Die Lüge vom "Wohlstand für alle"

Seite 3: Finanzkapitalismus ist nur eine andere Spielart des Kapitalismus

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Oft wird der Neoliberalismus mit einem sogenannten "Finanzkapitalismus" gleichgesetzt. Als der Goldstandard wegfiel, wurden die Wechselkurse frei und das Geld abstrakter; es wurde "Fiat-Geld", das lediglich durch das öffentliche Vertrauen gedeckt ist. Natürlich macht ein Goldstandard die Sache nicht unbedingt besser: Gold an sich ist bloß ein Element und hat kaum einen Gebrauchswert, ganz im Gegensatz zu einem Kilo Kartoffeln oder einem Laib Brot. Und das Kapital buddelt tonnenweise Gold aus dem Boden, um es anschließend wieder in den Tresorräumen von Banken zu verbuddeln. Das Gold wandert von A nach B und ist plötzlich das Element, auf dem die Wirtschaft beruhen soll.

Gold ist ein Versprechen: Wenn wir mit einer Goldmünze bezahlen, dann vertraut der Verkäufer darauf, dass er mit der nun erhaltenen Goldmünze seinerseits etwas bezahlen kann, was demselben Wert entspricht. Gold ist natürlich niemals nur rein mineralisch, sondern auch politisch. Jedenfalls konnte sich das Kapital mit dem Wegfall des Bretton-Woods-System auf neue Abenteuerfahrt begeben: Man investierte zunehmend in Kredite, Hedgefonds, Derivate und andere verschachtelte Finanzinstrumente, da sich mit Finanzgeschäften weit mehr Profit rausschlagen ließ als in der sogenannten "Realwirtschaft". Und Profit ist das einzige Ziel des Kapitalismus. Es handelt sich um ein abstruses, von Menschen erfundenes Wirtschaftssystem, das allein dem Zweck dient, Geld und noch mehr Geld anzuhäufen. Kaum einer hat das besser durchschaut als Karl Marx:

Die allgemeine Formel des Kapitals ist G - W - G’; d.h. eine Wertsumme wird in Zirkulation geworfen, um eine größre Wertsumme aus ihr herauszuziehn. Der Prozeß, der diese größre Wertsumme erzeugt, ist die kapitalistische Produktion; der Prozeß, der sie realisiert, ist die Zirkulation des Kapitals. Der Kapitalist produziert die Ware nicht ihrer selbst wegen, nicht ihres Gebrauchswerts oder seiner persönlichen Konsumtion wegen. Das Produkt, um das es sich in der Tat für den Kapitalisten handelt, ist nicht das handgreifliche Produkt selbst, sondern der Wertüberschuß des Produkts über den Wert des in ihm konsumierten Kapitals.

MEW, Bd. 25, S. 51

Auch in den 1970er suchte das Kapital verzweifelt nach neuen Wegen, um auf Teufel komm raus Profit rauszuschlagen, denn die Wirtschaft lag brach. Der moderne Kapitalismus, der gerade einmal um die 300 Jahre alt ist, stößt immer wieder an seine ihm innewohnenden Grenzen. Und die Auswege, die sich das Kapital anschließend sucht, werden immer abenteuerlicher. Weil die künstlich aufrechterhaltene Realwirtschaft spätestens in den 1970er keine Früchte mehr abwarf, musste sich das Kapital in die noch künstlichere Welt der abstrakten Hedgefonds und Derivate flüchten. Hätten Wirtschaft und Politik den Kurs in den 1970ern nicht geändert, wäre die globale Wirtschaft unweigerlich implodiert - eine Rückkehr zur "sozialen Marktwirtschaft" war und ist für das Kapital ausgeschlossen.

Im Jahr 1992, als viele Menschen solche Begriffe wie "E-Mail" oder "Surfen" nicht mal dem Namen nach kannten, wurde das Internet bereits für Finanztransaktionen freigegeben. Das Kapital wanderte weg von den Banken hin zu privaten, oft halblegalen, aber auf jeden Fall undurchsichtigen Handelsplattformen. Der Keynesianismus, der schon ein Rohrkrepierer ist, wurde begraben und durch ein weit größeres Übel, den Neoliberalismus, ersetzt. In den 1960er entfielen rund 15 Prozent der inländischen Gewinne in den USA dem Finanzsektor, aber rund 50 Prozent in der Produktion. 2005 jedoch kassierte der Finanzsektor fast 40 Prozent der Gewinne, der Produktionssektor aber nur noch weniger als 15 Prozent. Die Verlagerung hin zu einem Finanzkapitalismus mitsamt seinem "jobless growth" ist also offensichtlich. Wenn man jedoch einzig und allein diesen "Finanzkapitalismus" kritisiert, der oft auch "Turbokapitalismus" oder "Kasinokapitalismus" genannt wird, dann begibt man sich auf dünnes Eis:

