Die PiS als neue polnische Linke?

Seite 3: Wo bleiben die Massen?

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Als sich wenige Wochen nach der Wahl der erste Widerstand in Form des parteiunabhängigen "Komitees zur Verteidigung der Demokratie", kurz KOD, formierte, gingen tausende Menschen vor allem in den urbanen Zentren wie Warschau, Danzig, Krakau oder Breslau auf die Straßen. Diese Proteste genossen dennoch nicht die Unterstützung weiter Teile der Bevölkerung, wie sich die Veranstalter erhofften.

Das ist für die städtischen Bildungsschichten zwar sehr enttäuschend und oft unverständlich, aber auch hier zeigt sich die über zwei Jahrzehnte kultivierte Ignoranz und Verachtung jenen Mitbürgern gegenüber, die im Zuge der Transformation unter die Räder gerieten.

An den Märschen gegen die Gleichschaltung des Verfassungsgerichts oder gegen das de facto absolute Abtreibungsverbot nahmen kaum Arbeiter oder Bauern teil. Als würden diese Probleme sie nicht betreffen. Selbst als im ganzen Land eine halbe Million Menschen gegen die Justizreform demonstrierte, verhielten sich die übrigen 38 Millionen bestenfalls passiv, viele reagierten in Fernsehinterviews und auf Internetforen kritisch bis aggressiv: das Establishment, die Eliten hätten ihre Plätze an den Futtertrögen verloren. Man sah viele Menschen im mittleren Alter, aber auch Rentner, die sich noch gut an die Zeit vor 1989 erinnern können.

Für die Jungen, die nach dem Studium arbeitslos werden oder mit "Müllverträgen" in Shopping Malls oder Call-Centers für 2 Euro die Stunde schuften, bleibt oft die Arbeitsemigration in den Westen als letzter Ausweg. Zwei Millionen von ihnen haben dem Land bereits den Rücken gekehrt. Diese Menschen haben, falls sie zur Wahl gingen, mehrheitlich ihre Stimmen der "Bewegung Kukiz" oder "KORWiN", zwei rechtsextremen Gruppierungen gegeben.

Polen B

Seit den Zwischenkriegszeiten existiert eine imaginäre Einteilung in Polen der Kategorie A und B. Dieses "Polen B" liegt im Osten des Landes, an der sog. Ostwand, grenzt an Weißrussland, die Ukraine, teilweise an die Slowakei. Es folgt oft alten Teilungslinien, als Preußen, Österreich-Ungarn und das zaristische Russland Polen unter sich aufgeteilt hatten und diese Gebiete wie ihre Kolonien behandelten - mit allen mentalen und wirtschaftlichen Folgen für die dort lebende Bevölkerung.

Die katholische Kirche war der letzte Halt für diese Menschen und sie ist dort bis heute mächtig geblieben. Dieses "Polen B" hat mehrheitlich für Kaczynskis Partei gestimmt. Ähnlich wie die Mindestrentner, die zuvor oft jahrelang arbeitslos waren, nachdem sie durch massive Privatisierungen zu Beginn der Neunzigerjahre freigesetzt wurden. Die Liberalisierung und Modernisierung des polnischen Alltags, die in den letzten 15 Jahren rasant vor sich ging, überforderte viele, machte ihnen Angst, sie suchen Zuflucht im Altbekannten. Die Medien vergaßen oder verspotteten sie. Für sie ist Jarosław Kaczyński ein Erlöser von allem, was ihnen bedrohlich erscheint: der werteliberalen EU, den Angriffen gegen die katholische Kirche, der Globalisierung, zuletzt auch von einer vermeintlichen Islamisierung.

Der Journalist Marcin Kołodziejczyk veröffentlichte vor kurzem eine Reportagensammlung aus Ostpolen mit dem Titel "Eine sehr tote Saison". In einem Interview erzählte er, dass seine gebildeten Freunde aus Warschau völlig überrascht waren, als sie seine Berichte lasen. Es war ihnen nicht bewußt, dass dieses Polen nur wenige Kilometer östlich von Warschau existiert. Diese Teile des Landes erhielten bei weitem weniger Gelder aus den Strukturfonds der EU als die westlichen oder zentralen Bezirke. Viele junge Menschen verließen Ostpolen Richtung westliches Ausland.

