Die Öffnung des Grabe(n)s
Ursachen, Autorschaft und Funktion der Katastrophe
Der dritte Jahrestag der Tsunami-Katastrophe wurde zum Anlass genommen, um das Altbekannte über den Vorfall erneut vor Augen zu führen: Archivbilder von der „Todeswelle“ sowie von Opfern und Rettern. Immer wieder auch Zahlen von Toten, Spendengeldern und Wiederaufbaueinnahmen. Warum eine kritische Auseinandersetzung mit diesen Informationen ausbleibt, ist ironischerweise eine Sinnfrage höheren Ranges. Zu allererst stellt sich nämlich die Frage, warum eine Auseinandersetzung mit der Tsunami-Katastrophe überhaupt stattfinden sollte. Hier geht es um die Ursachen, die Autorschaft und die Funktion der Katastrophe für die Gesellschaft. Vorwegschicken lässt sich soviel: Katastrophen, die sich nach dem „11. September“ ereigneten, entfalten ihre Logik im Rückbezug auf den „Super-Gau“ aus dem Jahre 2001.
Die Katastrophen vom 11.09.2001 und 26.12.2004 könne man nicht miteinander vergleichen. Zuletzt war dieser mahnende Hinweis im Kontext der Diskussion über das neue Buch von Naomi Klein „The Shock Doctrine“ zu hören. Klein stellt darin Naturkatastrophen und Katastrophen terroristischer Prägung in ihrer Theorie des Schock-Kapitalismus auf eine Stufe.
Doch worauf stützt sich der Verweis auf die Inkommensurabilität der beiden Katastrophen? Er geht davon aus, dass diese Katastrophen unterschiedliche Ursachen haben. Doch wer von „Ursachen der Katastrophe“ spricht, muss zu allererst klären, was eine Katastrophe überhaupt ist, wo sie anfängt und wo sie aufhört. Wer die Katastrophe eingrenzt, sie also definiert, kommt nicht umhin – ich wähle an dieser Stelle eine Abkürzung – festzustellen, dass hierbei die Frage nach dem „Wen oder was betrifft sie?“ und „Wer kommt durch sie zu Schaden?“ entscheidend ist. Denn die Antwort lautet: Die Katastrophe betrifft Menschen, darüber hinaus von Menschen Errichtetes und Geschaffenes sowie von Menschen Genutztes. Insofern ist die Katastrophe eine prinzipiell gesellschaftliche, zivilisatorische und kulturelle Kategorie – ganz egal, ob die Plattentektonik oder Terroristen als Autor gelten.
Annahmen des Alltagsverstands
Die Autorschaft der Katastrophe ist von Grund auf komplexer als angenommen und damit auch die Antwort auf die Frage nach ihren Ursachen. Denn die Katastrophe, die sich am Ausmaß, Wirkungskreis und Schaden nicht nur misst, sondern sich daran auch konturiert, also ihren Charakter profiliert – die Katastrophe findet eben dort, in dieser Gemengelage von Faktoren, Umständen und Bedingungen gleichfalls ihre Ursachen.
Dieses Verständnis von der Katastrophe widerspricht zutiefst den Annahmen des Alltagsverstands, der sowohl in der Rezeption der Tsunami-Katastrophe zum Tragen kam („Mit den Ursachen des Bebens hatte der Mensch nichts zu tun. Punkt.“), als auch bei Vergleichen, die zwischen derselben und dem 11.September vorgenommen worden sind. Cordt Schnibben etwa behauptete, der moderne Terrorismus wolle so zerstören, wie es die Natur kann. Das Wirken des Tsunamis bekäme deshalb im Gegenzug etwas Terroristisches, so als habe das Meer im Urlaubsparadies mit derselben Bösartigkeit zugeschlagen wie Osama Bin Laden im World Trade Center.
In Schnibbens Lesart wird Terror zur Naturgewalt – allerdings nur im Hinblick auf seinen Willen, der bar jeglicher menschlichen Herkunft und Ursachen-Zusammenhänge zu sein scheint. Die Naturgewalt hingegen wird zu einem Terrorkommando, das an seiner Bösartigkeit gemessen wird. Bösartigkeit – so wie die Bösartigkeit von einem Virus – impliziert hier, wie auch im Alltagsverständnis, nicht die Frage nach der Ursache, sondern nach der Wirkung: Wie maßlos ist die Zerstörung? Nicht: Durch wen oder was wird sie hervorgerufen?
