer mehr Bevölkerungsgruppen und Weltregionen in Marginalisierung und Verelendung. Die technischen und materiellen Voraussetzungen zur Errichtung einer Gesellschaft, die die Grundbedürfnisse aller Menschen weltweit befriedigt, sind aber objektiv gegeben.

Weitere Infos:

  1. Immanuel Wallerstein on the end of Capitalism
  2. "In 30 Jahren wird es keinen Kapitalismus mehr geben"
  3. Schleifung der Überkapazitäten
  4. Zweite Welle der globalen Wirtschaftskrise innerhalb der nächsten Jahre