Die Pose des Protests - Laizismus als Symbol der Verwestlichung

India Gate - ein indisches Monument verschwindet im Smog der Hauptstadt. Bild: Christian Hobbie (2019)

Indien und die Türkei galten lange als Paradebeispiele der laizistischen Staatsdoktrin. Doch der religiöse Nationalismus der aktuellen Autokraten ist anschlussfähig und stützt sich auf alte Missverständnisse.

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Verwundert erkennen die politischen Beobachter Asiens die beängstigenden Parallelen der türkischen und indischen Rückabwicklung fortschrittlicher Demokratien und ihrer Verfassungen. Die Missverständnisse des Westens zeigen sich bereits bei der Perzeption des Orients als politischen Raum.

Dass die stolzen Gesellschaften eigene Wege in die Moderne suchen, konnte nicht überraschen. Doch die emanzipatorischen Debatten individueller Entwicklungspfade moderner Staatskonzeptionen wurden erfolgreich durch Autokraten gekapert. Für die Lebenswirklichkeit vieler Menschen ist der religiöse Nationalismus anschlussfähiger als ein westlicher Moralkomplex, der nicht wirklich in diese Welt zu passen scheint.

Indien und die Türkei sind grundsätzlich unterschiedliche Staaten mit einer individuellen Ideengeschichte und einer heterogenen Bevölkerung. Während die Kolonial- und Teilungsgeschichte Indiens gesellschaftliche Konflikte bis heute prägt, ist der Zerfall des Osmanischen Reichs, des letzten großen identitätsstiftenden islamischen Herrschaftsgebildes, konstitutiv für das Selbstverständnis und die Ansprüche der Türkei und seiner Bevölkerung. Dennoch lassen sich die Mechanismen vergleichen, welche die Etablierung autokratischer Herrschaft im Zuge eines religiösen Nationalismus legitimieren.

Die Inszenierung nationalistischer Politik als Schutzschild gegen eine vermeintliche Verwestlichung der Gesellschaft gerät zur charismatischen Pose, die implizit zur Rechtfertigung autokratischer Herrschaft mitschwingt. Vergleichbar mit dem Duktus des Protests gelingt es, Dazugehörigkeit, Haltung und Verhalten in einer ablehnenden und abgrenzenden Pose zu stabilisieren.

Ideologische Missverständnisse

In einem viel beachteten Werk mit dem passenden Titel "The Passing of Traditional Society" prophezeite der amerikanische Soziologe David Lerner einigen Gesellschaften des Orients schon in den 1950er-Jahren eine gesellschaftliche Emanzipation nach westlichem Vorbild, die nie eintrat. Lerners deterministische und eurozentrische Modernisierungstheorie steht exemplarisch für eine Geisteshaltung, die den Widerspruch nicht-westlicher Intellektueller geradezu herausforderte und die Grundlage für anti-westliche Ressentiments bildete.

Die politischen Missverständnisse spiegeln sich in den theoretischen Vorannahmen des Laizismus, die teilweise konträr interpretiert werden. Die Perzeption des Säkularismus als strikte Trennung von Staat und Religion, die westliche Intellektuelle grundsätzlich voraussetzen, wird von östlichen Denkern häufig negiert. Der renommierte indische Theoretiker Rajeev Bhargava beschrieb kürzlich das ambivalente Verhältnis indischer Intellektueller zum Säkularismus, das mit der Formel "Kritischer Respekt und prinzipieller Abstand" auf den Punkt gebracht werden kann.

Der Säkularismus eignet sich besonders gut, um das divergente Verständnis von Staatskonzeptionen in nicht-westlichen Gesellschaften zu verdeutlichen. Außerhalb des europäischen Kulturkreises wird häufig argumentiert, dass der Säkularismus eine Erfindung der westlichen Zivilisation sei und impliziert, dass er anderen Kulturen nicht aufgezwungen werden könne.

Auf dieser ideologischen Grundlage kann die aktuelle Kritik an der laizistischen Staatskonzeption in Indien und der Türkei an traditionelle Strömungen anknüpfen. Während die indische Regierungspartei Bharatiya Janata Party (BJP) an die Hindutva-Ideologie anschließt, tendiert die AKP unter Staatspräsident Erdogan immer deutlicher zu einer islamistischen Politik.

