Die Orgie der Kommunikation

Seite 2: Eindeutigkeit und Ironie

Die Korridore sind also verstopft. Zugestopft mit Meinungen und Haltungen, moralischen Lackmustests und spontanen Reaktionen auf den neuesten Tweet, mit dem wir uns wieder einem Lager zuordnen. Verschwunden ist die lange Form, die Dauer eines Diskurses.

Omnipräsent ist die Form des Kommentars, des Meinungsstücks, das selbst immer mehr zu einem Stückwerk wird. Soziale Medien sind eine Affektmaschine. Sie machen uns zu Identitäten, zwingen uns zu Eindeutigkeit oder ironischem Witz.

Wer auf Twitter reüssieren will, muss schnell sein, witzig und pointiert. Alles, was zu komplex ist, was abwägt und sich Ambivalenzen stellt, geht in der Tendenz unter. Wenn wir von einer Verengung sprechen können, dann von einer Verengung der Formen, die jede Äußerung in die Nähe von Marketing rücken.

Die Aufmerksamkeitsökonomie, die Verrechnung der eigenen Identität, also die ökonomischen Strukturen dieser durchdrehenden Diskurse. Wir werden nicht nur zu Werbekörpern (man lese das spannende Buch von Ole Nymoen und Wolfgang M. Schmitt "Influencer"), sondern auch zu Meinungssendern.

Meinungen sind allerdings häufig aus dem Bauch heraus, spontan und emotional. Die lange Form der Reflexion, des Abwägens und Argumentierens fehlt. Mit jeder Meinung wird mehr Affekt in die öffentliche Debatte gepumpt, bis der Ballon vor zu viel Unübersichtlichkeit und Antagonismus platzt. Im Wettstreit der Meinungen verlieren wir alle. Politisch sind einzig Argumente. Und für diese braucht es Zeit und Stille.

In seinem Buch Die fünf Sinne schreibt der 2019 verstorbene französische Philosoph Michel Serres über die betäubende Wirkung des kommunikativen Lärms: "Wer ständig spricht, leidet: mit Drogen betäubt, anästhesiert, addicted, dem dictum, dem Gesagten verfallen."

Stillgestellt, unseren wachen Sinnen beraubt, hetzen wir Wiederholungen hinterher. Teilen, liken, sammeln und saugen auf. Aber wann ordnen wir diese Dinge eigentlich ein? Und wann ziehen wir die richtigen Schlüsse. Wir können nicht so weiter machen. Es gibt kein Zurück mehr. Corona. Klimakrise. Steigende Ungleichheit. In welcher Zukunft wollen wir leben?

Um diese Frage zu beantworten, brauchen wir eine Stille. Erneut Serres: "Stumm dagegen gehe ich dem Schweigen entgegen, der Gesundheit, ich setze mich der Welt aus. Sensibel, rezeptiv, feinfühlig erkennt der Sinnesfühler das bereits Gesagte, Wiederholt, und zieht sich rasch zurück, wartet aufmerksam, aus dem Lot oder nicht im Gleichgewicht gegenüber der Sprachmasse, wie eine empfindliche Antenne wartet er auf das Unerwartete, erkennt er das Unkenntliche, sensible in die Stille hinein."

Etwas griffiger formuliert: Unsere Zukunft liegt in ein wenig mehr kontemplativer Stille und weitaus weniger Aufregung. Wenn Corona eben auch eine Orgie der Zeichen, der Kritik und der Meinungen ist, dann müssen wir uns der Frage stellen: "Was tun nach der Orgie?"