Die Politik fordert Reformen - doch eigentlich dreht sie sich im Kreise

Schöne neue Wirtschaftsscheinwelt - Reloaded

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Anfang März habe ich mich unter dem Titel Schöne neue Wirtschaftsscheinwelt mit Problemen unseres Wirtschaftssystems befasst. Mit der Diskussion über das "Reformprogramm Agenda 2010" hat die Wirtschaftskrise endlich ihren Weg in die Öffentlichkeit gefunden. Mitreden wollen viele, doch konkrete, wirklich neue Vorschläge und Visionen fehlen weiterhin. Genau wie schlüssige Analysen der Ursachen unserer Wirtschaftsprobleme.

Für die von der Swiss Re befragten Experten ist auch das Risiko seit der letzten Befragung vor sechs Monaten gestiegen, dass es an den Aktienbörsen in den USA oder in Europa zu einem Crash kommt. Als Crash bezeichnet der Report den Rückgang eines großen Marktindexes um 25 Prozent. Demnach beträgt die geschätzte Wahrscheinlichkeit eines solchen Einbruchs im Jahr 2003 für den amerikanischen Markt 21 Prozent (im Oktober: 16 Prozent) und für den europäischen Markt 23 Prozent, nach 17 Prozent bei der letzten Erhebung.

Der Standard, 18. Mai 2003

Die Agenda 2010

Die "Agenda 2010" ist kein Reformprogramm, welches die Ursachen unserer wirtschaftlichen Probleme angeht. Vielmehr legt dieses Konzept seinen Schwerpunkt darauf, die staatlichen Ausgaben zu verringern. Dieser Punkt mag wichtig sein, täuscht aber darüber hinweg, dass mit einer Sanierung des Staatshaushaltes die Probleme der Arbeitslosigkeit,der Verschuldung von Staat, Unternehmen und Privatpersonen sowie die zunehmende Verarmung ganzer Landstriche auch in Deutschland nicht angegangen werden.

Im Gegenteil: Kürzt der Staat den Schwächsten das Geld, konsumieren diese weniger - was sich natürlich wieder negativ auf die Binnennachfrage auswirkt und die Wirtschaftskrise anheizt. Das haben auch manche "Wirtschaftsexperten" erkannt und fordern deshalb zum Teil, der Staat möge durch vermehrte Ausgaben die Nachfrage anheizen - weil dies die herrschende Wirtschaftstheorie so vorgibt. Doch mehr Ausgaben kann der Staat sich nur durch mehr Schulden leisten - Schulden, die er bereits beim jetzigen Stand nur sehr schwer jemals wieder tilgen kann:

1.292.857.510.940 Euro waren es soeben bei einem kurzen Blick auf die Schuldenuhr vom Bund der Steuerzahler, 15.668 Euro pro Kopf. Diese werden sich Dank exponentiellem Wachstum aufgrund des Zinseszins-Effekts in absehbarer Zeit sowieso verdoppeln (bei 5% Zinssatz ohne Tilgung binnen 14 Jahren!), sollte der Staat also mehr Schulden machen, um die Konjunktur anzukurbeln?

"Wir müssen alle sparen"

So ruft der Finanzprediger von seinem hohen Schuldenberg. Aber wer ist "wir"? Wer einen Euro zur Bank bringt (also spart!), der wird zum Gläubiger mit einem Geldvermögen von einem Euro. Die Bank wird zum Schuldner von einem Euro und verleiht das Geld natürlich weiter. Jedem Geldvermögen auf der einen Seite stehen somit Schulden in gleicher Höhe auf der anderen Seite gegenüber.

