"Die NATO darf den Bogen nicht überspannen"

Blau: NATO-Mitgliedsländer, grün: MAP-Länder, gelb: intensive Gespräche, lila: versprochen. Bild: Snake311/gemeinfrei

Russland und die NATO müssen jetzt lernen, den Status Quo zu managen, damit es keine militärischen Zwischenfälle mit unvorhersehbaren Folgen gibt, sagt Rüstungsexperte Ulrich Kühn

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Ulrich Kühn ist Mitarbeiter am Institut für Friedenforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg (IFSH). Er ist Koordinator des Projekts "Deep Cuts". Dort beraten Sicherheits- und Rüstungsexperten aus den NATO-Ländern und Russland, wie die Konfrontation NATO-Russland wieder abgebaut werden kann. Der neue Deep-Cuts-Report heißt programmatisch: "Back from the Brink" (Weg vom Abgrund).

Die NATO trifft sich demnächst zu ihrem Gipfel in Warschau. Dort soll die schon verabredete Verlegung von vier multinationalen Bataillonen nach Osteuropa formal beschlossen werden, über die schon im Vorfeld eine Einigung erzielt wurde. Lässt sich so das Verhältnis zwischen der NATO und Russland wieder verbessern?
Ulrich Kühn: Nein, aber der innere Zusammenhalt der Allianz verbessert sich dadurch. Man rückversichert die drei baltischen Bündnismitglieder Estland, Lettland und Polen, die sich gegenüber Russland unsicher fühlen. Und das ist durchaus sinnvoll. Russland hat sich in den letzten zwei Jahren als extrem unberechenbar und aggressiv gezeigt. Und eine Militärallianz taugt nur dann, wenn sie die Sicherheitsbedenken ihrer Mitglieder ernst nimmt. Vom rein militärischen Standpunkt ist diese Verlegung nichts anderes als Kosmetik, denn vier Bataillone reichen nicht aus zur Verteidigung. Als Signal für die eigenen Mitglieder ist sie richtig. Aber danach muss die NATO extrem aufpassen, dass sie nicht noch weiter geht. Denn irgendwann ist der Punkt erreicht, wo die Russen sagen, dass ist nicht mehr defensiv, sondern offensiv.
Wann wäre dieser Punkt genau erreicht?
Ulrich Kühn: Die Pentagon-nahe RAND-Corporation hat das mal durchgespielt. Um das Baltikum wirklich sichern zu können, bräuchte es sieben Brigaden, das sind 37.000 Mann, gut ausgerüstet mit Panzern und Transportfahrzeugen. Die Amerikaner verlegen ja zusätzlich eine dauerhaft rotierende Brigade nach Osteuropa. Im Grunde ist jetzt der Punkt erreicht, über den man nicht hinausgehen sollte. Das würde auf Seiten Russlands doch als eine sehr starke Reizung wahrgenommen werden.
Cover des Berichts Back from the Brink
Gibt es Wege, wie sich die Beziehungen wieder verbessern lassen?
Ulrich Kühn: Es gibt momentan so ein Zauberwort, das auch Außenminister Steinmeier immer wieder verwendet: Dialog. Ich bin da skeptisch, denn die Frage ist, was für ein Dialog und mit welchem Ziel. Das muss mit konkreter Politik gefüllt werden, und da habe ich bisher wenig gehört.
Das grundsätzliche Problem ist: Die NATO möchte reden über die Vermeidung von militärischen Zwischenfällen etwa über der Ostsee, über die Involvierung Russlands in der Ostukraine, über die Annexion der Krim, über die Verletzung diverser Sicherheitsverträge durch Russland. Darüber will Russland aber nicht sprechen, sondern über die NATO-Osterweiterung und über das Raketenabwehrsystem in Rumänien und Polen. Darüber will aber die NATO nicht reden. Wir haben hier also einen Dialog unter Tauben.
Also gibt es keine Lösung des Konflikts?
Ulrich Kühn: Im Moment ist keine Seite bereit, sich auf einen Dialog ohne Voraussetzungen einzulassen. Die Russen wollen das im Grunde zwar, aber die NATO und vor allem die USA wollen die Russen nicht belohnen, indem sie einen solchen Dialog anbieten. Solange es da keine Bewegung gibt, passiert auch nichts. Der Westen meint, der Ball liegt im Feld der Russen, aber da spielt ihn keiner. Dabei gäbe es Konzepte, um diese gegenseitigen Sicherheitsspannungen aufzuheben.

