Wie man in Deutschland nicht mehr mundtot gemacht wird
Ethikpreis für die Tierrechtler Peter Singer und Paola Cavalieri
Die Giordano-Bruno-Stiftung verlieh erstmals ihren Ethikpreis. Das Preisgeld erhielten die zwei Initiatoren des Great Ape Projects für Grundrechte von Menschenaffen. Vertreter von Behindertenverbänden protestierten gegen die Auszeichnung des in Deutschland umstrittenen Philosophen Peter Singer (Humanist oder Tötungsphilosoph?). Die Preisverleihung sowie eine Podiumsdiskussion am Folgetag zum Thema Hirnforschung und Moral konnten jedoch anders als vor zwanzig Jahren weitgehend störungsfrei durchgeführt werden.
Am 3. Juni wurden Peter Singer, Professor für Moralphilosophie an der Princeton-Universität (USA), und die italienische Philosophin Paola Cavalieri mit dem Ethikpreis der Giordano-Bruno-Stiftung (GBS) ausgezeichnet. Die Preisverleihung fand in den Räumlichkeiten der Deutschen Nationalbibliothek in Frankfurt am Main statt. Die GBS würdigte damit den Einsatz der beiden Akademiker für Grundrechte von Menschenaffen. Im Jahr 1993 haben die Preisträger das Great Ape Project initiiert. Peter Singer gilt seit der Veröffentlichung seines Buchs "Animal Liberation" (dt. "Die Befreiung der Tiere") im Jahr 1975 als einer der intellektuellen Führer der Tierrechtsbewegung.
Probleme in Deutschland
In Deutschland ist Singer jedoch Ende der 1980er, Anfang der 1990er Jahre durch seine Diskussion bioethischer Problemstellungen in die Kritik geraten. Seinem im Buch "Praktische Ethik" vertretenen Präferenz-Utilitarismus zufolge sind die Interessen von Personen sowie die Leidensfähigkeit von Lebewesen für die moralische Bewertung von Handlungen zentral. Wie allgemein bei utilitaristischen Ethiken werden Glück und Leid gegeneinander abgewogen und wird diejenige Handlung als moralisch richtig angesehen, die das größte Glück und das geringste Leid zur Folge hat. Dabei legen Utilitaristen Wert darauf, dass das Glück beziehungsweise Leid aller Betroffenen gleich viel zählt, also beispielsweise Geschlecht, Herkunft oder sozialer Status bei der Abwägung keine Rolle spielen.
Auf die Frage der Sterbehilfe unheilbar kranker und leidender Menschen kam Singer damit zu der Antwort, dass ein Sterbewunsch unter bestimmten Umständen zu unterstützen sei. Ferner leitete er aus seiner Ethik ab, dass die schmerzlose Tötung beispielsweise eines ohne Gehirn geborenen und damit nie bewusstseinsfähigen Babys oder eines Neugeborenen mit schwerster Behinderung ohne realistische Überlebenschance unter bestimmten Bedingungen zulässig sei. Diese Sichtweise bricht mit traditionellen christlichen Doktrinen wie der Heiligkeit allen menschlichen Lebens. Für Peter Singer selbst folgt jedoch aus der bloßen Zugehörigkeit zur Spezies Mensch keine ethische Sonderbehandlung. Im Gegenteil vergleicht er diese unter dem Stichwort "Speziesismus" mit unmoralischen Haltungen wie dem Rassismus oder Sexismus.
Zahlreiche Veranstaltungen im deutschsprachigen Raum, auf denen diese Thesen diskutiert werden sollten, wurden damals vor allem von Vertretern von Behindertenverbänden sowie linken Gruppierungen verhindert (Schonung der Tiere, Euthanasie für schwer behinderte Kinder?). Auch deutsche Professoren wie Georg Meggle (Universitäten Saarbrücken und Leipzig, Schwierigkeiten der Medien mit der Philosophie) oder Norbert Hörster (Universität Mainz), die sich für eine freie Diskussion von Sterbehilfe und anderen ethischen Herausforderungen in der Medizin einsetzten, wurden infolge öffentlicher Proteste von zahlreichen Veranstaltungen ausgeladen oder gar persönlich bedroht. Singer widmet diesen Erfahrungen in "Praktische Ethik" einen Anhang mit dem Titel "Wie man in Deutschland mundtot gemacht wird".
