Die Reformation zum Anfassen: GNU/Linux und Open Source

Seite 6: Wie groß ist GNU/Linux?

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Die Natur des freien Betriebssystems macht es schwer, fundamentale Kenngrößen zu erfassen. Verkaufszahlen der einzelnen Distributionen sagen fast nichts über die eigentliche Verbreitung, da viele Nutzer nie eine Distribution kaufen oder mit einem Paket Dutzende oder gar Hunderte Rechner konfigurieren. Auch Umfragen sind problematisch, da Linux häufig an den Chefs vorbei (die oft der Microsoft-Rhetorik aufsitzen und Linux für eine Art Virus halten) in Unternehmen installiert wird. Webserver-Statistiken sind ebenfalls fragwürdig, da Linux-Browser sich oft als Windows-Browser ausgeben, um nicht auf Kompatibilitäts-Probleme zu stoßen. Sie bemessen außerdem nur den Einsatz von Linux auf dem Desktop, nicht auf dem Server.

Immerhin gibt es einen Linux-Counter, bei dem Linux-Nutzer sich registrieren lassen können. Etwa 190.000 User haben das bis Oktober 2001 getan - obwohl die Registrierung nicht Teil der Installation von Linux ist, außerdem die Eingabe einer gültigen Email-Adresse erfordert und nur per WWW möglich ist. Der Counter liefert auch wertvolle Statistiken z.B. über die geographische Verbreitung von Linux und erlaubt es, den Kontakt zu anderen Linuxern in der eigenen Region herzustellen.

1998 hat Red Hat, als Distributionshersteller nicht unbedingt unbefangen, in einem Paper die Zahl der Linux-Nutzer aufgrund verschiedener Daten weltweit auf 7,5 Millionen geschätzt. Mittlerweile liegen die Schätzungen teils deutlich höher, teils niedriger. Im Web hat Linux Windows bereits überholt. Google meldet im Oktober rund 37 Millionen Seiten mit dem Suchbegriff "Linux" und 33 Millionen mit dem Suchwort "Windows" (das deutlich weniger eindeutig ist). AltaVista bestätigt das Ergebnis mit rund halb so vielen Resultaten. Das zeigt zumindest, dass Linux-Nutzer an den Internetmedien einen überraschend hohen "Mindshare" halten, während Windows-Nutzer hier deutlich unterproportional ausfallen. Hier fällt sicher auch der starke Einsatz von Linux im akademischen Bereich und durch Power- wie Dauer-User ins Gewicht.

Größere Klarheit als bei der Frage der Verbreitung herrscht beim Umfang des Betriebssystems selbst. Einen guten Überblick liefert David Wheeler in dem Artikel Estimating GNU/Linux's Size: "Red Hat Linux 7.1 enthält über 30 Millionen Zeilen Quellcode. Mit Hilfe des COCOMO-Kostenmodells lässt sich eine Anforderung von 8.000 Mannjahren Entwicklungszeit errechnen." Würde man ein System dieser Größe kommerziell entwickeln, so Wheeler, müsste man dafür mindestens eine Milliarde Dollar ausgeben.

Linux Means Business

Eine Milliarde Dollar, das ist auch die Summe, die der größte IT-Konzern IBM in Linux investieren möchte. Seit der Ankündigung im Dezember 2000 hat sich tatsächlich einiges getan. Zu den Linux-Initiativen von IBM gehören:

  1. Der Aufbau von Linux-Clustern (parallel arbeitenden Systemen, die als Supercomputer fungieren) z.B. für den Ölmulti Shell (1024 Systeme), das National Center of Supercomputing Applications (600 Systeme) und das seismische Messunternehmen WesternGeco (256 Systeme).
  2. Der Einsatz von Linux an der Wall Street zur Versendung von Broker-Informationen (15 bis 20 Mrd. Transaktionen pro Tag)
  3. Eine massive Werbekampagne für Linux unter dem Motto "Peace, Love & Linux"
  4. Die Entwicklung und GPL-Lizenzierung des IBM-Dateisystems JFS für Linux
  5. Die Unterstützung von Linux auf Mainframes (Großrechner) mitsamt entsprechender Business-Software wie mySAP
  6. Die langfristige Ablösung von IBMs eigenem Unix AIX durch Linux
  7. Eine Investitionsspritze für den Linux-Distributor SuSE (vgl. Heise-Meldungen zu IBM/Linux)