Wenn der Bund(esfinanzminister) aktuell also schreit, er müsse sparen, meint er damit, er muss die Sozialleistungen herunterfahren. Diese stellen sicherlich einen sehr großen Posten dar. Ein interessanter und immer wieder unbeachteter Posten sind jedoch die Zinszahlungen für alte Schulden. Im Jahr 2002 waren das knapp 37 Mrd. Euro, im Jahr 2003 werden es geschätzt 38 Mrd. Euro sein (Stand März 2003). Wie viel das ist, zeigt nur der Vergleich mit anderen Ausgabeposten (gerundet in Mrd. Euro):

Während die Ausgaben für Hochschulen im Vergleich zu den Zinszahlungen nahezu irrelevant sind (vom Umweltschutz ganz zu schweigen), könnten - wenn man sich mal Träumereien hingibt - die Renten um ca. 50% erhöht werden, wenn der Staat keine Zinsen zahlen müsste. Welchen Effekt würde es wohl auf die Binnennachfrage und damit den Arbeitsmarkt haben, wenn alle Rentner 50% mehr ausgeben könnten?

In der harten Realität jedoch fließen 15% aller Ausgaben (also mehr als 16% aller Einnahmen, also jeder sechste Steuereuro von der Einkommensteuer über die Sozialabgaben bis zur Mehrwertsteuer - die wir bei jedem Kauf zahlen) direkt an die Gläubiger des Staates, die - wie oben gezeigt - bereits mindestens die gleiche Summe an Vermögen haben, die der Staat an Schulden hat. Natürlich müssen "wir" sparen. Aber spart die Agenda 2010 am richtigen Ende?

Die Fakten zur Wirtschaftslage

Schauen wir auf die Fakten: Inflationsbereinigt produzierten die ca. 82.5 Millionen Deutschen im Jahr 2002 Güter und Dienstleistungen im Wert von 1984.30 Milliarden Euro. Das sind ca. 24.000 Euro pro Kopf: Vom Säugling bis zum Rentner. Wie viele vierköpfige Familien mit einem Jahreseinkommen von fast 100.000 Euro kennt jeder von uns?

Wenn wir diese Werte nicht erhalten, wer erhält sie dann?

Wirtschaftswachstum bedeutet, dass eine Volkswirtschaft in einem Jahr in Werten gerechnet mehr produziert als im Jahr zuvor. Wirtschaftswachstum wird oft mit Fortschritt, also qualitativem Wachstum verwechselt. Doch wenn in der Politik von "Wirtschaftswachstum" die Rede ist, wird immer nur von einer Steigerung des Bruttoinlandsproduktes geredet, also der Summe aller produzierten Güter und Dienstleistungen.

Nicht nur "Wirtschaftsexperten" und Politiker, sondern zum Beispiel auch die Gewerkschaften haben sich "mehr Wachstum" auf die Fahnen geschrieben. Ist dies rational zu erklären, wenn man weiß, dass unsere Volkswirtschaft bereits jetzt so aufgebläht ist, dass sie für jeden 24.000 Euro produziert? Das Problem liegt doch offensichtlich nicht daran, dass wir zu wenig produzieren, sondern in der Art und Weise, wie es verteilt wird.

"Wer nicht arbeitet, soll auch nichts kriegen!"

So lautet die Parole derjenigen, die als neuen Sündenbock der Finanzprobleme des Staates die Arbeitslosen auserkoren haben. Deshalb soll über geringeres Arbeitslosengeld mehr Druck auf diese ausgeübt werden, um sie "in den ersten Arbeitsmarkt einzugliedern".

Dass einfach nicht genug Arbeit vorhanden ist, da die Technologie und Automatisierung der letzten Jahre und Jahrzehnte menschliche Arbeit überflüssig macht, wird dabei schlicht ignoriert. Nur in einigen Internetforen gelangen die Meinungen potentiell Betroffener an die Öffentlichkeit.

"Wer nicht arbeitet, soll auch nichts kriegen", gilt jedoch nicht für die Empfänger sogenannter "leistungsloser Einkommen", zu denen die Kapitalrente gehört: Wer einem anderen Kapital zur Verfügung stellt, erhält dafür eine Vergütung, den Zins. Es soll hier keine Wertung wie "gerecht" oder "ungerecht" vorgenommen werden, es soll nur gezeigt werden, welche wirtschaftlichen Folgen diese leistungslosen Einkommen nach sich ziehen.

