Die Linke: Protestpartei gegen soziale Missstände

Warum Deutschlands Parteien nicht zukunftsfähig sind

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Mit der Bundestagswahl vom September 2009 wurde auch dem letzten Wahlbürger klar, dass der Wandel des hergebrachten Parteiensystems der Bundesrepublik unaufhaltsam ist. Das klassische Drei(einhalb)-Parteien-System aus CDU/CSU, SPD und FDP führten die Grünen in ein Vier(einhalb)-Parteien-System über. Nun war es "Die Linke", dieses zu einem Fünf(einhalb)-Parteien-System zu erweitern. 5,15 Millionen Stimmen erhielt die Linke; jeder neunte Wähler stimmte für diese Partei, die in ihrer jetzigen Gestalt erst seit Sommer 2007 existiert, aber nicht ohne Vorgeschichte ist. Diese besteht aus zwei eng miteinander verknüpften Strängen und ist für jede Beurteilung von Programmatik und Politik von Bedeutung.

Im ersten frei gewählten Bundestag von 1949 war eine linke, eine kommunistische Partei vertreten, 1,3 Millionen Stimmen und 5,7 Prozent Anteil verhalfen der KPD zum Einzug ins Parlament. Doch bereits bei den nächsten Wahlen 1953 scheiterte sie: Ihre Diffamierung des Volksaufstandes in der DDR als "faschistischer Putsch" reduzierten sie auf 600.000 Stimmen und 2,2 Prozent Anteil. Mit dem KPD-Verbot von 1956 geriet jegliche radikal linke Opposition in die Illegalität.

Erst 1968 erschien mit der DKP wieder eine zugelassene linke Partei, die sogleich die Invasion der Tschechoslowakei durch Truppen des Warschauer Vertrages rechtfertigte. Bei den Wahlen 1972 und 1976 erhielt die DKP knapp 120.000 Stimmen, bei den beiden folgenden Wahlen deutlich weniger. Sodann verschwand sie in der Bedeutungslosigkeit, um erst ab 2005 durch die Kandidatur von DKP-Mitgliedern auf Listenplätzen der Linken wieder in Erscheinung zu treten. Daneben erwuchs 2004/05 aus abtrünnigen SPD-Mitgliedern und Gewerkschaftern die Partei "Arbeit & soziale Gerechtigkeit – Die Wahlalternative" (WASG).

Der andere Strang setzt 1946 in der Sowjetischen Besatzungszone mit der Vereinigung von SPD und KPD zur SED ein, eine mit vielgestaltigem Druck nach Vorgaben der sowjetischen Besatzungsmacht betriebene Zwangsvereinigung. Als "Staatspartei" beherrschte sie ihr halbes Land nahezu uneingeschränkt, um 1989 vom Gang der Geschichte zutiefst erschüttert zu werden. Was 1989/90 zunächst als SED-PDS, dann als PDS firmierte, war in keinerlei Hinsicht Motor, ja, noch nicht einmal Mitwirkender des historischen Wandels.

Es handelte sich vielmehr um Getriebene, die in Opposition allein zur alten SED-Führung gingen. Die PDS ist Kind der SED-internen Reaktion auf den vom Volk erzwungenen Umbruch. Bis März 1990 agierte sie noch als Regierungspartei, erst dann wurde sie Opposition. In der Folgezeit stieg sie in den ostdeutschen Bundesländern zur einflussreichen Regionalpartei auf, während sie in den westlichen Bundesländern keine Rolle spielte.

Dies änderte sich, als nach Wahlverlusten und inneren Konflikten ab 2002 eine Neuausrichtung erforderlich wurde. 2005 wurde der Name in "Die Linkspartei.PDS" (eigene Kurzbezeichnung "Die Linke.PDS" geändert, 2007 gliederte sie sich dann die WASG ein und agiert fortan als Partei Die Linke.

Eine Partei, die in sich eine derartige Vorgeschichte trägt, kann Zukunftsfähigkeit nicht einfach behaupten, sondern hat diese zu erlangen und vor allem zu beweisen. So zu tun, als beginne eine solche Partei sei es 1989 oder 1990 oder 2005 oder 2007 am Punkt Null – das ist gröbste Irreführung, zumal beim Führungspersonal, weit mehr aber noch bei der Mitgliedschaft unübersehbare Kontinuitäten bestehen. Die Linken- Mitgliedschaft, überproportional in den östlichen Bundesländern angesiedelt, zeigt das mit Abstand höchste Durchschnittsalter in der deutschen Parteienlandschaft: 62,5 Jahre.

