Die Psychologie von "Terror"
Das psychologische, moralische und rechtliche Dilemma
Im ersten Teil ("Terror" im Fernsehen) wurde die Inszenierung einer gefährlichen Debatte auf der Grundlage des Theaterstücks von Schirachs dargestellt. In der Diskussion wurde bisher kaum erwähnt, dass sich der Dramatiker eines Dilemmas bedient hat, das in den Rechtswissenschaften, der Moralphilosophie und sogar Psychologie und Hirnforschung seit Jahrzehnten untersucht wird. Diese Hintergründe des umstrittenen Flugzeugabschusses werden hier nachgeliefert.
Der Dramatiker von Schirach wählte für "Terror" eine Konstellation, in der der Pilot keinen Schießbefehl von oben bekam, sondern vor Ort im Kampfflugzeug aus eigenem Ermessen handelte. Damit sind die verfassungsrechtlichen Fragen eigentlich vom Tisch: Der Pilot hat in jedem Fall ohne gesetzliche Grundlage den Tod von 164 unschuldigen Passagieren zuzüglich der Crewmitglieder in Kauf genommen, um von den 70.000 Stadiongästen eine Gefahr abzuwenden.
Dabei hat sich von Schirach einer Dilemmakonstruktion bedient, die viel älter ist als die gegenwärtige Terrorismusbedrohung: Es dürfte sich bei den entsprechenden Untersuchungen des US-amerikanischen Hirnforschers Joshua Greene zum moralischen Urteilen sogar um das berühmteste neurowissenschaftliche Experiment des 21. Jahrhunderts handeln (die Libet-Experimente zur Willensfreiheit wurden um 1980 durchgeführt).
Hirnforscher untersuchen moralisches Urteilen
Auch wenn Greene und seine Kollegen in dem zufälligerweise nur wenige Tage nach den Anschlägen auf das World Trade Center und das Pentagon, nämlich am 14. September 2001, in Science veröffentlichten Experiment so gut wie alles falsch gemacht haben, wurde damit sozusagen die Moralpsychologie wiedergeboren, was sich bis heute auf Wissenschaft und Ethik auswirkt.
Ganz so wie bei der eingangs erwähnten Inszenierung in Dresden, mussten die Versuchspersonen Dilemmasituationen entscheiden - eine Möglichkeit der Enthaltung war nicht vorgesehen. Aus experimentellen Gründen mussten sie für die Neurowissenschaftler jedoch rund 60 Fälle hintereinander beantworten. Viele davon waren gemäß dem sogenannten Weichenstellerproblem gestrickt:
Varianten des Weichenstellerproblems
Die Entwicklung dieses Dilemmas wird häufig der britischen Moralphilosophin und Tugendethikerin Philippa Foot (1920-2010) zugeschrieben. Eine berühmte Variante stammt von der früheren Philosophieprofessorin am MIT Judith Jarvis Thomson (geb. 1929), in der zur Rettung der fünf Opfer ein dicker Mann vor den Zug geschubst werden kann - in der Erwartung, dass durch dessen Gewicht das Gefährt gestoppt wird. Tatsächlich diskutierte aber der frühere Bonner Professor für Strafrecht Hans Welzel (1904-1977) das Weichenstellerproblem schon in seinem rechtsphilosophischen Buch "Naturrecht und materiale Gerechtigkeit" aus dem Jahr 1951.
In diesen und weiteren Varianten - man denke an einen Arzt, der mit der Organentnahme eines gesunden Menschen das Leben fünf todkranker Patienten retten kann - geht es stets um das Opfern weniger für das Wohl vieler Menschen. In jedem Falle sterben Menschen; es steht nur noch nicht fest, wer und wie viele. Oft wird das Dilemma dadurch verstärkt, dass vielleicht nur wenige Minuten oder gar Sekunden für eine Entscheidung zur Verfügung stehen.
Gefühlsunterschiede
Greene und Kollegen ging es Anfang der 2000er vor allem um die Frage, warum die Mehrheit der Befragten im Falle des Weichenstellens die Rettung der Vielen befürwortet, dies im Fall des Schubsens vor den Zug aber ablehnt. Obwohl sich später herausstellte, dass die Analysen der Forscher fehlerbehaftet waren - in Science stehen sie unkommentiert bis heute -, hält Joshua Greene an einem Modell fest, das diesen Unterschied auf das emotionale Erleben der Menschen zurückführt.
Demnach könnte sich die Mehrheit der Menschen nicht über eine Tötungshemmung hinwegsetzen, wenn das Menschenopfer "up close and personal" sei, also nah und persönlich. Im Falle des Weichenstellens gebe es jedoch keine solche Hemmung und obsiege die Vernunft - oder das, was Greene dafür hält. Schützenhilfe bekam er dafür vom weltberühmten Utilitaristen Peter Singer von der Princeton University (Moral aus dem Gehirnscanner).
Moralphilosophie oder Gefühl?
Nur nebenbei sei erwähnt, welche Positionen Ethikerinnen und Ethiker hierzu entwickelt haben: Für Utilitaristen wie Singer und wohl auch Greene geht es um die Maximierung des Glücks der größten Zahl. Da es in den genannten Konstellationen immer eine Mehrheit gibt, die gerettet werden kann, ist dies die utilitaristisch bevorzugte Lösung: also sowohl die Weiche umstellen als auch den Mann vor den Zug schubsen.