Bereits vor der Milliarden-Ankündigung hat IBM mit der Portierung von Software und dem Aufbau von Linux-Clustern dem OS einigen Respekt verschafft. Natürlich handelt Big Blue nicht uneigennützig: Die Förderung von Linux anstelle hauseigener Lösungen ermöglicht es IBM, gleichzeitig Linux als Standard und sich selbst als das dazugehörige Unternehmen zu etablieren. Denn die Entwicklung von "Solutions", maßgeschneiderten Hard- und Software-Lösungen, ist IBMs Kerngeschäft, und neben Expertise zählt hier vor allem Marketing. Ganz nebenbei kann IBM auf diesem Wege Unternehmen wie Sun und Microsoft, die auf eigene, meist proprietäre Lösungen setzen, ins Abseits drängen.

"Peace, Love and Linux" verheißt IBM von Gebäudewänden und Bürgersteigen.

Ob das gelingt, hängt vor allem davon ab, ob IBM es schafft, Manager von der Ernsthaftigkeit des Unterfangens zu überzeugen. Kampagnen wie "Peace, Love and Linux" zielen klar auf die Allgemeinheit, was darauf deutet, dass IBM Linux auch auf dem Desktop etablieren möchte. Unauffälliger wird IBM das Betriebssystem in seine eBusiness-Lösungen integrieren und so als unvermeidliche Standardplattform für den Server verbreiten. Klar ist: Linux hat sich eindeutig als sicheres Unix für unternehmenskritische Anwendungen bewährt - und das auch in Anwendungsbereichen, in denen Windows keine ernstzunehmende Alternative darstellt.

Riese in Bedrängnis

In vielen Bereichen, insbesondere in denen, die für das Internet relevant sind, liegen Microsofts Lösungen derzeit hinter der Konkurrenz zurück oder sind nicht profitabel. Microsofts Webserver IIS lag laut der regelmäßig aktualisierten Netcraft-Studie im September 2001 mit 28% Marktanteil deutlich hinter dem vor allem auf Unix-Systemen laufenden Open-Source-Webserver Apache, der mit 60% auf dem Löwenanteil der Systeme (mit eigener Domain) hält. Microsoft-spezifische Viren und Würmer wie Code Red und Nimda haben die Consulting-Gruppe Gartner veranlasst, ihre typischerweise sehr Microsoft-freundliche Haltung zu überdenken und in einem Bericht Unternehmen zum Wechsel auf Alternativen aufgefordert.

Im Datenbank-Bereich liegt Microsoft mit rund 15% Marktanteil wiederum hinter den Branchenriesen Oracle und IBM - kleine Websites setzen zudem oft auf kostenlose Open-Source-Lösungen wie MySQL und PostgreSQL. eCommerce-Gesamtlösungen sind die Spezialität von IBM, während die bedeutenden Internet-Redaktionssysteme ein Betätigungsfeld für viele Start-Ups sind. Auch hier existiert z.B. in Form des beliebten Zope-Applikationsservers eine mächtige Open-Source-Lösung.

Auch die Web-Entwicklungsumgebungen konnte Microsoft bisher nicht monopolisieren. Trotz Versuchen mit Skript-Standards wie ASP und VBS den Markt zu dominieren, entscheiden sich Entwickler lieber für offene Programmiersprachen, deren Werkzeuge sie kostenlos auf allen Plattformen einsetzen können und an deren Standards sie mitwirken können. Skript-Sprachen wie PHP, Perl und Python sowie die von Sun entwickelte plattformunabhängige, objektorientierte Sprache Java genießen eher das Vertrauen von Web-Entwicklern.

