Die Literatur ist tot - es lebe die Literatur

Auf dem Weg über die mediale Epochenschwelle stellt sich die Frage, ob die Transformationen der Schrift für ein traditionelles Medium wie die Literatur eine Neudefinition bedeutet. Ein Sammelband will darüber Auskunft geben.

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Literatur ist ein Zeitspiegel. Auf der Oberfläche ihrer wandelnden Themen und Inhalte reflektiert sich die Dynamik gesellschaftlicher Prozesse und ihrer einzelnen Aspekte nicht weniger als in dem stets sich verändernden Kanon ihrer formalen und stilistischen Darstellungspraxis. Politische und kulturelle Umbrüche schlagen sich in literarischen Werken ebenso nieder wie technologische Entwicklungen. Die Resonanz der historischen Bewegung aber, welche in der Literatur widerklingt, stellt sich immer auch als die Frage nach dem, was das denn nun eigentlich ist: "Literatur".

Die Literatur ist immer eine andere. Und doch stellt sich unter den Bedingungen der Digitalisierung der Medien die Frage nach ihrem Status gegenwärtig besonders eindringlich - wenn es denn stimmt, daß wir dabei sind, die Gutenberg Galaxis zu verlassen, das Ende der Ära der Schrift angebrochen ist, dann wird dies die Kunstform der Schreibens nicht unberührt lassen. Und das bedeutet nicht nur, daß sich in Produktion, Distribution und Rezeption literarischer Texte neue Formen ausbilden werden - sondern wohl auch, daß sich jenseits der medialen Veränderungen die Stellung der Literatur in und zu ihrer Zeit neu definieren wird.

Hat der Übergang von der oralen in eine literale Kultur im antiken Griechenland erst die Entstehung von Literatur ermöglicht, so könnte sich im Übergang von einer (noch) literalen in eine post-literale das Verschwinden dessen ankündigen, was mit unserem traditionellen Begriff von Literatur überhaupt noch zu beschreiben ist. Unkenrufe über das nahende Ende des Buches sind nicht neu; ihnen analog ließe sich im Blick auf die elektronischen Aufschreibesysteme sich die Hypothese formulieren, ein radikaler Umbruch werde, was wir als literarischen Umgang mit Texten kennen, ersetzen durch neue Formen der Hypertextualität - Formen, deren non-linearer Charakter die Heterogenität der postmodernen Welt widerspiegele.

Solch eine Prognose freilich ist zu simpel; die Reflexion der Zeit durch Literatur kein 1:1 Verhältnis. Sowenig es je ein einziges, seiner Gegenwart entsprechendes Thema gab, existiert eine ihrer Zeit vor anderen angemessene formale Ausdrucksweise. Statt keiner sehen wir doch wohl "nur" einer anderen, den medialen Umbrüchen entweder entsprungenen oder entkommenen Literatur gegenüber.

Die Frage, ob sich durch die gegenwärtigen Veränderungen der Schriftlichkeit "eine Ausdifferenzierung zwischen traditionellen und elektronischen Medien vollzieht oder ob traditionelle Medien wie die Literatur erlöschen", stand im Zentrum einer Tagung des Wissenschaftszentrums Nordrhein-Westfalen, deren Beiträge Dirk Matejovski und Friedrich Kittler in dem Band "Literatur im Informationszeitalter" herausgegeben haben. Ein roter Faden, der die Diskussion durchzogen hat, läßt sich gleichwohl kaum erkennen, sondern allenfalls konstruieren - zu bunt ist die Sammlung der Texte; zu zweifelhaft ihr inhaltlicher Zusammenhang.

"Seit der industriellen Revolution lebt die alphabetisierte Gesellschaft in einer Welt, die sie alphabetisch nicht mehr begreifen kann." Diese Diagnose von Vilém Flusser steht am Anfang des Bandes. Im größer werdenden Spalt zwischen dem, was die meisten Menschen verstehen, und dem, was einige von ihnen produzieren (und viele benutzen), sieht Friedrich Kittler eine romantisch verklärte Utopie nach unvermittelter Kommunikation wachsen, ein "Heimweh ins Niedagewesene", denn schließlich gibt es "keine Kommunikation ohne Nachrichtentechnik".

Das bedeutet freilich nur, daß Kommunikation immer vermittelt ist, sich ohne Medien nicht vollziehen kann. Es sagt noch nichts über den Zusammenhang von Literatur und Digitalisierung. Muß die Literatur sich der Tatsache stellen, daß der technologische Fortschritt die Palette verfügbarer Aufschreibesysteme um die elektronischen Medien vergrößert hat? Und dürfen (bzw. sollten) wir erwarten, daß Literaten sich auf die fortschreitende Digitalisierung einlassen und den verbreiteten "Computeranalphabetismus" (Kittler) ihrerseits überwinden?