In einer Volkswirtschaft vermehren sich Vermögen nicht von allein, sondern der Betrag, um den sich ein Vermögen vergrößert, muss derjenige erarbeiten, der sich dieses Vermögen (z.B. für Investitionen) geliehen hat. Ein Teil des Volkseinkommens fließt somit in Form von Kapitaleinkommen an die Vermögensbesitzer - und vergrößert deren Vermögen. Dieses Vermögen muss, sofern es bei einer Bank zu positivem Zinssatz angelegt wird, von dieser als Schulden in den Markt gedrückt werden. Würde die Bank keinen Schuldner finden, müsste sie die Zins-Kosten sonst ja selbst tragen. Mit der Vergrößerung der Vermögen auf der einen Seite entsteht also eine Verschuldung in gleicher Höhe auf der anderen Seite.

Man stelle sich eine Volkswirtschaft vor, die nicht wächst, also Jahr für Jahr dieselben Werte produziert. Innerhalb dieser Volkswirtschaft wachsen aufgrund ewig positivem Zinssatz jedoch die Vermögen und damit die Schulden unaufhörlich. Da das Gesamteinkommen in dieser Volkswirtschaft jedoch konstant ist, muss mit wachsendem Kapitaleinkommen das Arbeitseinkommen sinken. Diese Volkswirtschaft kollabiert ab einem bestimmten Zeitpunkt, da den arbeitenden Menschen immer weniger ihres erarbeitenden Vermögens zur Verfügung steht und ein immer größer werdender Teil an die Kapitalbesitzer fließt, die jedoch gar nicht mehr wissen, wie sie ihr Einkommen konsumieren sollen. Um zu Überleben steht eine Volkswirtschaft allein aus Gründen eines ewig positiven Zinssatzes vor einem Wachstumszwang.

Doch auch eine wachsende Volkswirtschaft ist nicht vor dem Zusammenbruch sicher. Ist das Wirtschaftswachstum kleiner als die Wachstumsrate der Geldvermögen (also kleiner als der herrschende Zinssatz), kommt es auch hier langfristig dazu, dass die Kapitaleinkommen erst stärker wachsen als die Arbeitseinkommen. Ab einem bestimmten Punkt beginnt jedoch selbst in dieser wachsenden Volkswirtschaft das Arbeitseinkommen real zu schrumpfen - um die überproportional wachsenden Kapitaleinkommen bedienen zu können. Man spekuliert, dass die Kapitaleinkommenanteile in jedem Produktpreis inzwischen bei durchschnittlich 30% liegen.

"Wir brauchen mehr Wachstum!"

Wer mehr Wachstum fordert, muss also ein Wirtschaftswachstum anstreben, welches mindestens in Höhe des Geldmarktzinssatzes wächst.

Die Zinssätze sind für Kredite und langfristigere Geldanlagen natürlich z.T. wesentlich höher. Doch bereits dieses Beispiel zeigt, dass die Geldvermögen stärker wachsen, als das Volkseinkommen und somit langfristig die leistungslosen Kapitaleinkommen die Arbeitseinkommen auffressen.

Wenn unsere Wirtschaft also z.B. mit 5% wachsen soll, um mit dem Vermögenswachstum Schritt zu halten, so würden wir künftig alle 14 Jahre das Doppelte von heute produzieren: 2017 also 48.000 Euro pro Kopf. Das klingt nur auf den ersten Blick wünschenswert, denn es würde doppelt so viele Autos, Fernseher, Energie und damit vermutlich auch doppelt so viel Kohlendioxid bedeuten. Haben wir uns das gründlich überlegt?

Deflation ist (k)ein Naturgesetz!

