Die Qualle als Königin der Meere
Groß und gemütlich schlägt klein und flink: Quallen sind erstaunlich effiziente Räuber, die gerade dabei sind, die Fische als Könige der Meere abzulösen
Es ist ein erhebendes Bild, ihr bei der Bewegung in der freien Wildbahn zuzusehen. Wie schwerelos gleitet sie durch das Salzwasser. Der durchsichtige Körper wirkt ätherisch. Sie scheint der Strömung ausgeliefert - und gehört doch zu den effizientesten Meeresräubern, wie eine Studie der Biologen José Luis Acuña, Ángel López-Urrutia und Sean Colin zeigt, die das Wissenschaftsmagazin Science veröffentlicht. Seit über 500 Millionen Jahren bevölkern die Medusen die Weltmeere - und sind damit älter als ihre Konkurrenten, die Fische, deren erste Vorfahren rund 50 Millionen Jahre später auftauchten.
Das Medusenstadium ist nur ein Teil ihrer individuellen Entwicklungsgeschichte - aus den von den Quallen gebildeten Geschlechtszellen entstehen bei den meisten Arten zunächst Larven, die sich dann als Polypen festsetzen. Durch Abschnürung bildet sich daraus ein zweites Larvenstadium, das schließlich die eigentliche Qualle hervorbringt.
Quallen sind, auch wenn man ihnen das kaum zutraut, Räuber - sie ernähren sich von Kleinstlebewesen, die sie in Kontakt mit ihren Nesselfäden bringen müssen. Dazu erzeugen sie mit ihrem Schirm eine Strömung, die das Plankton auf den gewünschten Weg bringt. Diese Jagdmethode, die im Prinzip doch alles dem Zufall überlässt, erscheint eher ineffizient. Sie erinnert an die Bewohner des Schlaraffenlands, die nur darauf warten, dass ihnen die Nahrung in den offenen Mund fällt.
Tatsächlich jedoch haben Quallen in einigen Bereichen der Meere schon die Herrschaft übernommen, wenn es nach Biomasse und vor allem nach Nahrungsanteil geht. Dabei haben ihnen die Menschen geholfen, die ihre direkten Konkurrenten mit großen Schleppnetzen aus dem Meer gefischt haben. Die Qualle ist kein Leckerbissen - und darum wohl vorherbestimmt, zum künftigen Herrscher der Ozeane zu werden. Dazu ist es womöglich nicht einmal nötig, dass die Menschen die Meere weiterhin kräftig überfischen, denn die Medusen bringen von sich aus alle Voraussetzungen mit, die Fische als oberste Räuber abzulösen. Das zeigen Acuña, López-Urrutia Colin in ihrer schon zitierten Studie recht eindrücklich.
Zwar haben Fische einen Vorteil: Sie sehen die Beute und können sie direkt ansteuern, um sie zu verschlingen. Doch die Quallen müssen einfach nur dem Weg der Evolution folgen und stetig weiter wachsen. Wozu sie auf dem besten Weg sind, wenn man etwa die japanischen Nomura-Riesenqualle betrachtet: Die Zwei-Meter-Riesen bringen regelmäßig allein durch ihr Gewicht im Netz Fischerboote zum Kentern. Die drei Biologen zeigen nun in ihrer Arbeit, dass es genau zwei Voraussetzungen braucht, um auf Quallen-Art erfolgreich zu jagen.
Quallen erlegen zwar, auf ihre Größe bezogen, weit weniger Beute als Fische. Doch ihr Körper besteht auch nur aus etwa 1,5 Kilogramm Kohlenstoff pro Kubikmeter Körpermasse, während Wirbeltiere etwa 100 Kilogramm Kohlenstoff pro Kubikmeter enthalten. Für einen korrekten physiologischen Vergleich muss man deshalb Nahrungsausbeute pro Kohlenstoffeinheit in Relation setzen - der Wasseranteil der Qualle spielt ja für den Grundumsatz keine Rolle. In der Nahrungskette der Meere, das zeigen die Forscher quantitativ, sind die Jagdmethoden von Quallen und Fischen derzeit fast gleich effizient.
Allerdings steigt die Effizienz bei den Medusen, nicht aber bei den Fischen, wenn sich die Körpergröße erhöht. Das ist überraschend, weil sich dadurch auch der Bewegungsaufwand erhöht. Die Quallen lösen das Problem, indem sie sich einfach langsamer bewegen - im Mittel wie ein langsamer Fußgänger zwischen einem und drei Kilometern pro Stunde. Mathematisch lässt sich zeigen, dass sich die Effizienz der Nahrungssuche trotzdem erhöht - es ist deshalb zu erwarten, dass die Natur diesen Weg auch gehen wird. Der Nachteil dieser Optimierung - dass die Quallen auch leichter selbst zum Opfer werden - spielt keine Rolle mehr, wenn die riesigen Gleiter keine natürlichen Feinde mehr haben.