"Eigentlich ist die NATO-Osterweiterung am Ende"

Welche Konzepte wären das?
Ulrich Kühn: Die Zeit der Kooperation mit Russland ist vorbei. Die letzten Jahre sind gekennzeichnet von einem kompetitiven Verhältnis, von einem Wettstreit. Deswegen geht es letztlich darum, die nächsten Jahre gut zu managen, damit es keine gefährlichen Zwischenfälle gibt.
Zunächst braucht es einen Dialog der Militärs, zuerst der hochrangigen, dann der mittleren. Generäle und Offiziere müssen miteinander sprechen, wie sie militärische Zwischenfälle verhindern, etwa durch Hotlines oder gemeinsame Zentren, so dass man im Krisenfall schnell kommunizieren kann. Zweitens muss man über die Zeit nach Warschau nachdenken. Dort wird es Aufrüstungsbeschlüsse geben - das muss man so nennen, auch wenn sie nicht signifikant sind. Russland hat nun gesagt, dass es mit der Umstrukturierung zweier Divisionen im Westen des Landes reagiert. Sollten diese Truppen in der Nähe des Baltikums stationiert werden, dann bin ich überzeugt, dass wir im nächsten halben Jahr eine Forderung nach mehr NATO-Soldaten aus dem Baltikum und Polen bekommen. Und um zu verhindern, dass sich beide Seiten gegenseitig hochschaukeln, muss man von westlicher Seite den Russen etwas anbieten.
Nämlich?
Ulrich Kühn: Man muss sagen: Wir werden nachrüsten, da wir uns unsicher fühlen. Aber vorhe bieten wir Euch Verhandlungen an mit dem Ziel, ein gegenseitiges regionales Begrenzungsregime einzuführen. Das heißt, Begrenzungen von Truppen und Gerät auf russischer Seite und im Baltikum und Polen. Das muss überprüfbar sein durch gegenseitige Inspektoren. Das sind Mechanismen aus dem Kalten Krieg. Aber die Situation ist so gefährlich und festgefahren, dass das das Einzige ist, was man machen kann.
Sie sprachen davon, dass Russland und der Westen im Wettbewerb stehen. Worum?
Ulrich Kühn: Letztlich fechten Russland und der Westen einen Kampf aus um den postsowjetischen Zwischenraum. Bei Ländern wie der Ukraine, Georgien und Aserbaidschan nimmt Russland für sich in Anspruch, als Regionalmacht das Sagen zu haben. Russland gesteht ihnen nur eine begrenzte Souveränität zu. Die NATO argumentiert dagegen, dass solche Einflusssphären Modelle des 19. Jahrhunderts sind. Heute seien diese Länder frei und wenn sie in die NATO wollten, sei die Tür offen.
Diese beiden Interessen kollidieren miteinander. Das hat man in der Ukraine gesehen: Als es die Aussicht auf EU- und NATO-Mitgliedschaft gab, war für Russland die rote Linie überschritten. Es hat reagiert, sich die Krim gesichert und in der Ostukraine eine Art Stellvertreterkrieg angefangen. Das ist für die Ukraine extrem schädlich, und deswegen müssen sich die NATO und Russland darauf verständigen, wie es weitergehen soll. Eigentlich ist die NATO-Osterweiterung am Ende, und das muss die NATO auch mal einsehen.

"Wir stehen da einfach vor einem Trümmerfeld"

Wie müsste denn eine Sicherheitsarchitektur in Europa aussehen, die stabil ist?
Ulrich Kühn: Die hatten wir mal, aber dann sind viele Elemente weggebrochen. Beispielsweise der Vertrag über die Begrenzung von Raketenabwehrsystemen, den die USA gekündigt haben, aber auch andere Rüstungskontrollverträge, die veraltet sind, nicht mehr funktionieren oder außer Kraft gesetzt wurden.
Wir stehen da einfach vor einem Trümmerfeld, einem Politikversagen auf beiden Seiten, und müssen nun sehen, wie wir damit umgehen. Eigentlich bräuchten wir etwas wie die KSZE-Konferenz von 1975. Damals hat man sich auf zehn Prinzipien verständigt, aber der Kreml hat sie 2014 durch den Einmarsch auf der Krim mit Füßen getreten. Somit ist jetzt die Frage, wie wir uns wieder auf gemeinsame Prinzipen verständigen. Das geht nur durch langfristige Gespräche mit langen Vorverhandlungen. Aber leider ergreift keiner im Westen die Initiative. Prädestiniert wäre Deutschland, aber entweder ist die deutsche Außenpolitik nicht mutig und kreativ genug. Oder es gibt zu viele Leute, die das als Belohnung für Russland ablehnen.
Aber Außenminister Frank-Walter Steinmeier hat ja neulich lautstark die NATO kritisiert und gemahnt, "lautes Säbelrasseln und Kriegsgeheul" zu unterlassen. Warum plötzlich solche Töne?
Ulrich Kühn: Prinzipiell hat Steinmeier recht, denn er hat auch gesagt, dass es richtig ist, dass die NATO die östlichen Bündnismitglieder unterstützt. Wir können Balten und Polen nicht einfach allein lassen, und deswegen ist es richtig, dass Deutschland sich militärisch beteiligt. Aber: Man darf den Bogen nicht überspannen, und das ist es, was Steinmeier sagte. Wenn bei einem Manöver wie Anakonda ein offensives Szenario geprobt wird - Landnahme durch Fallschirmjäger - und das mit Nicht-NATO-Mitgliedern wie der Ukraine und Georgien, dann sind das Provokationen am laufenden Band, die vor allem von der polnischen Regierung ausgehen. Und da hat Steinmeier richtig darauf hingewiesen, dass die NATO langsam den Bogen überspannt.
Altkanzler Gerhard Schröder meint dagegen, deutsche Truppen sollten schon aus historischen Gründen nicht so nah an die russische Grenze.
Ulrich Kühn: Das historische Argument kann ich nachvollziehen. Aber die baltischen Staaten sind Mitglieder der NATO. Während des Kalten Krieges, als Gerhard Schröder in Westdeutschland in Sicherheit aufgewachsen ist, waren es amerikanische Soldaten, die die Bundesrepublik beschützt haben. Heute sind es deutsche Soldaten, die wiederum die Balten beschützen. Es ist doch klar, dass sich die Balten nach der Annexion der Krim nicht sicher fühlen. Als Mitglieder der Allianz wollen sie natürlich die Solidarität der Partner. Aussagen wie die von Schröder unterminieren diese Solidarität.