So taucht der Mensch in dieser Rechnung als Täter nicht auf, sondern lediglich als Opfer. Und genau darin besteht ein, wenn nicht das zentrale Problem einer Zeit, in der die Rede von der Katastrophe immer häufiger zu vernehmen ist und scheinbar auch Katastrophen selbst immer häufiger passieren: Menschen erscheinen als grundsätzlich passive Akteure, so wie die Gesellschaften, in die sie eingebettet sind, die sie formen. Katastrophen erscheinen folglich als nicht gestaltbar – dass sie abwendbar seien, scheint gänzlich indiskutabel.
Konstituierung und Spaltung der einen Welt
Nach dem 11. September meldeten sich alle zu Wort: Blogger, Politiker, Journalisten, Aktivisten und die großen Star-Intellektuellen unserer Zeit. Alle versuchten einander in Lautstärke und Gewicht ihrer Aussagen zu überbieten. Diese Auktion von Ideen zeitigte manch spektakuläres Produkt. Die Philosophen Jürgen Habermas und Jacques Derrida etwa, die sich bis dato quasi bekriegt hatten, machten gemeinsam ein Buch („Philosophie in Zeiten des Terrors“) und Klaus Theweleit, Deutschlands Vorzeige-Querdenker, kroch in die Hirne von Star-Intellektuellen wie Alexander Kluge, Peter Sloterdijk und Susan Sontag, um deren Rezeption der Katastrophe nachzuzeichnen. Seinem Buch verpasste er den bezeichnenden Titel „Der Knall“.
Ja, es hatte auch in den Köpfen „boom“ gemacht, folglich gab es viel zu reden. Darüber etwa, was die Katastrophe sichtbar gemacht hatte: Zum einen, dass es kein Außen mehr gibt (alles ereignete sich innerhalb der Netze der Globalisierung) und dass dieser „Weltinnenraum“, der da plötzlich vielleicht zum ersten Mal so gegenwärtig und manifest geworden war, von tiefen Rissen, Furchen und Gräben durchzogen ist.
Wenn der 11. September die „eine Welt“ „ohne Außen“ schlagartig vor Augen führte, dann war es auch der Moment, in der die Zerrissenheit der vermeintlichen „Weltgemeinschaft“ zu Tage trat: Von der „primitiven“ Ausstattung der Attentäter, über den globalen Ausnahmezustand der von den Worten „you are either with or against us“ getragen wurde, bis hin zu den US-Kriegen gegen Afghanistan und Irak, denen zahllose unbewaffnete Zivilisten zum Opfer fielen; von dem Angst und Feindbilder schürenden Terroralarm, über „die Distanz, die seit dem Erstarken der Exekutive zwischen dem Staat und dem Bürger wächst“ (Sassen), bis hin zu den vielen Abwehranlagen, Zäunen und Mauern, die das Post-9/11-Grenzregimes konstituieren; von der sich ständig neu formierenden „Achse des Bösen“, über die Radikalisierung der islamischen Welt, bis hin zur „Abschiebung“ von Entwicklungsmodellländern, die gegen Bündnispartner im „Krieg gegen den Terror“ ausgewechselt worden sind; von der inzwischen fast vergessenen „Old vs. New Europe“-Rede, über den transatlantischen Graben zwischen den USA und Europa, bis hin zu der Fragmentierung der Welt in Sachen Klimapolitik.
Wir sitzen nicht alle im selben Boot
In diese Auflistung fügt sich nahtlos die Doppelmoral im Umgang mit Katastrophen, die sich von den Rissen, Furchen und Gräben im „Weltinnenraum“ nährt: Im Jahr der besagten Tsunami-Katastrophe wurde auch die iranische Weltkulturerbe-Stadt Bam gleich zwei Mal von einem Erdbeben erschüttert. Dabei kamen gleichfalls schockierend viele Menschen ums Leben. Spendengelder wurden in Aussicht gestellt, dann aber nicht ansatzweise in der versprochenen, geschweige denn angemessenen Höhe gezahlt. Ohnehin nahm die „Weltöffentlichkeit“ von dieser Katastrophe kaum Notiz.
