Die Menschenrechtslage in der Türkei ist alarmierend
Ein Rechtsstaat existiert nicht mehr, warnen Experten. Doch Brüssel und Berlin setzen andere Prioritäten: Hauptsache positiv
Im Bundestags-Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe am 23. Juni 2021 äußerten sich die geladenen Experten alarmiert über die Menschenrechtslage in der Türkei. Sie kritisierten den Kurs der Bundesregierung und der EU, Verhandlungen über ein neues Flüchtlingsabkommen, eine Zollunion und neue Finanzspritzen für die Türkei in Aussicht zu stellen, ohne die Grundrechte und Rechtsstaatlichkeit des Landes zur Bedingung zu machen.
Die Experten forderten ein entschiedeneres Handeln von Deutschland und der EU. Die Gewaltenteilung existiere in der Türkei nur noch auf dem Papier, die Gerichte seien nicht mehr unabhängig, Präsident Erdogan höhle systematisch Demokratie, Rechtsstaat und Menschenrechte aus, wird als einhelliges Urteil aus ihrem Kreis geäußert.
Dr. Günter Seufert, Leiter des Zentrums für angewandte Türkeistudien bei der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) sprach in seinem Statement von einem "dramatischen Rückbau" des Rechtsstaates, der nicht nur Rechte des Einzelnen bedrohe, sondern auch den Raum für legales politisches Handeln verenge. Das Verbotsverfahren gegen die Oppositionspartei HDP zeige exemplarisch, wie die Rechte der Opposition beschnitten und eine effektive politische Partizipation unmöglich gemacht wird.
Frauenrechte ausgehebelt
Selmin Çalışkan von den Open Society Foundations in Berlin berichtete über die steigende Gewalt gegen Frauen, die durch den Austritt aus der Istanbul-Konvention noch verschärft werde: Die Zahl der Frauenmorde "habe sich in den letzten Jahren verdoppelt, ein Viertel der Mädchen erführen sexualisierte und körperliche Gewalt". Das sind alarmierende Zahlen.
Allein im letzten Jahr gab es 300 Frauenmorde in der Türkei. Frauenrechtsorganisationen werden seit Jahren in ihrer Arbeit behindert, ihre Warnungen ignoriert. Durch den Austritt aus der Istanbul-Konvention, die am 1. Juli in Kraft treten soll, werde den Frauenrechtsorganisationen ein "völkerrechtlich verbrieftes Instrument" zum Schutz von Frauen vor Gewalt entzogen, berichtete Çalışkan.
Organisationen der LGBTQI+ -Bewegung (LGBTQI+ steht für Lesben, Schwule, Bisexuelle, Trans-, Inter- und queere Menschen und das Pluszeichen als Platzhalter für weitere Identitäten) berichten über ein zunehmend feindliches Klima gegenüber Mitgliedern der Bewegung:
In der Türkei sind wir seit 2015 mit einem radikalen Wandel der Regierungspolitik gegenüber LGBTQI+ Menschen konfrontiert. Der Staat hat den LGBTQI+-Menschen sozusagen den Krieg erklärt.
Yildiz Tar von der Organisation Kaos GL
Die diesjährige Pride Parade und die Pride Week in Istanbul wurden zum wiederholten Mal von den Behörden verboten. Das Verbot beruft sich auf einen Passus im Demonstrationsgesetz, das Verbote wegen Verstoßes gegen die Moral ermöglicht. Trotzdem versammelten sich hunderte Menschen und zogen in einem Demo-Zug mit dem Motto "Die Straße gehört uns" durch das europäische Zentrum der Stadt.
Die Polizei setzte Tränengas und Gummigeschosse gegen die Demonstranten und Demonstrantinnen ein. Es kam zu zahlreichen Festnahmen. Utensilien in Regenbogenfarben wurden beschlagnahmt. Schon länger geht die türkische Regierung gegen die Regenbogenfarben vor. In vielen europäischen Ländern malten Kinder während der Corona-Pandemie Regenbogen als Zeichen der Hoffnung und hängten sie in ihre Fenster, Balkone oder Zäune.