Zumindest verbindlich läßt sich eine solche Forderung gewiß nicht vertreten - was auch keiner der Autoren versucht. Was ihr zugrunde liegt, aber ist eine Idee, die bei Flusser und Kittler die Kritik an dem zunehmenden Unverständnis der Meisten den Grundlagen unserer Technologie gegenüber zu motivieren scheint: Es ist die Idee, wir sollten immer richtig verstehen, was wir tun. Doch warum sollten wir? Was spricht dagegen, ein Auto zu fahren, ohne zu wissen, wie sein Motor funktioniert - und was dagegen, einen Text am PC zu verfassen, ohne zu wissen, wie das entsprechende Programm unterhalb jener Interfaces arbeitet, die Computeranalphabeten die Benutzung der digitalen Technologie ermöglicht? Gewiß - die unwissende Verwendung garantiert, daß der User sich nur innerhalb vorgegebener Parameter bewegen kann. Wir sind gefangen im Unverständnis, "antiquiert", so hieß es bereits bei Elias, unserer techno-wissenschaftlichen Gegenwart gegenüber. Und doch ist die Freiheit, welche das unerreichte Verständnis verheißt, auch nur eine weitere Illusion.

Wir erleben seit einem Jahrhundert eine zunehmende Formalisierung der Kommunikation, der sich gerade auch - darauf weist Rüdiger Weingarten hin - die Sprachwissenschaften nicht verweigern können. Für die Literatur aber heißt das noch nicht viel mehr, als daß sie ein weiteres Sujet gewonnen hat, mit dem sie spielen - und gegen das sie gegebenenfalls anrennen kann. Auch die Normierung der Sprache spricht mithin nicht für eine schlichte Anpassung von Literatur an digitale Verhältnisse - sie setzt vielmehr eine jener Grenzen, deren Überschreitung zu einem Charakteristikum des künstlerischen Umgangs mit Sprache und Schrift wurde.

Nun geht es bei der Frage nach der Literatur nicht nur um ästhetische Werke - sondern auch um unseren Umgang mit anderen, beispielsweise wissenschaftlichen Publikationen. Die bereits begonnene "Virtualisierung von Bibliotheken und Büchern", so Rainer Kuhlen, bietet eine bessere "Chance, daß das in (elektronischen Produkten) enthaltene Wissen zur Information werden kann". Und sicher: wer die Mühen der wissenschaftlichen oder journalistischen Recherche kennt, wird die Erleichterungen durch digitale Suchprogramme, telematisch zugängliche Archive etc. zu schätzen wissen. Dennoch ist nicht nur die Reduktion von Wissen auf Information zumindest riskant: sowohl die Kompetenz der Benutzer als auch die Qualität der digitalen Aufbereitung der Informationen, so Günter Gattermann, bieten bislang noch kaum Grund für allzu euphorische Erwartungen. Auch bleibt abzuwarten, ob die, zumindest grundsätzlich größeren Möglichkeiten einer aktiven Nutzung der Kommunikationsmedien - im wissenschaftlichen wie auch in anderen Bereichen - tatsächlich "umfassend neue Potentiale für den kooperativen und gleiche Chancen schaffenden Umgang mit Wissen und für die Erarbeitung von Information" öffnet (Kuhlen) - oder doch eher, so Jürgen Mittelstraß an einer anderen Stelle, "Nischen für die Dummheit".

Dem, was der Titel des Bandes verspricht, kommen die Beiträge von Heiko Idensen und Bernd Wingert am nächsten. Idensen, der die Forderung, die "Poesie soll von allen gemacht werden!", zu seinem Titel gemacht hat, beschreibt den Übergang von "literarischen Hypertexten zu virtuellen Schreibräumen" auch als eine Transformation bislang gültiger Differenzierungen von Lesen und Schreiben. Seine ausführliche Vorstellung und überwiegend wohlwollende Einschätzung neuester Schreibversuche im digitalen Raum gelingt zugleich der wohltuende Nachweis, daß vieles, was die neuen Medien versprechen, so neu nicht ist - und dies nicht nur dadurch, daß Idensen ausdrücklich daran erinnert, daß das traditionelle "Buch ... das bisher radikalste Interface für den Entwurf virtueller Welten" ist; er verführt den Leser darüber hinaus dazu, einige der Erfahrungen, die gemeinhin als typisch hypertextuelle beschrieben werden, am Buchtext zu machen (etwa durch die Vielzahl von Fußnoten, die wie Links funktionieren). "Kann man Hypertexte lesen?", fragt Wingert - und entwirft in seiner Antwort das Bild vom Lesen digitaler Schriftgebilde als Lesen von Spuren. Schlüsselwörter, mit denen wir elektronische Literatur beschreiben - Begriffe wie "Inszenierung" oder "Dramaturgie" - bringen ihn dazu, die digitale Transformation der Schrift als ihre Theatralisierung zu deuten.

Die richtige Frage ist am Ende wohl weniger: Was kommt nach der Schrift? - sondern eher: Was wird aus der Schrift? Auch die post-literale Kultur bleibt eine der Schrift - und die Literatur ihr auf die eine und andere Weise erhalten. Eine theoretische Verabschiedung traditioneller Verfahren wäre nichts als blinder und vorauseilender Gehorsam vor der Technik; deren kulturpessimistische Ablehnung aber sicherlich nur die Flucht in eine weitere jener Nischen, die es eben auch außerhalb der Netze gibt. "Die Philosophen und Medientheoretiker haben die vernetzte Welt der Medien nur verschieden interpretiert. Jetzt kommt es darauf an, die Schaltung der Medien als interdisziplinärer Kulturtechniken zu entwerfen." (Idensen)

Dirk Matejovski, Friedrich Kittler (Hg.), Literatur im Informationszeitalter, Campus 1996, 273 Seiten, DM 34,-