Die Linke setzt auf den fürsorglichen Staat

Dass eine Partei mit solchen historischen Bürden inhaltlicher wie personeller Art bundesweite Wahlerfolge erzielt und nicht allein beachtlich im Bundestag, sondern auch in 13 von 16 Landtagen vertreten und an zwei Landesregierungen direkt sowie an der von Nordrhein-Westfalen indirekt beteiligt ist – wie ist das zu erklären? Die Erklärung liegt nicht darin, dass ein "demokratischer Sozialismus" in der Fassung der Linken plötzlich als populäres Gesellschaftsmodell aufschiene. Obgleich es in unserer Gesellschaft an allen Ecken und Enden knirscht und kracht, sogar glimmt und lodert – die Bereitschaft, radikal Neues zu denken, ist (noch) nicht vorhanden. Vielmehr ist die Erklärung darin zu finden, dass die Entwicklung der bundesdeutschen Gesellschaft zunehmend widersprüchlich, gegensätzlich, zuspitzend verläuft, dass sich deshalb die Spaltung der Gesellschaft vertieft, dass es zwar Profiteure und Nutznießer gibt, aber weit mehr Opfer, Leidtragende, Verlierer, Abgehängte.

Nur drei Schlaglichter auf die Größenordnung: Bei derzeit 40,47 Millionen Erwerbstätigen, davon 27,67 Millionen in sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung, sind 3,0 Millionen Menschen erwerbslos.´Und selbst, wer Arbeit hat, kommt mit dem Einkommen viel zu oft nicht aus: Von den fast 1,4 Millionen "Aufstockern" können etwa 340.000 trotz einer sozialversicherungspflichtigen Vollzeitbeschäftigung ihren Lebensunterhalt nicht aus eigenen Mitteln bestreiten. Insgesamt leben derzeit 6,5 Millionen Menschen von "Hartz IV", davon 1,7 Millionen Kinder.

Indem die Linke diese Entwicklungen vollkommen zu Recht heftig kritisiert, bietet sie sich als Besorger eines "Schutzschirms" für Erwerbslose, Niedriglöhner, Billigjobber, Leiharbeiter und Hartz-IV-Bezieher an. Tatsächlich gab dieser Begriff sogar das Motiv des Bundestagswahlprogramms von 2009 ab.

Wie wäre ein solcher "Schutzschirm" politisch herzustellen? Zunächst fällt auf, dass der Anklang an das Bild eines gütigen Staates, der sich um seine "Schutzbefohlenen" kümmert, überdeutlich hervortritt.

Für eine solche paternalistische Sicht stehen nicht nur die beiden Zugpferde Gysi und Lafontaine, auch setzen alle zentralen politischen Forderungen der Linken zuvörderst auf "den Staat": Großbanken sollen verstaatlicht und Hedgefonds verboten, der Finanzsektor insgesamt soll "öffentlicher Kontrolle" unterworfen werden. Energiekonzerne sollen verstaatlicht, die Bahn nicht privatisiert werden. Der öffentliche Dienst soll "weiterentwickelt" und ausgebaut werden. Verschiedenste steuerliche Maßnahmen sollen "eine soziale Umverteilung von oben nach unten" herbeiführen. "Gerechte, ausgeglichene Verteilungsverhältnisse sind auch wichtig zur Stärkung der Demokratie, weil die Verfügung über große finanzielle Mittel auch politische Macht verleiht." Mittels solcher Steuerpolitik sollen die öffentlichen Finanzen höhere Einnahmen erzielen und gestärkt werden. Umfangreiche Investitionsprogramme sollen zwei Millionen neue Arbeitsplätze schaffen.

Mit diesen Zielen agiert die Partei auf der Verteilungsebene – und ausschließlich auf der Verteilungsebene. Dass linke Parteien seit jeher darauf setzen, man könnte auch sagen vertrauen, dass andere, in der Regel die "bösen Kapitalisten" erwirtschaften, was sie dann zu verteilen gedenken, davon vermag sich auch "Die Linke" nicht zu befreien. Insofern hat die Partei dem Schwungrad ihrer Wahlerfolge, der Enttäuschung vieler Wähler über die von der SPD herbeigeführte "Agenda 2010", keine neuen Perspektiven hinzugefügt. Sie hält sich in ihrer Rolle als Komplementär-, als Schönwetterpartei gefangen. Zu Zeiten der Prosperität kann das in Wahlergebnissen aufgehen, zu Zeiten der Krise eher nicht. Denn selbst Sympathisanten und Anhänger der Linken ahnen, dass die große Umverteilung in wirtschaftlich schweren Perioden kaum leistbar ist. Von daher wird "Die Linke" vom üblichen Schicksal ereilt – während Krisen spürbar an Anhängerschaft einzubüßen.