Das Istanbuler Museum für moderne Kunst, Istanbul Modern, ermunterte Kinder dazu, Regenbögen zu zeichnen. Das traf bei der türkischen Regierung nicht auf Gegenliebe. Die Schulbehörden ermahnten Lehrerinnen und Lehrer, das Zeichnen von Regenbögen zu unterbinden, da die Aktion Teil eines "Komplotts" sei, Kinder zu Schwulen und Lesben "umzupolen".
Folter an der Tagesordnung
Schon 2007 gab die Menschenrechtsstiftung TIHV einen medizinischen Bildatlas über Folter in der Türkei heraus. Die unabhängige Stiftung unterhielt damals in fünf türkischen Großstädten Behandlungszentren für Folteropfer. Sie wirkte in Zusammenarbeit mit der türkischen Ärztekammer, dem türkischen Verein der Rechtsmediziner sowie zahlreichen internationalen Organisationen am Istanbul-Protokoll der Vereinten Nationen mit dem Titel "Manual on Effective Investigation and Documentation of Torture and Other Cruel, Inhuman or Degrading Treatment or Punishment" maßgeblich mit.
Die Türkei-Expertin von Amnesty International Deutschland, Amke Dietert, berichtete im Ausschuss für Menschenrechte des Bundestages, die von der türkischen Regierung propagierte "Nulltoleranz gegen Folter" entspreche nicht der Realität. Schwere Menschenrechtsverletzungen wie Folter in Polizeistationen, Gefängnissen oder bei Festnahmen seien nach wie vor an der Tagesordnung. Dies könne durch unzählige Berichte und Fotos in vielen verschiedenen Medien belegt werden.
Die in Deutschland im Exil lebende Journalistin und Schriftstellerin Asli Erdogan spricht in einem Spiegel-Interview über ihre eigene Isolationshaft, über Folter und wie schwer es für die Opfer ist, Worte für das eigentlich Unsagbare zu finden. Das alles passiert in des Deutschen liebsten Urlaubsland. Um die Ecke von seinem günstigen Quartier, überall in der Türkei.
Politik der Bundesregierung und der EU ist ein Armutszeugnis
Der Journalist Can Dündar kritisierte im Bundestagsausschuss die Politik der EU und der Bundesregierung, die trotz dieser verheerenden Entwicklung und der fortdauernden Verletzungen der Menschenrechte in der Türkei Kompromisse mit der türkischen Regierung eingeht und über eine Neuauflage des Flüchtlingsdeals verhandelt. Kritiker der türkischen Regierung warnen seit Jahren die Bundesregierung und die EU, dass Erdogan die Flüchtlinge in der Türkei als Druckmittel benutzt und letztlich durch seinen Krieg gegen die Kurden und die Expansionspolitik in Syrien und im Irak selbst für immer mehr Flüchtlinge sorgt.
Allen Warnungen zum Trotz will EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen mit der türkischen Regierung über eine Zollunion sprechen. Für die Versorgung der 3,7 Millionen Flüchtlinge in der Türkei sollen weitere Gelder bereitgestellt werden. Flüchtlinge, die die Türkei mit ihrer Syrien-Politik teilweise selbst zu verantworten hat und die die AKP-Regierung als Spielball nach Belieben einsetzt.
Während von der Leyen mit Erdogan über eine mögliche Zollunion, die Fortführung des Flüchtlingsdeals und weitere Millionen Steuergelder für die Türkei debattiert, akzeptierte das oberste türkische Gericht zeitgleich einen Verbotsantrag gegen die zweitgrößte Oppositionspartei im Parlament, die HDP. Dies wurde in den Statements von der Leyens natürlich nicht erwähnt.