Und dann ist da noch der Markt für mobile Endgeräte und "Thin Clients" (Client-Rechner mit geringeren Anforderungen). Hier stehen Java, Palm OS & Co. gegen Microsofts Windows CE. Unter dem Namen Embedded Linux wird seit einiger Zeit auch eine Mini-Variante von Linux gestrickt, die auf das absolut Notwendige zurechtgestutzt ist. Mittlerweile gibt es Handies, Web-Telefone, PDAs, Spielekonsolen, Set-Top-Boxen, Web-Pads, Audio-Systeme, digitale Videorekorder und sogar Roboter, auf denen Linux läuft (eine gute Aufstellung findet sich bei Linux Devices).

Bei den Medienformaten hat Microsoft ebenfalls Nachholbedarf: Die Surfer bevorzugen derzeit Lösungen ohne Kopierschutz. DivX ;-) für Videos sowie MP3 und der patentfreie Audio-Codec Ogg Vorbis dominieren das Feld. Kopierschutz ließ sich bisher lediglich in Offline-Medien etablieren, etwa beim Vertrieb von DVDs oder in einigen Marktversuchen mit kopiergesperrten Audio-CDs. Microsofts eigenes Windows Media Format blieb bislang weitgehend glücklos, nur einige treue Microsoft-Fans setzen das proprietäre Format ein. Selbst als Player bevorzugen viele Nutzer den cooler aussehenden WinAmp von AOL.

IBM hat es geschafft, Linux sogar auf einer Armbanduhr unterzubringen.

Die Browser-Statistik von MetaGer sieht Microsofts IE zwar derzeit bei rund 80%, aber Netscape hält immer noch einen Anteil von rund 18% - mit dem bald erwarteten Final Release von Mozilla und dem kostenlosen Opera besteht außerdem für Microsoft die Gefahr, dass viele Microsoft-kritische Windows-Nutzer bei der erstbesten Gelegenheit umsteigen. All das macht es derzeit noch problematisch, den IE als Motor für proprietäre Standards zu nutzen.

Noch schlimmer für Microsoft sieht es bei den Instant Messengern aus. Instant Messenger führen eine Art Echtzeit-Adressbuch über die eigenen Freunde und Bekannten - man sieht, wann diese online sind und kann ihnen ggf. Nachrichten oder Dateien schicken. Hier dominieren die AOL-Messenger ICQ und AIM mit zusammen rund 150 Millionen Nutzern. Microsofts Messenger-Dienst verzeichnet dagegen nur 32 Millionen Nutzer, während mit rund 12 Millionen Nutzern Yahoo! auf Platz drei folgt. Die Open-Source-Gemeinde lässt sich nicht lumpen und schickt den offenen Jabber-Standard ins Rennen.

Und dann sind da noch die Inhaltsportale. Das Portfolio an Dienstleistungen, das Microsoft im Internet anbietet, ist bereits gigantisch. Wie auch Yahoo! und AOL betreibt Microsoft ein Portal, das Nachrichten, Suchmaschinen, diverse Inhalte, Email Funktionen, Messenger-Dienste, Verzeichnisse und vieles mehr vereint und mit Microsofts Desktop-Software wie dem MSN Messenger und dem Internet Explorer integriert ist. Doch obwohl in vielen Bereichen mehr Werbung als Inhalt zu finden ist, ist klar, dass dies nicht das Geschäftsmodell für Microsofts Internet-Service-Palette sein und bleiben kann.

Dank Sun, IBM, Linux & Co. ist die Vormacht von Microsofts Betriebssystem gefährdeter als je zuvor. Problematisch ist auch, dass Microsoft mit zunehmender Bandbreite für Heimbenutzer immer mehr von illegalen Kopien bedroht ist. CD-Brenner sind mittlerweile so schnell und günstig, dass auf jedem Schulhof Software im Nominalwert von Tausenden DM getauscht wird. Wenn aber in wenigen Jahren jeder Nutzer durch den einfachen Login in eine P2P-Tauschbörse innerhalb von Sekunden ein Hunderte Megabytes großes Programmpaket auf seine Hunderte Gigabytes fassende Festplatte herunterladen kann, ist klar, dass das kommerzielle Verbreitungsmodell von Software in Gefahr ist. Microsoft realisiert solche Gefahren eher als z.B. die Musikindustrie - und weiß auch, welche Lösungen funktionieren und welche nicht.

Der Master-Plan von Microsoft zur Beseitigung der Konkurrenz heißt .NET - und er scheint aufzugehen.