Die "Phantomgelder" der Entwicklungshilfe
Die reichen Länder hinken nicht nur ihren Versprechungen weit hinterher, der Großteil der von ihnen geleisteten Entwicklungshilfe dient auch nicht der Bekämpfung der Armut
Eigentlich haben die reichen Industrieländer sich verpflichtet, mindestens 0,7 Prozent des Bruttoinlandsprodukts für die Entwicklungshilfe auszugeben. Das war 1970 und wurde nie erreicht. 2002 hatten sich die reichen Länder wiederum verpflichtet, langfristig das Ziel von 0,7 beizubehalten, die 15 alten EU-Mitgliedsländer beschlossen, ihren durchschnittlichen Beitrag bis 2010 auf 0,39 % zu erhöhen, bis 2014 sollen es dann doch die lange zugesagten 0,7% werden. Die neuen EU-Mitgliedsländer wollen bis dahin bei 0,33 Prozent liegen. Deutschland hat 2004 gerade einmal 0,28 Prozent des BIP aufgebracht, die USA gar nur 0,14 %. Nach einem Bericht der Hilfsorganisation ActionAid geht aber auch nur ein Bruchteil der offiziell angegebenen Gelder wirklich in die Hilfe für die Entwicklungsländer.
Die Gelder, die in die Entwicklungshilfe gesteckt werden, gehen vor allem in die Gehälter von Beratern und Firmen aus den Industrieländern selbst oder werden anderweitig verschwendet, behauptet ActionAid in dem Bericht Real Aid: An Agenda for Making Aid Work. 61 Prozent der Gelder der G7-Länder (Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Kanada, Italien, Japan und die USA) seien nicht real, sondern nur "Pantomgelder". In absoluten Zahlen: von den 69 Milliarden US-Dollar, die 2003 gezahlt wurden, sollen gerade einmal 27 Milliarden "real" sein, also tatsächlich und ohne Verschwendung dazu dienen, die Armut zu senken.
Als diesbezüglich schlimmste der G7-Länder werden Frankreich und die USA genannt. Hier sollen gerade einmal 10 Prozent der offiziell aufgewendeten Hilfsgelder "real" sein, also wirklich den Menschen in den Entwicklungsländern zugute kommen. Die G7-Länder geben jährlich durchschnittlich 0,25 des BIP für die Entwicklungshilfe aus, zieht man die Phantomgelder ab, so wären es gerade einmal 0,07%. Aber natürlich gibt es erhebliche Unterschiede. So seien die Norweger relativ zu ihrem Reichtum beispielsweise 40 Mal großzügiger als die Amerikaner und geben 4 Mal mehr als die Briten, die 0,24 des BIP geben. Auch die Dänen und Luxemburger geben erheblich mehr – und zudem offenbar eher altruistisch als auf eigenen Vorteil bedacht. So seien die Entwicklungsgelder von Luxemburg zu 81% real. Bei den G7-Ländern liegt Großbritannien mit 71% an der Spitze. Deutschland kommt hier ebenso wenig gut weg wie bei der Höhe der Entwicklungshilfe. Nach ActionAid sind zwei Drittel der deutschen Entwicklungshilfe nur Phantomgeld.
Der Grund für die Diskrepanz zwischen den offiziell angegebenen und den real eingesetzten Geldern liegt nach der Hilfsorganisation teilweise darin begründet, dass die reichen Länder zumindest vorgeben, dass sie ihre Zusagen einlösen, die Gelder aber oft an Bedingungen knüpfen, die weniger mit der Behebung von Armut zu haben, sondern etwa geopolitischen oder wirtschaftlichen Interessen entsprechen. Zum Teil werden die Gelder aber auch an die exzessiven Gehälter von internationalen Beratern oder zum Kauf von überteuerten Gütern aus den Industrieländern verschwendet. Dazu kommen: "schlecht koordinierte Anforderungen für Planung, Umsetzung, Überprüfung und Berichterstattung, exzessive Verwaltungskosten, späte und teilweise Auszahlung, doppelte Verrechnung mit Schuldenerlass und Hilfsgelder für Immigrationsdienste". Überdies gehen nur 40% der Entwicklungshilfegelder an die ärmsten Länder.
Die Schätzung der wirklichen und der Phantom-Gelder ist natürlich problematisch, was auch die Autoren einräumen. So werden als Phantomgelder solche gezählt, die an Länder mit mittleren Einkommen gehen, wenn dies mehr als 30 % der Gesamtsumme ausmacht. Der Grund dafür ist, dass in den ärmsten Ländern Dreiviertel der Armen weltweit leben. 7 % der gesamten Gelder, die 2003 gezahlt wurden, gelten daher als Phantomgelder. Angerechnet wurde nicht die Höhe des Schuldenerlasses, weil dieser einerseits nicht direkt der Beseitigung dient und oft Regierungen auch dann, wenn der Schuldenerlass in die Gesamtsumme der geleisteten Entwicklungshilfe aufgenommen wird, so getan werde, als würde der Schuldenerlass zusätzlich zur Entwicklungshilfe geleistet. Schuldenerlass sei zwar wichtig, so der Bericht, aber er müsste tatsächlich zusätzlich erfolgen.