Dabei hat man dieser Position schon oft vorgeworfen, dass sie kein gutes Argument gegen das Töten liefert. Demzufolge ist jeder und jede zum Abschuss freigegeben, wenn das dem Glück beziehungsweise Überleben einer Mehrheit nutzt. Singer entwickelte darum selbst den sogenannten Präferenzutilitarismus, in dem Lebewesen mit Personenstatus - dafür gehören für ihn auch bestimmte Tiere - besonderen Schutz genießen (Wie man in Deutschland nicht mehr mundtot gemacht wird). Dann dürfte man den dicken Mann aber wohl nicht mehr schubsen, um fünf Menschenleben zu retten.
Pflicht- und Verbotsethik
Pflichten und Verbote kennzeichnen sogenannte deontologische Positionen, von denen die Ethik Immanuel Kants die bekannteste sein dürfte. Sein kategorischer Imperativ verbietet die reine Instrumentalisierung eines Menschen. Damit ist das Schubsen vom Tisch, denn der Mann, auf dessen Kosten die Leben anderer gerettet werden, würde so zum bloßen Objekt gemacht. Schwieriger ist der Weichenstellerfall, da man hier argumentieren könnte, den Tod der Minderheit wider Willens in Kauf zu nehmen.
Ähnlich sieht Letzteres das Prinzip der Doppelwirkung, das in der theologischen Ethik seit Thomas von Aquin (1225-1274) eine große Rolle gespielt hat: Negative Folgen können demnach akzeptiert werden, wenn sie nicht beabsichtigt sind. Auf den klassischen Fall hierfür verwies auch Franz Josef Jung bei "Hart aber Fair", ohne jedoch die ethische Pointe zu verraten. So wurde es lange Zeit nach der katholischen Doktrin akzeptiert, eine gebärende Frau sterben zu lassen (unbeabsichtigte Folge), wenn man sonst das Kind töten müsste (aktives Handeln).
Von Schirach konstruierte einen Mischfall
Die Variante von Schirachs für das Theaterstück "Terror" ist somit, psychologisch gesehen, eine Mischung zwischen dem klassischen Weichenstellerfall und dem Fall mit dem Schubsen. Der Bundeswehrpilot ist zwar nicht so nah wie die Person, die jemanden eigenhändig vor den Zug schubst; er schießt aber selbst die tödliche Rakete ab, was wiederum direkter ist als das bloße Umstellen einer Weiche.
Moralphilosophisch handelt es sich beim Flugzeugabschuss aber um ein aktives Töten. Darauf, den Tod der unschuldigen Passagiere nur unbeabsichtigt in Kauf genommen zu haben, wird sich der Pilot wohl kaum berufen können. Damit kann er das Dilemma eigentlich nur utilitaristisch lösen: Die Lebensgefahr der 70.000 Menschen im Stadion wiegt höher als das Leben der rund 170 Menschen an Bord der entführten Maschine.
Häufiges Umentscheiden beim Publikum
Die neueren psychologischen Erklärungen für die Entscheidungen der Dilemmata zielen, wie gesagt, vor allem auf die Gefühle. Dass der Verlauf der Gerichtsverhandlung in von Schirachs Stück und die damit verbundenen Gefühle der Zuschauerinnen und Zuschauer deren Meinung beeinflusst, untersuchte die ARD übrigens bei einer ausgewählten Gruppe von zwölf Personen. Diesen wurde der Film vorab gezeigt. Dabei konnten sie mit einer Art Fernbedienung für jeden Moment bestimmen, ob sie für schuldig oder nicht schuldig waren.
Zwar waren am Ende neun von ihnen beziehungsweise 75 Prozent für nicht schuldig. Es kam jedoch im Laufe des Films 28-mal zu Umentscheidungen. In Plasbergs Sendung wurde gezeigt, dass beispielsweise die Befragung der Ehefrau über den Tod ihres Mannes, der an Bord der abgeschossenen Maschine war, oder ein Plädoyer der Staatsanwältin für die Menschenwürde einige der Zuschauerinnen und Zuschauer - zumindest vorübergehend - auf die Seite für schuldig wechseln ließen.
Spiel mit den Gefühlen
Mit diesem emotionalen Konflikt, dass alle verfügbaren Alternativen Menschenleben kosten, spielen natürlich sowohl Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die moralisches Urteilen untersuchen, als auch der Dramatiker von Schirach. Dabei lässt sich der Preis auf der Seite der Opfer theoretisch beliebig steigern: Würden Sie eine Person opfern, um damit fünf, tausend, 70.000, 80 Millionen, sieben Milliarden zu retten?
Wohl kaum jemand würde in letzter Konsequenz alle Konstellationen ablehnen, frei nach dem Grundsatz fiat iustitia et pereat mundus, es geschehe Gerechtigkeit und gehe die Welt darüber zugrunde. Es macht aber einen Wesensunterschied, ob, wie in den Dilemmafällen, eine Einzelperson in einer unabwendbaren Gefahrenlage eine Entscheidung trifft, oder der Staat Personengruppen zum Abschuss freigibt.
Hier wurden die psychologischen, moralphilosophischen und rechtswissenschaftlichen Fragen voneinander unterschieden. Im dritten und letzten Teil wird es darum gehen, wieso sich Deutschland durch die Vermischung dieser Ebenen auf eine schiefe Ebene begibt, in der nichts weniger als der Kern des Grundgesetzes auf dem Spiel steht.
Bei Telepolis erschien bereits das Buch "Die Neurogesellschaft", in dem Stephan Schleim die hier besprochenen moralischen Problemfälle ausführlicher diskutiert. Dabei steht die Frage im Mittelpunkt, wie neuere Befunde aus der Hirnforschung Recht und Moral herausfordern.
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