Manch Kritiker behaupten, dass der Trennung vom bösen Finanzkapitalismus und vom vermeintlich guten Industriekapitalismus etwas potentiell Antisemitisches anhafte. Tatsächlich unterschieden die Nazis zwischen einem "guten, schaffenden, produktiven" und einem "bösen, raffenden, unproduktiven" Kapital, wobei letzteres in den Augen der Nazis ein jüdisches Merkmal darstelle. Es ist ebenso rassistisch wie weltfremd, wenn man die Auswüchse des Finanzkapitalismus - und erst recht seine Krisen - den Juden in die Schuhe zu schieben versucht. Wenn Goldman Sachs und andere Investmentkonzerne auf den Finanzmärkten spekulieren, dann tun sie das nicht als jüdisches Unternehmen, sondern als Kapitalisten - wie es die Manager der Deutschen Bank eben auch sind.

Der angeblich so produktive Industriekapitalismus ist, um es auf den Punkt zu bringen, genauso ausbeuterisch und menschenverachtend wie der vermeintlich unproduktive Finanzkapitalismus. Das Kapital schlug den Weg des Finanzkapitalismus ein, weil sich sonst keine Profite mehr erwirtschaften ließen - und abstrakte Profite sind für den Kapitalisten allemal besser als gar keine. Sobald die Blase des fiktiven Kapitals unweigerlich platzt, scheint es dann, als sei nur ebendieser Finanzkapitalismus das Problem - seit 2008 liest und hört man überall von der "Finanzkrise" oder "Kreditkrise". Doch in Wahrheit ist der Kapitalismus selbst die Krise, sprich, der Kapitalismus stößt ständig und unweigerlich an seine innere Schranke: "Die wahre Schranke der kapitalistischen Produktion ist das Kapital selbst", schrieb Marx (MEW, Bd. 25, S. 260).

Als die Krise 2008 durchschlug, wurde Alan Greenspan vor den US-Kongress geladen. Greenspan war von 1987 bis 2006 Vorsitzender der US-Notenbank und gilt als einer einflussreichsten Ökonomen der Welt, das Weiße Haus war von seinen Entscheidungen und Konzepten ebenso abhängig wie die internationalen Finanzmärkte. Vor dem Kongress also sagte Greenspan angesichts der Krise, er sei "schockiert" darüber, "einen Fehler in dem Modell festgestellt" zu haben, "das ich für den grundlegenden Mechanismus hielt, nach dem die Welt funktioniert". Oh weh. Entweder ist Greenspan, der hier stellvertretend für die großen Entscheidungsträger des Kapitals steht, schlichtweg verblödet. Oder aber er glaubte tatsächlich daran, dass der Kapitalismus funktioniert. Beide Möglichkeiten sind buchstäblich eine Bankrotterklärung, nicht nur eine geistige, sondern leider auch eine ganz konkrete angesichts des Elends, das seit 2008 noch zugenommen hat.

Ist der Kapitalismus am Ende?

Der Krise liegen knallharte realwirtschaftliche Probleme zugrunde, die durchgeknallten Spekulanten sind bloß ein Symptom, nicht aber die Ursache der Krise. Sprich, das Kapital schob die Krise durch den sogenannten "Finanzkapitalismus" lediglich hinaus; es überbrückte damit die eigentliche Dauerkrise, die den Kapitalismus auszeichnet. Doch auch diese Brücke musste irgendwann einstürzen - und genau das geschah im September 2008. Das Kapital hatte keine weiteren Verwertungsmöglichkeiten. Da alles auf Pump läuft, mussten die Kredite über kurz oder lang platzen. Offen bleibt, welchen Fluchtweg das Kapital diesmal wählen wird. Die Prognose vieler Ökonomen, dass es in einen "grünen Kapitalismus", zum Beispiel in regenerative Energiegewinnung, investieren werde, hat sich offensichtlich nicht bewahrheitet. Gegenwärtig sind jedenfalls kaum neue Verwertungspotentiale in Sicht. Ein Blick auf die Gegenwart deutet darauf hin, wohin die Reise gehen könnte:

