Die Mauer ist wieder da: Schuld ist die Deutsche Bahn

Schäden des Sturmtiefs "Xavier" in Berlin, 5. Oktober 2017. Bild: Spielvogel / CC BY-SA 3.0

"Sicherheitswahn"? Weil die Orkankatastrophe "Herwart" wütet, folgt der Ausnahmezustand: Die Bahn riegelt den deutschen Osten ab. Ein Kommentar

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Dem Bürger fliegt vom spitzen Kopf der Hut,
In allen Lüften hallt es wie Geschrei,
Dachdecker stürzen ab und gehn entzwei
Und an den Küsten - liest man - steigt die Flut.
Der Sturm ist da, die wilden Meere hupfen
An Land, um dicke Dämme zu zerdrücken.
Die meisten Menschen haben einen Schnupfen.
Die Eisenbahnen fallen von den Brücken.

Jakob van Hoddis: "Weltende", 11.1.1911

Niemand hat die Absicht eine Mauer zu errichten.

Walter Ulbricht, Chef der Deutschen Reichsbahn, 1950-1971

Bäume fallen um, Züge fallen aus, nicht notwendig in dieser Reihenfolge. Herbst in Deutschland. Wieder einmal, gefühlt zum zwölften Mal in diesem Herbst, fegt ein Sturmtief über die Republik. Es hört auf den altfränkischen Namen "Herwart" und in seinem Gefolge kommen Warnungen, Sperrungen, Ausnahmezustand - auch hier nicht notwendig in dieser Reihenfolge.

Der Sturm ist noch nicht da, da sperrt die Bahn zum zweiten Mal in diesem Monat nach "Xavier" Anfang Oktober großflächig die kompletten Hauptlinien ihres Streckennetzes westlich der Elbe: Hamburg-Berlin, Hannover-Berlin, Frankfurt-Berlin, München-Berlin. Nach Auskunft der Bahn sind aktuell auch die Städte Leipzig, Dresden, Strahlsund und Rostock von Westen aus derzeit nicht mit dem Zug zu erreichen.

Die Bahn baut wöchentlich Mauer und Zonengrenze wieder auf. Zusammen mit den ohnehin schon regelmäßigen Streckeneinstellungen und Taktreduzierungen im zunehmend menschenleeren Osten wird offenkundig: Der Osten wird von der Bahnlokomotive abgehängt. Und der unabhängige "Freistaat Sachsen" wird vielleicht schneller Realität, als es noch die fanatischsten Sezessionisten glauben mögen.

Es wird ein dreifaches Muster erkennbar: Hatte man im Fall von "Xavier" noch der Bahn "beschämende Kommunikationsmängel" vorgeworfen, muss man nun Kapitulation der Bahn vor dem Naturereignis aus Ohnmacht und Unfähigkeit zu vorausschauendem Handeln feststellen. Dafür dann aber vorauseilender Gehorsam vor dem Sturm und übertriebene Einstellung.

Anstatt reale Sturmschäden zu beseitigen, werden mögliche antizipiert, und Reisenden wird davon abgeraten, überhaupt die Bahn zu benutzen. Aber in Zukunft werden Klimawandel-bedingt die Herbststürme an Häufigkeit und Intensität zunehmen. Wenn sich bei der Bahn nicht schnell Grundsätzliches im Krisenmanagement ändert, gilt also Entsprechendes auch für sie.

Da muss die Bahn dann gar keine Werbegelder ausgeben, um für die neue Schnellfahrstrecke zwischen Berlin und München zu werben und so potentielle Kunden vom Flugzeug auf die Schiene zu locken. Denn wenn die Strecke Berlin-Leipzig mehrfach pro Woche gesperrt ist, wird es auch nichts mit "unter vier Stunden nach München".

Alle Räder stehen still, weil der Sicherheitswahn es will

Herr, es ist Zeit. Der Sommer war sehr groß.
Leg deinen Schatten auf die Sonnenuhren,
und auf den Fluren lass die Winde los.

Rainer Maria Rilke, "Herbsttag", 1902

"Alle reden vom Wetter, wir nicht" - so warb die Bahn als Bundesbahn noch in den Sechziger Jahren. Heute redet niemand häufiger vom Wetter als diese Bahn. Die Bahn sprach bei "Xavier" von einer "Extremsituation". So extrem kann sie aber nicht gewesen sein, wenn schon drei Wochen später das Gleiche geschieht.

Wie also kann es eigentlich sein, dass in einem der reichsten und hochtechnisiertesten Länder der Welt auch fünf Tage nach einem Orkan kaum ein Zug wieder normal fährt? Vielleicht genau deshalb: Technik und Reichtum. Weil man in Deutschland immer gern die neueste Technik einbaut, fließt das Geld in hochempfindliche Oberleitungen, die von knickenden Bäume und Ästen sofort abgerissen wurden, aber nicht in banale Infrastruktur, in Ausweichmöglichkeiten im Schienennetz.

Und weil man reich ist, fühlt man sich unsicher und kompensiert dieses Gefühl mit vollkommen übertriebenen Sicherheitsstandards. Der Ausnahmezustand wird zumindest in Berlin und bei der Berliner Feuerwehr zum Standard und ist längst keine Ausnahme mehr, sondern so regelmäßig wie die Katastrophen.

Das geht einher mit dem generellen Alarmismus und der Inflation der Katastrophen im doppelten Sinn. Sie nehmen scheinbar zu, und sie erscheinen entwertet. Denn Katastrophen scheinen allgegenwärtig zu sein. Nach Ansicht von Experten haben Katastrophen tatsächlich zugenommen. Da zählt die einzelne Katastrophe immer weniger, sie wird vom Ausnahmefall zum Normalzustand.