Erdogan wird der rote Teppich in Deutschland und der EU ausgebreitet, unter den die ganzen Verstöße gegen die Menschenrechte, der Abbau demokratischer Strukturen, europäische Grundsätze gekehrt werden. Das höchste der Gefühle ist ein erhobener Zeigefinger, während es gegenüber Ungarn oder Belarus richtigerweise deutliche Sanktionsmechanismen gibt. Der Türkei gegenüber heißt die Richtung allem Anschein nach Hauptsache positiv, wie das Handelsblatt kommentiert.
Während die Regierung in Ankara mit militärischer Hilfe ökonomische Interessen im östlichen Mittelmeer durchzusetzen versucht, unilateral aus einer europäischen Konvention zum Schutz von Frauen und LGBTI austritt und verbindliche Urteile des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte missachtet, erfand Brüssel den Terminus einer "positiven Agenda" für die Türkei.
Positiv ist daran allerdings gar nichts.
Diese Politik ist allein Ausdruck der Tatsache, dass die EU sich von Erdogan abhängig gemacht hat. Und dieser nutzt das jetzt gnadenlos aus: sei es in Form einer weiteren Abkehr von westlichen Werten, sei es in Form einer aggressiven Außenpolitik gegenüber seinen Nachbarstaaten. Fakt ist: Erdogan wird zunehmend unberechenbarer.
Ozan Demircan, Handelsblatt
Die Autorin Laila Mirzo warnte im Bundestagsausschuss für Menschenrechte, Erdogan träume von einer Neuauflage des Osmanischen Reiches, er sei ein Islamist und Nationalist. Zum 100. Jubiläum der Republikgründung 2023 plane Erdogan eine neue "zivile Verfassung", in der das Prinzip des Laizismus, die Trennung von Religion und Staat dann endgültig gestrichen sei.
Die schrittweise Islamisierung bedrohe Frauen- und Kinderrechte. Die Auswirkungen dieser Politik werden wir auch in Deutschland zu spüren bekommen, denn Erdogans Arm reicht bis in die deutsche Parteienlandschaft.
Der Direktor des Internationalen Instituts für Religionsfreiheit, Thomas Schirrmacher, mahnte angesichts der wachsenden religiösen und ethnischen Spannungen im Nordirak, Nordsyrien, Armenien oder Aserbaidschan ebenfalls ein entschlossenes Handeln der Bundesregierung an. Die Türkei "infiziere" mit ihrem Kurs ein Land nach dem anderen und versuche, daraus Kapital zu schlagen.
Die ezidische Journalistin Düzen Tekkal forderte die Bundesregierung auf, sich an die Seite der demokratisch gesinnten Zivilbevölkerung zu stellen: "Das gelingt doch auch im Fall von Belarus, warum nicht für die Türkei?" Tekkal wies auch auf die Gefahr hin, die von der türkischen antisemitisch-völkisch-nationalistischen Bewegung ausgehe und forderte ein Verbot der Grauen Wölfe in Deutschland.
Das ist alles nichts Neues, die Forderungen sind alt. Aber solange türkische Nationalisten in den deutschen Parteien mitmischen dürfen und der politische Islam mit am Verhandlungstisch auf verschiedenen Regierungsebenen sitzt, wird sich da wohl nichts ändern. Sollte Armin Laschet Kanzler werden, könnte es noch schwieriger werden, den nationalistischen und islamistischen Netzwerken Grenzen zu setzen. Dem Kanzlerkandidaten der Union werden gute Beziehungen zu Protagonisten nachgesagt, die in diesen Netzwerken fungieren.
Ein unrühmliches Beispiel ist der erneute Kooperationsvertrag mit Ditib in NRW.. Armin Laschet war jahrelang Integrationsminister und kennt die staatstürkische, strenggläubig-islamische und türkisch-nationalistische Szene gut.
"Trotzdem hält er noch immer, als Kanzlerkandidat der Unionsparteien, an der Zusammenarbeit mit Ditib fest. Und damit an ihren Hintermännern - die die grüne Landtagsabgeordnete Berivan Aymaz für vogelfrei erklären ließen", nachdem sie Ministerpräsident Laschet wegen der Zusammenarbeit mit Ditib kritisiert hatte, kommentierte die Welt.