Doch dieses Polen B ist nicht nur geografischer Natur, es ist mittlerweile ein soziologischer Begriff, es taucht überall dort auf, wo die Menschen seit der Wende sukzessive verarmten. Und das kann auch mitten in Arbeiterbezirken großer Städte sein.

Die Sozialpolitik wirkt

Als die PiS im Oktober 2015 von einem relativ kleinen Teil des polnischen Elektorats - bei einer Wahlbeteiligung von 50% entfielen 37,6% der Stimmen für die PiS, das bedeutet, dass gerade 19% der wahlberechtigten Polen für die Partei gestimmt hatten - war die Verwunderung im In- und Ausland groß. Wie konnte in einem wirtschaftlich so erfolgreichen neuen EU-Land eine rechtskonservative populistische Partei die absolute Macht erlangen?

Die Ignoranz und Abgehobenheit der politischen Eliten und großer Teile der polnischen Bevölkerung erklärt teilweise den Wahlerfolg, aber auch die anhaltende Unterstützung für die rechtkonservative Regierung. Denn allen Unkenrufen zutrotz, "500 plus" scheint zu wirken. Wie die polnische Sektion des "European Anti Poverty Networks", eines von der EU unterstützten Zusammenschlusses von NGOs und Grass-Root-Gruppen errechnet hat, lebten vor der Einführung von "500 plus" 11,9% aller polnischen Kinder in absoluter Armut. Seit das Kindergeld ausbezahlt wird, ging dieser Anteil auf 0,7% zurück. Dies bedeutet eine Reduktion der absoluten Armut unter Kindern um 94%.

Die soziale Ungleichheit konnte demnach stark reduziert werden. Für westeuropäische Verhältnisse mag es verwundern, warum 120 Euro, bei kinderreichen Familien ein Mehrfaches davon, nun einen großen Unterschied ausmachen sollte. Das Hauptstatistikamt veröffentlicht alle 2 Jahre, zuletzt 2016, eine Untersuchung, wonach die meisten Arbeitnehmer in Polen 2200 Zloty brutto verdienen, das sind netto ca. 1600 Zloty, knapp unter 400 Euro im Monat. Demnach würden nur 19% der Untersuchten, meist Angestellte und Arbeiter in großen staatlichen Betrieben, tatsächlich den offiziellen Brutto-Durchschnittslohn von 4.200 Zloty, knapp 1000 Euro erhalten. Eine Lehrerin oder eine Krankenschwester mit 15-jähriger Berufserfahrung kommt auf ca. 450 Euro netto im Monat und das bei Lebenshaltungskosten, die mittlerweile nur unwesentlich niedriger sind als in Deutschland. Damit wird verständlich, dass dieses Kindergeld eine große finanzielle Entlastung vor allem für kinderreiche Familien bedeutet.

Die "Konferenz der Finanzunternehmen" und "Das Institut für Wirtschaftsentwicklung" haben gemeinsam Daten gesammelt, wofür die Empfänger das Geld ausgeben. Demnach würden 42% die Beihlife für Lebensmittel und Kleidung, 34% für Schul- und Kindergartenbedarf und 32% für Bildung und zusätzliche Angebote für ihre Kinder verwenden. 2016 konnten bereits 14% mehr Kinder an Ferienlagern teilnehmen.

Die PiS als Chance

Würde sich Kaczynskis Partei, wie sie es in ihrem Wahlkampf vorgegeben hatte, auf ihr Sozialprogramm konzentrieren, anstatt den Demokratieabbau voranzutreiben, könnte sie durchaus eine länger währende Alternative im polnischen Parteienspektrum darstellen und weite Wählerschichten ansprechen. Dass sie es nicht tut, zeugt von massiver Wählertäuschung und einer versteckten Agenda, die nun systematisch Punkt für Punkt abgearbeitet wird.

Paradoxerweise sind die Polen heute dank der PiS dennoch um einige Erkenntnisse reicher. Die Erleuchtung eines Marek Beylin hätte vielleicht ohne diese Regierung nie das Tageslicht erblickt. Nach 25 Jahren dürfte der neoliberale Diskurs vorerst ausgedient zu haben und die Zeit für neue Ideen reif zu sein. Oder wie Michał Boni sagte: "Für mich ist der Neoliberalismus Geschichte. Es war einmal, nun ist es vorbei." Mittlerweile herrscht unter der Opposition und den Kommentatoren die Meinung vor, dass jede künftige Regierung eine umfassende Sozialpolitik in ihr Programm aufnehmen muss.