Ironischerweise haben aber gerade die Proteste, Blockaden und Pfeifkonzerte zu einer viel weiteren Verbreitung seiner Thesen geführt, als hätte man die Philosophen und Wissenschaftler auf ihren Konferenzen und Fachtagungen unter sich diskutieren lassen.
Erneut Proteste gegen Peter Singer
Auch zwanzig Jahre später nahmen einige Gegner Peter Singers den Preis zum Anlass für Proteste. Hubert Hüppe (CDU), Beauftragter der Bundesregierung für die Belange behinderter Menschen, verglich die Thesen des Philosophen mit nationalsozialistischem Gedankengut und forderte die Nationalbibliothek dazu auf, die Preisverleihung in ihren Räumlichkeiten zu untersagen oder sich wenigstens deutlich davon zu distanzieren.
Michael Schmidt-Salomon, Sprecher der GBS, forderte daraufhin umgekehrt eine Entschuldigung Hoppes oder dessen Rücktritt. Der Aufruf des Politikers zeuge nicht nur von mangelnder Sachkenntnis und Achtung einer offenen Gesellschaft, sondern stelle sogar eine Rufmordkampagne dar.
Tatsächlich nannte Hüppe Peter Singer einen "Tötungsphilosophen" und sprach das Nachrichtenportal der Kooperation Behinderter im Internet e.V. selbst von "Mord-Philosophen".
Die Verantwortlichen der Deutschen Nationalbibliothek ließen sich durch die Proteste jedoch nicht dazu bringen, die Veranstaltung abzusagen. Am Abend der Preisverleihung verteilten einige Protestierende Flugblätter gegen Singer, die insbesondere von Anne-Dore Stein, Professorin für Heilpädagogik von der Evangelischen Hochschule Darmstadt, unterzeichnet waren.
Die Vorwürfe gegen Singer überraschen aus mehreren Gründen: Seine Ethik lässt sich gemäß dem Grundsatz "Gleiche Rechte bei gleichen Interessen" gerade auch gegen die Diskriminierung Behinderter einsetzen - ebenso wie gegen Rassismus oder Sexismus. Die Nazi-Vergleiche gehen darüber hinweg, dass der Philosoph selbst aus einer Rabbinerfamilie stammt, seine Eltern 1938 vor den Nazis nach Australien fliehen mussten und drei von vier seiner Großeltern in deutschen Konzentrationslagern starben.
Ferner setzt sich der sogenannte "Tötungsphilosoph" mit seiner neuen Initiative The Life You Can Save für Spenden für Arme ein. Gemäß seiner auch im Buch "Leben retten" vertretenen These könnten Spenden von 5% des Einkommens - bemessen an einem Jahresverdienst von 100.000 US-Dollar, entsprechend weniger bei niedrigerem Einkommen - sofort zur Rettung von acht Millionen Kindern pro Jahr beitragen. Diese stürben zurzeit an mangelnder Nahrung und medizinischer Versorgung. Oft könnten bereits Medikamente für weniger als einen Euro ein Leben retten. Außerdem ging es bei der Preisverleihung nicht um Singers Ansichten zur Sterbehilfe, sondern um seinen Einsatz für Tierrechte.
Rechte für Menschenaffen
Der mit 10.000 Euro dotierte Ethikpreis wurde in diesem Jahr zum ersten Mal von der GBS vergeben. Laut dem Stiftungssprecher will man damit die Entwicklung positiver Alternativen im Sinne des evolutionären Humanismus auszeichnen. Singer und Cavalieri seien auch in der Tradition des Philosophen Giordano Bruno, nach dem die Stiftung benannt ist, ideale Preisträger. Denn auch Bruno, der im Jahr 1600 von Kirchenvertretern verbrannt wurde, habe die herrschende Meinung in Zweifel gezogen und aufzuzeigen versucht, dass die Mehrheitsmeinung nicht immer die wahrste Meinung sei.