Die Doppelmoral im Umgang mit Katastrophen hat noch ein anderes Gesicht, das in diesem Zusammenhang vielleicht noch bezeichnender ist. Es zeigt sich in jenem Moment, in dem alle glauben, sie säßen in einem Boot, also dann, wenn sich die Katastrophe ereignet und eine Gruppe von Menschen in den Ausnahmezustand versetzt. Es ist dieser Moment des gemeinsamen Erlebens eines Notstands, in dem das viel zitierte Wir-Gefühl aufkommt und sich so genannte Schicksalsgemeinschaften bilden. Es ist dieser Mythos von der Schicksalsgemeinschaft – in Katastrophenfilmen am laufenden Band reproduziert –, den die Realität der Katastrophe ad absurdum führt – und damit auch deren komplementäres Gegenstück, die viel beschworene „Weltgemeinschaft“.
Am 26.12.2004 und der Folgezeit hat sich deutlich gezeigt: Bei einer Katastrophe sitzen nicht alle im selben Boot. Selbst wenn „alle“ im selben Moment gemeinsam sterben, werden sie, wenn die sozialen Umstände dies vorzeichnen, nicht gemeinsam und am selben Ort begraben. So gab es an den Küsten des Indischen Ozeans „humane“ und „inhumane“ Massengräber. Die Bild-Zeitung fragte am 5. Januar 2005 echauffiert: „Warum hat der Tod in Asien zwei Gesichter? Brachte die Katastrophe das Sterben in zwei Klassen?“ Nur implizit wurde damit das eigentliche Problem angesprochen: Nämlich, dass das Leben (in Asien) zwei Gesichter hat. Abhängig von den sozialen Verhältnissen kann das Leben und natürlich auch das Überleben eine halbwegs geschmeidige Sache oder aber eben von den größten Nöten und Sorgen geprägt sein.
Eine Katastrophe macht diese Ungleichheiten nicht nur auf häufig verstörende Weise sichtbar, sondern wirkt auch als Verstärker. Wie der Umgang mit dem Tsunami zeigte, hat die Katastrophe ihre Funktion für die Gesellschaft allerdings erst dann erfüllt, wenn diese Vergrößerungs- und Verstärkungseffekte ausgeblendet werden, indem die Gemeinschaft – als nationale oder globale Größe – erfolgreich beschworen und der Zusammenhalt sowie die Einheit postkartentauglich in Szene gesetzt werden können. Dies mag „schon immer“ so gewesen sein: Nach dem 11. September aber scheint alles mehr denn je darauf ausgerichtet zu sein. Treten Risse zu Tage, so werden sie mit aller Macht gekittet. Selbst die Bevölkerung scheint nichts anderes zu wollen.
Zukunft des Katastrophenbewussteins
Nach dem 26.12.2004 hätten die Debatten, die dem 11. September folgten, fortgesetzt werden können. Ein weiteres Mal, doch auf gänzlich andere, nicht minder verstörende Weise zeigte sich, dass Abschied zu nehmen ist vom Außen (hier: das Paradies) und dass der „Weltinnenraum“ von tiefen Gräben durchzogen ist. Stattdessen fanden „Galas der Menschlichkeit“ statt, wie man die öffentlichen Spendenveranstaltungen nach der „Todesflut“ nannte. Sie hatten nichts anderes zum Ziel, als die „Weltgemeinschaft“ zu beschwören, eine heile Welt und somit ein heiles Sinnganzes zu rekonstruieren.
Der Verlust des Außen und die Spaltung der Welt wurden vergessen gemacht. Und damit auch die höchst problematischen Implikationen von Rainer Maria Rilkes weisen Spruch, der da lautet: „Durch alle Wesen reicht der eine Raum: Weltinnenraum“. Wenn die Fragen nach den Ursachen der Katastrophe verklärt wurden, dann weil die „Galas der Menschlichkeit“ die Rolle des Menschen in dieser Problemlage zu neutralisieren vermochten.
Vielleicht ist die Zeit gekommen, zu solchen Anlässen „Protestmärsche der Menschlichkeit“ zu organisieren, die als „Dritte Supermacht“, wie die Demonstrantenmassen im Vorfeld des Dritten Golfkriegs bezeichnet wurden, für die soziale Gestaltbarkeit der Katastrophe protestieren. Aber dafür müsste man die Risse, Furchen und Gräben, die in solchen Momenten im Weltbild schreiend Gestalt annehmen, nicht sofort mundtot machen, sondern verstärken und für einen intellektuellen Dialog furchtbar machen, der die Annahmen des Alltagsverstands kritisch in Frage stellt.
Von Krystian Woznicki erscheint im Kulturverlag Kadmos demnächst das Buch: Abschalten. Paradiesproduktion, Massentourismus und Globalisierung.