Vermutlich wird sich die klaffende Lücke zwischen Arm und Reich in den nächsten Jahren weiter verschärfen, mit allen damit verknüpften Folgen: Die Armen und Ärmsten werden weiter in die Ghettoisierung getrieben, während sich die Reichen in ihren "Gated Communities" weiter abschotten werden. Wahrscheinlich ist auch ein weiterer Abbau des ohnehin schon abgebauten Sozialstaats und parallel dazu ein weiterer Ausbau des "Robocop"-Staats, in dem die Armen noch massiver durch Polizei und Militär überwacht und drangsaliert werden. Als Bodyguard des Kapitals wird der Staat alles daran setzen, für "Zucht und Ordnung" zu sorgen, weil es keine "soziale Sicherheit" mehr gibt - und die Umwelt weiter ausgeschlachtet, verschmutzt und unumkehrbar zerstört wird. Und last but not least könnte auch "Peak Oil", also das Maximum der globalen Ölfördermenge, oder ein Phosphor-Mangel, auf dem die gesamte globale Landwirtschaft beruht, dem Kapitalismus einen entscheidenden Todesstoß verpassen.

Möglich ist aber auch, dass im Zuge der "nachholenden Entwicklung" die "Global Swing States" wie zum Beispiel China, Brasilien, Indien oder Indonesien der dortigen Mittelschicht einen neuen Schub verschaffen und so den globalen Konsum ankurbeln. Das würde natürlich zulasten der "alten" Industrienationen wie etwa den USA, Deutschland, Japan, Frankreich oder England gehen, die dann abgehängt werden. Schon jetzt verkaufen VW, BMW und Mercedes mehr Autos in China als auf dem europäischen Markt. China ist Netto-Gläubiger, die USA stehen dort massiv in der Kreide. Und China ist schon so "fortgeschritten", dass es mittlerweile die Produktion, beispielsweise von Kleidung für H&M, KiK und C&A, in die verlängerte Werkbank von Bangladesch auslagert, dabei aber kräftig mitkassiert.

Wenn ein solcher Schub der Global Swing States eintritt - der die Dauerkrise des Kapitalismus natürlich nur künstlich hinauszögert und das Elend der Menschen noch vergrößert -, dann könnte es zu einem neuen Hegemonialzyklus kommen, bei dem China, weitere ostasiatische Staaten im Verbund oder Staaten der südlichen Hemisphäre die USA mitsamt der NATO-Staaten als Weltmacht ablösen. Die "alten" Industrienationen wären dann nur noch an der Peripherie des neuen Zentrums - und müssten sich den dort vorherrschenden Arbeits- und Wirtschaftsstrukturen anpassen. Genau so, wie sich nach 1990 Russland und Co dem Westen anpassen mussten.

Wie die Geschichte zeigt, sind Phasen der hegemonialen Ablösung oft mit militärischen Auseinandersetzungen verbunden, bei dem die beteiligten Parteien um die Vorherrschaft kämpfen. Der seit 2014 schwelende Ukraine-Konflikt lässt sich auch als Stellvertreterkrieg nicht nur zwischen den Staaten USA und Russland interpretieren, sondern als Vorzeichen eines globalen Konflikts zwischen dem Westen und den aufstrebenden BRICS-Staaten (Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika). Im Juli 2014 haben die BRICS-Staaten eine neue Entwicklungsbank (New Development Bank) mit umgerechnet 50 Milliarden US-Dollar Startkapital und als Schwesterorganisation einen Währungsfonds (Contingent Reserve Arrangement) mit umgerechnet 100 Milliarden US-Dollar Startkapital gegründet. Übersetzt heißt das, es gibt eine neue Konkurrenz zum US-Dollar und Euro. Etwa 3 Milliarden Menschen leben in den BRICS-Staaten, was ungefähr 40 Prozent der Weltbevölkerung entspricht. Gut möglich, dass die Hackordnung der Staatenwelt bald ins Wanken gerät, vielleicht auch mit zunehmend offenen Kriegen zwischen den Hegemonialmächten.

All das kann, muss aber nicht eintreten. Keiner besitzt eine Kristallkugel, um in die Zukunft zu schauen. Der Kapitalismus kann in vier Monaten oder in vier Jahrzehnten zusammenbrechen, oder gar nicht. Die Frage ist also, ob und wann sich der Kapitalismus endgültig den Ast absägen wird, auf dem er sitzt. Noch ist er nicht in den Abgrund gestürzt. Aber der Riss ist für jeden sichtbar und es knarzt gewaltig.

Patrick Spät lebt als freier Journalist und Buchautor in Berlin. Zuletzt erschien von ihm: "Und, was machst du so?", Zürich: Rotpunktverlag, 2014.