Die Türkei und der Zerfall des Osmanischen Reiches

Von der Gründerzeit bis zum Zerfall des Osmanischen Reiches war politische Herrschaft in der islamischen Welt stets auch an religiöse Autorität gebunden. Diese Konvergenz bestimmt ein islamistisches Selbstverständnis, das gesellschaftliche und politische Strukturen determiniert. Das Auseinanderbrechen des letzten traditionellen islamischen Großreichs nach dem Ende des 1. Weltkriegs ist eine einschneidende Erfahrung der islamischen Welt und hat die Entstehung des Islamismus als politische Ideologie geprägt. Es ist kein Zufall, dass Erdogan sich als großer muslimischer Führer in der Tradition des Osmanischen Reiches inszeniert.

Während sich die islamistische Ideologie vor allem aus Ägypten verbreitete, setzte sich in der Türkei eine neue Staatskonzeption durch. Indem der damalige Staatspräsident Mustafa Kemal Atatürk konsequent mit der islamischen Tradition in der Politik brach, schuf er die Grundlage für einen modernen Staat, dessen westliches Vorbild jedoch kaum kulturell verankert war.

Obwohl die laizistische Staatsdoktrin über einen starken Rückhalt in der Gesellschaft und ihren Institutionen verfügt, konnte sie zu keiner Zeit alle Bereiche der türkischen Gesellschaft erfassen. Eine islamistische Politik war stets bis zu einem gewissen Grad anschlussfähig. Auf dieser Basis gelang es dem Religiösen durch die AKP, das Politische erneut zu okkupieren, wie es die Islamwissenschaftlerin Susanne Schröter formulierte.

Die Politik der AKP wendet sich gegen die laizistische Tradition Atatürks. In einer Entscheidung des Verfassungsgerichts entging die damalige und heutige Regierungspartei im Jahr 2008 nur äußerst knapp einem Parteiverbot. Dennoch kann ein konvergentes Verständnis von Religion und Politik in weiten Teilen der Türkei auf Zustimmung hoffen.

Indien und die Utopie des heterogenen Nationalstaats

Der Traum eines hindu-dominierten Nationalstaats Indien reicht bis in die Kolonialzeit zurück. Die schmerzvolle Teilung des vormaligen Britisch-Indiens hat tiefe Wunden hinterlassen, die bis heute nicht verheilt sind.

Aus der laizistischen Verfassung der Gründerväter Indiens lassen sich diese Erfahrungen herauslesen. Die traditionell säkular orientierte Kongresspartei hat dieses Erbe als stärkste politische Kraft stets verteidigt. Dennoch wurden kulturelle und identitäre Fragen implizit mitdiskutiert und überlagerten die Tagespolitik und die Gesetzgebung. Das sogenannte Personal Law erlaubt jeder religiösen Gruppe eigene religionskonforme Gesetzgebungen.

Mit der Anknüpfung an die Hindutva-Ideologie konnte sich die BJP um die Jahrtausendwende als politischer Gegenspieler der Kongresspartei etablieren und 2014 die Regierung des heterogenen Staates übernehmen. Seit der Wiederwahl des Premierministers Narendra Modi im letzten Jahr setzt die Regierung die anti-muslimische Rhetorik immer deutlicher in konkrete Politik um.

Nachdem im Dezember 2019 eine Reform des Einwanderungsgesetzes massiven Protest auslöste, Universitäten gestürmt und oppositionelle Studenten angegriffen wurden, verstetigt sich die anti-muslimische Politik der BJP im Zuge der Pandemie unauffälliger. Die umstrittene und symbolträchtige Einweihung eines Hindu Tempels in Ayodhya, dem Ort, an dem 1992 die bedeutende Babri-Moschee durch radikale Hindus zerstört wurde, ist die jüngste Provokation und eine Machtdemonstration fanatischer Hindu-Nationalisten.

Die diskriminierende Politik der aktuellen Regierung richtet sich zwar vor allem gegen die große muslimische Minderheit im eigenen Land, doch eine anti-westliche Pose läuft zur Legitimierung stets mit. Die kulturelle Hegemonie des Hinduismus schließe andere Religionen nicht aus, sondern bilde einen gemeinsamen Schild gegen die Verwestlichung Südasiens. Jeder Inder solle für ein ambitioniertes und selbstbewusstes Indien eintreten.