Die Lüge vom "Wohlstand für alle"

Seite 2: Geburt des Neoliberalismus

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Realwirtschaftlich beginnt der Neoliberalismus 1971, als Richard Nixon das Bretton-Woods-System beendete. Zuvor konnten die weltweiten Zentralbanken ihr Gold zum Kurs von 35 US-Dollar pro Feinunze eintauschen. Dadurch hatte man relativ stabile Währungskurse, weil sie an etwas Konkretem gebunden waren: am US-Dollar und damit am Gold, der sogenannte "Goldstandard". Im August 1971 jedoch setzte Richard Nixon die Konvertierbarkeit des US-Dollars in Gold aus, der Goldstandard war Geschichte, das Geld war ab sofort quasi vogelfrei und abstrakt, weil es an nichts realwirtschaftliches mehr gebunden war. 35 US-Dollar konnten nun, je nach Wirtschaftslage, so viel wert sein wie 3 Gramm Gold oder 3 Kilo. Nixon kam dadurch an billiges Geld, um den immer teurer werdenden Vietnamkrieg zu finanzieren. Zwischen 1970 und 2014 haben sich die Schulden der USA mehr als verfünffacht, parallel mit den Staatsausgaben für das Militär, die sich ebenfalls verfünffacht haben.

Ideengeschichtlich beginnt der Neoliberalismus 1976, als der Ökonom Milton Friedman den Wirtschaftsnobelpreis verliehen bekam. Damit setzte in den Wirtschaftswissenschaften eine Wende vom Keynesianismus hin zum Monetarismus ein: Der Staat soll die Hände möglichst in den Schoß legen und auf die "unsichtbare Hand" der Märkte vertrauen.

Geopolitisch steht das sogenannte "Afrikanische Jahr" 1960 stellvertretend für die Dekolonisation des Globalen Südens: Viele der europäischen Kolonien, die zuvor bis auf den letzten Tropfen ausgebeutet wurden, erlangten ihre formale Unabhängigkeit. Die Ausbeutung ging natürlich weiter, doch mussten viele der verlorenen Kolonien erst wieder "zurückerobert" werden - sei es mit einer Reorganisation der Märkte, sei es mit einer gnadenlosen Schuldknechtschaft oder mit verdeckten, von Geheimdiensten getragenen Putschversuchen, um gefällige Diktatoren als Handlanger des Westens einzusetzen. (Es ist kein Zufall, dass der Putsch in Chile auf diese Zeit fällt: Am 11. September 1973 putschte das Militär in Chile gegen den drei Jahre zuvor demokratisch gewählten Präsident Salvador Allende. Der Präsident starb während des Putschs, der maßgeblich eine verdeckte Operation der CIA war. Anschließend errichtete Augusto Pinochet eine Militärdiktatur, die bis zum 11. März 1990 an der Macht blieb und eng mit den USA kooperierte.)

Politisch setzt der Neoliberalismus dann 1979 ein, als die "Eiserne Lady" Margaret Thatcher zur Premierministerin des Vereinigten Königreichs gewählt wurde. Im Jahr 1981 wurde ihr neoliberaler Kompagnon, Ronald Reagan, US-Präsident.

Ab den 1970er Jahren wurde die Welt eine andere

Auf welches Datum auch immer man den Beginn des Neoliberalismus ansetzen will, fest steht, dass ab den 1970ern ein anderer Wind wehte, der bis heute nicht abgeflaut ist. Im Jahr 1970 betrug die offizielle Arbeitslosenquote in Westdeutschland noch sage und schreibe 0,7 Prozent, 1975 lag sie bereits bei 4,7 Prozent und zehn Jahre später waren es 9,3 Prozent. Leiharbeit, Hartz IV, gestrichene Sozialleistungen - all das sind die Früchte der neoliberalen Agenda. Die Lüge vom "Wohlstand für alle" zeigt heute mehr denn je ihre wahre Fratze:

Jeder vierte deutsche Beschäftige arbeitet mittlerweile im Niedriglohnbereich, das heißt er oder sie verdient weniger als 9,54 Euro brutto die Stunde. In der sogenannten "Generation Y", also grob die zwischen 1977 und 1998 Geborenen, sind in Deutschland bereits 29 Prozent als Freelancer tätig. Über ein Drittel aller ausgeschriebenen Stellen in Deutschland werden nach Angaben der Bundesagentur für Arbeit inzwischen als Leiharbeit ausgeschrieben. In Städten wie Bielefeld sind sogar über 50 Prozent der offenen Stellen als Leiharbeit deklariert.

Die zahllosen Zeitarbeiter sind moderne Tagelöhner. Bis 1967 war Zeit- bzw. Leiharbeit (die Ausdrücke bezeichnen das gleiche, also die Arbeitnehmerüberlassung) in Deutschland verboten. Leiharbeit galt bis dahin als unmoralisch, ja, verdächtig wegen des NS-Faschismus, der mit Zwangsarbeit seine Kriegsmaschinerie am Laufen hielt. Dann aber kündigte sich die Krise der 1970er an - und der Motor musste irgendwie geschmiert werden, damit er wieder an Fahrt gewann. Stück für Stück wurde die Leiharbeit wieder eingeführt; heute ist sie der Wirklichkeit gewordene Traum der neoliberalen Hardliner.