Zum Auftakt der Preisverleihung wurden die Besucherinnen und Besucher mit emotional besetzen Fotos der Reihe "Bruder Schimpanse, Schwester Bonobo" der Fotografin Jutta Hof, die beispielsweise sich die Hände reichende Schimpansen oder eine ihr Baby säugende Orang-Utan-Mutter zeigte, auf den Festakt eingestimmt.
Schmidt-Salomon begründete daraufhin die Auszeichnung dreifach: Erstens zeige das Great Ape Project, was es heiße, das fundamentale Prinzip der säkularen Ethik ernst zu nehmen, nämlich die Gleichstellung gleicher Interessen. Es könne nicht richtig sein, die Interessen leidensfähiger Menschenaffen zu ignorieren, bloß weil sie nicht zur Spezies Mensch gehörten. Zweitens sei das Projekt ein Türöffner für weitergehende Forderungen der Tierrechtsbewegung. Da unsere Bewusstseins- und Empfindungsfähigkeit evolutionär entstanden sei, würden auch andere Tiere darüber verfügen. Drittens werde dadurch verdeutlicht, dass wir Menschen ein Teil der Natur seien und nicht über ihr stünden. Das Great Ape Project biete daher die Chance, unser "größenwahnsinniges Weltbild" ad acta zu legen.
Danach zeigte Volker Sommer, Professor für Evolutionäre Anthropologie am University College London, Videos zur Dokumentation der kognitiven Fähigkeiten von Menschenaffen. Beispielsweise könnten Schimpansen verschiedene Stöcke als Werkzeuge gebrauchen, um erst nach Termiten zu bohren und danach an einer geeigneten Stelle nach ihnen zu "angeln". Der Bonobo Kanzi könne nicht nur Sätze der englischen Sprache verstehen, sondern nach Anleitung durch einen Anthropologen auch einen Stein zur Herstellung eines anderen Werkzeugs gebrauchen oder Pacman spielen.
Die Laudatio auf die Preisträger hielt schließlich Colin Goldner, Psychologe, Schriftsteller, Mitglied der GBS und erklärter Veganer. Er ließ einige Stationen des Great Ape Project Revue passieren, beispielsweise den ersten Erfolg 1999, als das Experimentieren an Menschenaffen in Neuseeland verboten wurde. Seitdem sei das Projekt jedoch nur schleppend vorangekommen. Ein Gesetzesvorhaben zu Grundrechten für Menschenaffen in Spanien sei zum Erliegen gekommen; mehrere Versuche, Menschenaffen von einem Gericht als rechtliche Personen anerkennen zu lassen, seien gescheitert. Goldner äußerte aber die Hoffnung, dass Deutschland jetzt zum Ausgangspunkt für die Bewegung werden könnte, und erinnerte an einen entsprechenden früheren Beschluss der Grünen sowie eine aktuelle parlamentarische Anfrage der Linken. Außerdem kritisierte er Religion als Ausdruck der Herrschaft von Menschen über Menschen und insbesondere der Herrschaft über Tiere.
Seine Dankesrede begann Peter Singer nach einem langen Applaus vor dem prall gefüllten Saal der Deutschen Nationalbibliothek zunächst auf Deutsch. Den Preis der deutschen Stiftung akzeptiere er auch im Namen seiner geflohenen Eltern sowie der von Nazis umgebrachten Großeltern. In englischer Sprache fasste er dann die Kernpunkte seiner Philosophie zusammen: Es gehe ihm um die Gleichberechtigung der Interessen aller empfindungsfähigen Lebewesen. Alle Lebewesen, die erleben und fühlen könnten, hätten Interessen und wir sollten diesen ohne Berücksichtigung von Geschlecht, Rasse oder Spezies in gleicher Weise Wert beimessen. Es sei falsch, dass er den Menschenaffen Rechte einräumen wolle, die nicht auch behinderten Menschen zukommen sollten. Es gebe jedoch Situationen, in denen die Aussicht auf ein zukünftiges Leben ohne Leiden so gering sei, dass Sterben eine bessere Alternative sei.
In Teil 2 werden die Ansichten Peter Singers ausgeführt, inwiefern Ergebnisse aus der Psychologie und Hirnforschung Fragen nach dem richtigen moralischen Handeln beantworten können.
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