Bereits im März waren die Anzeichen für eine kommende Deflation zu erkennen, doch erst in den letzten Wochen befassen sich Presse und Politiker mit dem Phänomen, welches dafür sorgt, dass Preise sinken. Steigende Unsicherheit und sinkende Preise veranlassen die potentiellen Konsumenten jedoch, ihr Geld zu sparen und auf weiter sinkende Preise zu spekulieren. Der Absatz stockt, die Firmen senken die Preise und entlassen die Arbeiter. Die Unsicherheit steigt, Angstsparen statt Konsum führt zu weiterer Vermögens- und damit Schuldenbildung: Eine Spirale ohne Ende, ja man spricht bereits von drohenden "japanischen Zuständen" (Japan fürchtet neue Bankenkrise).

Eine Lösung des Problems ist nach offizieller Lesart nicht vorhanden, aber es beginnt langsam das Zweifeln der Noten-Banker an ihren Theorien. Dabei ist die geldpolitische Ursache offensichtlich: Weil die Leute ihr Geld zurückhalten, anstatt es auszugeben, sinken die Preise. Könnte man dieses Zurückhalten verhindern, würde das Deflations-Problem gelöst.

Da ohne wirtschaftliche Entspannung auch die finanzielle Lage des Staates nicht besser wird, ist zu befürchten, dass durch frisch gedrucktes Geld nicht nur die Schulden des Staates bedient werden, sondern auch auf diesem Wege aus der Deflation eine Inflation wird. Dass diese als "Kollateralschaden" die Geldvermögen gleich mit entwertet, ist nicht wirklich zu begrüßen - immerhin geht es bei vielen "Kleinsparern" um ihre Lebensarbeit.

Doch es ginge vielleicht auch anders:

Die Freiwirtschaftstheorie

Erhebt man eine Steuer, Umlaufsicherungsgebühr genannt, auf kurzfristige Geldanlagen und Bargeld, so wären die Marktteilnehmer bestrebt, ihr Geld entweder zu verkonsumieren oder langfristig zu einem Zins von 0% anzulegen - um der Gebühr zu entgehen. Auf diesen kurzen Satz kann man die Forderung der Vertreter der Freiwirtschaftstheorie zusammenfassen.

Demzufolge würde nicht nur die Deflationsspirale beendet, weil die Menschen ihr Geld wieder dem Geldkreislauf zur Verfügung stellen würden, sondern auch die Umverteilungsmaschinerie durch exponentielles Vermögenswachstum gestoppt (dank Zinsen von 0%!), der Wachstumszwang der Volkswirtschaften hätte ein Ende und Geld würde nicht mehr nur dahin fließen, wo schon welches ist, sondern dahin, wo es gebraucht wird: Bisher entfällt jede Investition, die keinen Profit abwirft, weil man auf der Bank ja mindestens ein paar Prozent Zinsen erhält. Bei 0% Geldanlagezinsen ist jede Investition rentabel, die wenigstens ihren Einsatz zurückbringt. Wären Kindergärten, Unis, Entwicklungshilfe, Umweltschutz etwa endlich rentabel?

Dieser Ausblick hört sich wie ein Märchen aus 1001 Nacht an - und wird es auch bleiben, so lange eine öffentliche Diskussion über die Freiwirtschaftstheorie ausbleibt. Eine Theorie, die im Gegensatz zu unseren zahlreichen Politikern und Wirtschaftsexperten nicht nur Erklärungen für die Ursachen unserer Wirtschaftsprobleme bietet, sondern auch eine vergleichsweise praktikable Lösung aufzeigt: Steuern auf Geld.

Mit dieser kurzen Vorstellung der Freiwirtschaftstheorie ist es aufgrund der Komplexität leider nicht gemacht. Verwiesen sei deshalb auf die Kritik an der Theorie, die Antwort auf die Kritik, auf das erfolgreiche "Freigeld-Experiment" von Wörgl während der Weltwirtschaftskrise und natürlich auf Ausführungen zur Freiwirtschaftstheorie selbst.