Spätestens dann, wenn man über den Tellerrand der Industriestaaten schaut, entpuppt sich der "Wohlstand für alle" als bitterböse Realsatire: Schon jetzt sind über eine Milliarde Menschen weltweit unterbeschäftigt oder ganz erwerbslos, Tendenz steigend. Über 40 Prozent der Menschheit schuftet für weniger als 1 US-Dollar Lohn am Tag. Und täglich sterben über 57.000 Menschen an Hunger, Tendenz ebenfalls steigend.

Kurz nach dem Zweiten Weltkrieg fürchteten die Vermögenden und Herrschenden um ihre Macht und boten den Menschen in den westlichen Industriestaaten vereinfacht gesagt einen Deal an: Wenn ihr eure Generalstreiks und überhaupt den Klassenkampf beendet, dann sichern wir euch Gewerkschaften und Sozialleistungen zu. Die "soziale Frage" sollte durch die Verheißungen des "sozialen Aufstiegs" entschärft werden.

Bis zum Beginn des Neoliberalismus funktionierte das ganz gut: Die Produktivität und vor allem die Einkommen stiegen, so dass sich die Konsumgesellschaft voll entfalten konnte. Doch allerspätestens in den 1980ern war klar, dass das Kapital diese Verheißungen unmöglich für alle Menschen einlösen kann. Seitdem wurden die Menschen jeden Tag millionenfach mit Kreditangeboten überschüttet. Das Bündnis aus Staat und Kapital sagte den Menschen damit einfach: "Macht's wie wir, verschuldet euch mit exorbitanten Krediten. Nach uns die Sintflut." Und die Rechnung ging auf: Die Menschen nahmen und nehmen millionenfach Kredite auf für Autos, Häuser, Studiengebühren, Hochzeitsfeiern, Karibikreisen und anders. (Oft genug müssen sich Menschen in die Schulden stürzen, weil sie schwer erkrankt sind und ihre Jobs verlieren, während gleichzeitig die Sozialsysteme ausgedünnt werden.)

Die Immobilienblase, die 2008 unweigerlich implodieren musste, bezeugt, wie der todesröchelnde Kapitalismus sich auf Pump über Wasser zu halten versuchte. Parallel zum neuen Kredit-Boom hob der US-Kongress 1980 die Bundesgesetze gegen Zinswucher auf, die Kreditzinsen auf 7 bis 10 Prozent begrenzt hatten. Ab 1980 waren Zinssätze von 25 bis 50 Prozent möglich, das Geld wurde abermals vogelfrei - wie schon bei der Abschaffung des Goldstandards 1971.

Sinnbild der bröckelnden kapitalistischen Verheißungen ist die Stadt Detroit. In den 1960er verdienten die Arbeiter der dort ansässigen Automobilindustrie ziemlich gut - Ford, General Motors und Chrysler waren die Zugpferde der US-Wirtschaft. Inzwischen gleicht Detroit einer Ruinenlandschaft, die im Mai 2013 als erste US-Stadt überhaupt ihre Insolvenz bekanntgab. Über ein Fünftel der Einwohner ist arbeitslos, ein Drittel lebt in großer Armut, wenn sie denn geblieben sind: Lebten in den 1950ern noch knapp zwei Millionen Einwohner in der "Motor City", sind es heute gerade einmal 681.000.

Die Kehrseite des Sinnbilds Detroit ist die chinesische Stadt Shenzhen: 1982 hatte die Stadt noch um die 350.000 Einwohner, 2010 waren es bereits 10 Millionen mehr. Die Arbeitssklaven dort stellen Konsumgüter für die ganze (wohlhabende) Welt her: Computer, Smartphones, Kleidung, Spielzeug. Der größte Elektronikhersteller der Welt, Hon Hai/Foxconn, betreibt in Shenzhen eine gigantische Fabrik. Dort lassen die IT-Giganten ihre Konsumgüter produzieren: Apple, Sony, Nokia, Microsoft, Acer, Amazon, Dell, Toshiba, Hewlett Packard, Intel, Nintendo und erschreckend viele mehr. Die iSlaves bei Foxconn arbeiten 12 bis 15 Stunden am Tag und verdienen umgerechnet 240 Euro im Monat, was selbst in China kaum zum Leben reicht.

Rund 75 Prozent aller Spielsachen weltweit kommen aus China, auch jene, die in europäischen Geschäften angeboten werden. In Shenzhen und den unzähligen Klonfabriken werden die putzigen Spielsachen für Disney, Mattel, Hasbro und Co. produziert. All diese Menschen schuften in giftgeschwängerten Hallen ohne Tageslicht, auch Schwangere und Minderjährige, und werden von der chinesischen Regierung häufig zwangsverpflichtet, wenn das Erscheinungsdatum irgendeines neuen Smartphones näherrückt und Produktionsengpässe herrschen. Der Kapitalismus hat die Sklaverei nicht abgeschafft, sondern lediglich outgesourct. Wachstum? Es wächst nur das Elend. So viel zum "Wohlstand für alle".