Die Linke ist Protestpartei ohne einen eigenständigen Gestaltungsanspruch

Dass die Partei einen eigenständigen Gestaltungsanspruch nicht zu erheben vermag, rührt auch daher, dass der derzeit diskutierte Programmentwurf einen dürftigen Kompromiss zwischen drei Grundströmungen darstellt. "Die Linke" vereint nicht allein zwei sehr verschiedenartige Parteien, sondern zugleich unterschiedliche Flügel. Zuvörderst wird zumal im Westen der linkssozialdemokratische und gewerkschaftliche Flügel wahrgenommen, seine Grundideen zur Umverteilung und Kontrolle des Kapitalismus prägen den Programmentwurf: "Linke Reformprojekte" für einen "Politikwechsel". Zu zahm, sagen die antikapitalistischen und kommunistischen Kritiker. Ihre Argumentationen für einen "Systemwechsel" zielen auf den Kommunismus als "ziemlich ferne Utopie" (Sahra Wagenknecht), streben gleichwohl als "konkrete Alternative zum Kapitalismus" an, was sie "Sozialismus" nennen.

Die laue Kompromissformel dieser beiden weithin im traditionellen Politikdenken verbleibenden Flügel: "Wir wollen einen demokratischen Sozialismus des 21. Jahrhunderts, der den heutigen gesellschaftlichen und globalen Herausforderungen und Möglichkeiten gerecht wird." Im Schatten der alten Lager erwuchs indes eine weitere Strömung, die hergebrachte Positionen überwindet und sich Neuem durchaus stellt. Das "Forum Demokratischer Sozialismus" (fds), einer von 25, von der Satzung zugelassenen Zusammenschlüssen innerhalb der Partei, sowie die Gruppe "Emanzipatorische Linke" suchen kommenden Herausforderungen durch ein wesentlich erweitertes Politikverständnis, durch Kritik an Staatsfixierung und Wachstumsimperativ, durch Betonung individueller Freiheitsrechte, durch das Ziel einer "Neukonstituierung der Arbeitsgesellschaft, durch die Anlegung "queer-feministischer Sicht" auf Arbeit und Reproduktionsverhältnisse gerecht zu werden. Ihre 13 Thesen lesen sich streckenweise wie ein radikales Reformprogramm für die Partei, das deren Mehrheit entschieden überfordern dürfte.

Gerade diese breiter angelegte Sicht verdeutlicht, wie reduziert die grundlegenden Leitlinien der "Linken" ausfallen. Noch am radikalsten Programmziel, der Umgestaltung der Eigentumsstruktur, wird dies deutlich. Im Programmentwurf heißt es:

Eine entscheidende Frage gesellschaftlicher Veränderung ist und bleibt die Eigentumsfrage. Wirtschaftliche Macht bedeutet auch politische Macht ... DIE LINKE kämpft für die Veränderung der Eigentumsverhältnisse. Wir wollen eine radikale Erneuerung der Demokratie, die sich auch auf wirtschaftliche Entscheidungen erstreckt und sämtliche Eigentumsformen emanzipatorischen, sozialen und ökologischen Maßstäben unterwerfen ... Strukturbestimmende Großbetriebe der Wirtschaft wollen wir in demokratische gesellschaftliche Eigentumsformen überführen und kapitalistisches Eigentum überwinden.

Als lägen keine historischen Erfahrungen vor, dass öffentliches oder staatliches oder Volkseigentum per se keinerlei Fortschritt bringt, wird unbeirrt das längst verblichene Wundermittel vergangener Zeiten beschworen. Zu einer echten Gestaltung der Gesellschaft ist die Partei in ihrer derzeitigen Verfassung nicht in der Lage, denn Zukunftsfähigkeit kann nur reklamieren, wer aktiv und positiv Grundzüge, Leitlinien, Ziele zu bestimmen oder wenigstens zu benennen vermag.

Wer etwa "soziale Gerechtigkeit" postuliert, ist in der Bringschuld zu erklären, auf welche Weise Wirtschaft und Staat organisiert sein sollten, damit es "gerechter" zugehen kann. Auf absehbare Zeit wird "Die Linke" auf die Rolle als Protestpartei gegen soziale Missstände beschränkt bleiben und echte politische Erfolge allenfalls als Korrektiv erzielen können. Zudem ist höchst ungewiss, ob die Positionskämpfe unter Flügeln und Strömungen nicht wieder aufbrechen werden.