Überteuerte und ineffektive technische Hilfe wird von den Autoren des Berichts als eine der maßgeblichen Komponenten der Phantomgelder kritisiert. 2003 flossen 18 Milliarden US-Dollar oder mehr als ein Viertel in die technische Hilfe, vermutlich seien es aber noch mehr, da in den meisten Programmen und Projekten Gelder für technische Hilfe versteckt aufgeführt würden. Technische Hilfe bedeutet in aller Regel, dass die Gelder an bestimmte Bedingungen gebunden gezahlt und Berater zu Behörden geschickt werden, um diese zu unterstützen. Alleine in Afrika seien um die 100.000 technischen Experten im Rahmen der geleisteten Entwicklungshilfe beschäftigt. Problematisch sei dies auch deswegen, weil technische Hilfe oft an Firmen des Geldgeberlandes gebunden ist. Die Gehälter der Experten seien meist zu hoch. In Vietnam würde sie monatlich zwischen 18.000 und 27.000 US-Dollar verdienen, ein vergleichbarer lokaler Experte verdiene jedoch nur zwischen 1.500 und 3.000 US-Dollar. In Kambodscha erhalten die 740 ausländischen Experten jährlich 50-70 Millionen US-Dollar, umgerechnet erhalte damit ein Experte etwa ein zweihundertfach höheres Gehalt als das durchschnittlich der staatlichen Angestellten, mit denen er zusammen arbeitet. Viel Geld fließe auch in teure Reisekosten der Experten. Und überdies erfolge die technische Hilfe oft ohne gute Kenntnisse des Landes und würde die Empfängerländer oft in Reformen zwingen, die den Interessen der Geberländer entsprechen.
Die USA stecken am mit einem Anteil von 47% am meisten in die technische Hilfe, Deutschland liegt hier auch mit 34% mit an der Spitze. Bei Dänemark, Italien, Schweden, Luxemburg oder Irland gehen unter 10% in die technische Hilfe. Der Bericht schreibt nicht alle Gelder für technische Hilfe als Phantomgelder ab, setzt aber 75 % als nicht hilfreich oder überteuert als solche an. Ähnlich verfahren die Autoren des Berichts mit Geldern, die daran gebunden sind, Güter oder Dienste aus dem Geberland zu erwerben. Auch das führt zu überteuerten Preisen. Die USA und Italien verknüpfen 70% bzw. 90% aller Gelder mit solchen Bedingungen, nur Irland, Großbritannien, Schweden und Norwegen geben mittlerweile alle Hilfsgelder ohne solche Auflagen. Bei deutscher Hilfe liegt der Anteil der gebundenen Gelder bei 5%.
Die Autoren des Berichts meinen jedenfalls, dass sie die Höhe der "realen" Gelder großzügig eingeschätzt hätten. Vermutlich sei die Situation in Wirklichkeit noch schlimmer. Um Entwicklungshilfe besser einzusetzen, schlagen sie ein internationales Abkommen vor, das den Vereinten Nationen die Aufgabe der Verteilung überträgt und klare Richtlinien für den Empfang von Geldern und die Effizienz der Verwendung vorgibt. Zudem müssten Verpflichtungen eingeführt werden, damit die reichen Geberländer die Höhe der Entwicklungsgelder erhöhen und die Größenordnung der Gelder berechenbar wird, also nicht nach Lust und Laune schwankt. Aber das dürfte, wenn überhaupt, noch lange dauern.
Ein wichtiger Schritt wäre allerdings schon einmal, wenn die Regierungen die Gelder, die sie in die Entwicklungshilfe stecken, effektiver zur Bekämpfung der Armut einsetzen. Aber vermutlich wird man weiterhin sehr viel mehr Geld aufwenden, um die Grenzen für Einwanderer dicht zu machen und die reichen Länder als Festungen mit Hightech-Mauern anzulegen. Zudem werden weiterhin viele Milliarden in die Rüstung fließen, um dann in armen Ländern, die zu "failed states" und damit zu "Brutstätten des Terrors" werden, militärisch intervenieren zu können, um dann ebenso viel gebundenes Geld in das "nation building" zu stecken. Weltweit wurden nach Angaben des Stockholm International Peace Research Institute (Sipri) 2003 fast 880 Milliarden US-Dollar für Rüstung ausgegeben. Fast die Hälfte davon (47%) steckt die USA in die Rüstung, mit weitem Abstand folgen Japan, Großbritannien, Frankreich und China mit einem Anteil von jeweils 4%. Deutschland liegt mit über 27 Milliarden an sechster Stelle.