"Außenpolitisch zieht Russland Sicherheit aus Unsicherheit"

Ist die russische Politik wirklich so aggressiv wie in westlichen Medien dargestellt?
Ulrich Kühn: In den letzten zwei Jahren war sie extrem aggressiv. Die Annexion eines Teils eines anderen Landes, die heimliche Beteiligung an einem Bürgerkrieg, das Überfliegen von NATO-Schiffen in ganz geringem Abstand, rhetorisches Drohen mit Nuklearwaffen - das sind Zeichen einer extrem verantwortungslosen Großmacht. Da muss sich Russland nicht wundern, dass der Westen so reagiert. Eigentlich war die NATO politisch fast schon tot, erst durch die Bluttransfusion durch Putin ist sie wieder geeint.
Warum fährt Putin dann diesen Kurs, der die NATO stärkt?
Ulrich Kühn: Außenpolitisch zieht Russland Sicherheit aus Unsicherheit. Russland hatte schon immer ein massives Problem mit der Osterweiterung der NATO. Alle Versuche, sie zu verhindern, sind aber gescheitert. Putin hat dann eine neue Strategie erfunden: Er kreiert Unsicherheit. In Ländern, die in die NATO wollen, werden lokale Konflikte geschürt. Das hat er 2008 in Georgien gemacht, 2014 in der Ukraine. Damit schlägt er diesen Ländern die Tür zur NATO zu, denn Länder mit Bürgerkriegen werden dort nicht aufgenommen. Außerdem schafft Russland damit ein Klima der Unsicherheit: Man weiß nie, was der russische Bär als nächstes macht.
Was muss Russland tun, um die angespannte Lage zu deeskalieren?
Ulrich Kühn: Dieses Klima der Unsicherheit ist natürlich kein Dauerzustand, das weiß Putin auch. Deshalb müssen beide Seiten in einen Dialog über des Pudels Kern eintreten, und das ist die NATO-Osterweiterung. Es braucht einen Modus Vivendi, der für beide gesichtswahrend ist. Man muss für die Länder zwischen beiden Seiten eine Lösung finden, sonst hat man permanent solche instabilen Staaten.
Aber zurücknehmen lässt sich die Osterweiterung ja schlecht, oder?
Ulrich Kühn: Nein, die Russen haben das akzeptiert, wenn auch zähneknirschend. Was sie nicht akzeptieren, ist eine weitere Ausdehnung in den postsowjetischen Raum. Weißrussland, Moldau, Ukraine, Georgien, Armenien, Aserbaidschan sowie die zentralasiatischen Länder sind aus russischer Sicht für die NATO tabu. Und jeder Schritt, der auch nur ansatzweise in diese Richtung geht, wird eine äußerst aggressive Reaktion hervorrufen. Wir müssen uns jetzt mit den Russen verständigen, wie wir ihnen klar machen können, dass wir keine Osterweiterung anstreben, ohne dass wir es aussprechen. Denn eines steht fest: Die USA werden niemals offiziell sagen, dass die Osterweiterung vorbei ist.
Warum?
Ulrich Kühn: Weil die USA sich als Führungsmacht Nummer 1 der Welt verstehen und sich nicht von anderen zu Aussagen zwingen lassen. Hier geht es um psychologische Faktoren - Respekt, Stolz, Statusdenken. Dementsprechend wird ein Ausgleich sehr, sehr schwierig werden. Deswegen ist es wichtig, dass Länder wie Deutschland mit gutem Draht nach Washington und Moskau auch mal mit guten Initiativen voranschreiten.