Die "Reichsuniversität Straßburg"

Bild: Kirsten Esch

Ein lange Zeit in Ehren gehaltenes "Bollwerk des Germanentums" - Intellektuelle in der NS-Zeit

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Am 23. November 1941 ist es soweit und die "Reichsuniversität Strassburg" wird eröffnet. Mit "klingendem Spiel" ziehen Abordnungen der Wehrmacht mit Fahnen des alten Kaiserreichs und der neuen Diktatur in die neu mit Marmor ausgekleidete Aula ein. Für die Deutschen ist die Eröffnung eine Wiederbelebung der "Kaiser-Wilhelms-Universität", die von 1871 bis 1918 bestanden hatte.

Das Datum ist bewusst gewählt: die Rache und Antwort auf die Wiedereröffnung der "Université de Strasbourg" am 23. November 1918 nach der als von den Deutschen so schmachvoll empfundenen Niederlage. Auch darum ist die "Reichsuniversität Strassburg" die größte und bedeutungsvollste von dreien mit Posen und Prag, Hitlers Herzensprojekt.

Viel Geld und "modernste Technik" in der Nähe von Menschenversuchen

Ihr war eine besondere Rolle zugedacht: Mit einem nationalsozialistisch-völkisch ausgerichteten Lehrplan soll sie als Bollwerk des Germanentums gegen den feindlich gesinnten Okzident stehen und selbst die Pariser Sorbonne übertrumpfen. In Zeiten des Krieges ist die medizinische Fakultät die größte an der Reichsuniversität, sie wird mit viel Geld und modernster Technik ausgestattet.

Ihr gehört der berüchtigte Anatom August Hirt, der Mediziner Otto Bickenbach und der Virologe Eugen Haagen an. Sie werden im nahe gelegenen Konzentrationslager grausame Menschenversuche durchführen. Der Dekan der Medizinischen Fakultät ist Johannes Stein. Er ist mein Großvater.

Lange wird mein Großvater in der Familie in Ehren gehalten, nicht nur für meine Mutter gilt er als jemand, der es immerhin zu etwas gebracht hat - ich war stolz, die Enkelin eines so bedeutenden Mannes zu sein. Als Kind schrieb und malte ich auf Briefpapier mit seinem Briefkopf. Von seinen fünf Kindern wurde Johannes Stein als warmherziger, musisch begabter Vater innig geliebt.

Was hat er gewusst von den Menschenversuchen, die unter seiner Verantwortung im KZ Struthof unternommen wurden? Wer war unser Großvater wirklich? Eine Frage, die von uns Enkeln bei unseren vielen Familientreffen mal lauter, mal leiser gestellt wurde.

Bereits im Herbst 1940, als einer der ersten, reiste mein Großvater immer wieder nach Straßburg, um gemeinsam mit dem Historiker Ernst Anrich und dem künftigen Rektor der "Reichsuniversität" Karl Schmidt das Prestigeunternehmen voranzubringen. Man hält ihn für diese Aufgabe als besonders gut geeignet, denn schon am 1. Mai 1933 war mein Großvater in die SS eingetreten.

Als Ordinarius für Innere Medizin und Prorektor der Universität Heidelberg hatte er tatkräftig mitgeholfen, alle jüdischen Professoren aus ihren Ämtern zu vertreiben. Von seinem Kollegen, dem Psychiater und Philosophen Karl Jaspers, wurde er als "fanatischer Nationalsozialist" bezeichnet.

Das "romantische Abenteuer"

Diese Fakten erschüttern den Glauben an einen menschenfreundlichen Arzt, der nur notgedrungen zum Mitläufer werden musste, wie es in unserer Familie immer wieder erzählt wurde. Und sie erklären, warum mein Großvater sich auch auf privaten Familienfotos stets in Uniform ablichten ließ.

Mit Eifer und Überzeugung widmet sich mein Großvater dem Aufbau einer deutschen Reichsuniversität unter nationalsozialistischen Vorzeichen. Er sieht das als ein "romantisches Abenteuer" in einer der "romantischsten deutschen Städte".

Die begehrten Professorenposten werden vergeben, eine lupenreine Parteizugehörigkeit ist dafür Voraussetzung. Hochrangige deutsche Wissenschaftler versprechen sich hier für ihre Forschung besondere finanzielle Mittel, eine gute Besoldung und ein hohes Renommee.

Auch der NS-Staatsrechtler Ernst-Rudolph Huber, der mit seinem Werk "Verfassung" das Unrecht und die Diktatur des Nationalsozialismus legitimierte, reist aus Leipzig zu ersten Gesprächen nach Straßburg. In seinen "Straßburger Erinnerungen" beschreibt er später, wie er aus der Ferne das erste Mal das Straßburger Münster sieht - ein Anblick, der ihn ins Schwärmen geraten lässt.

Man bleibt unter sich

Straßburg, das ganze Elsass, gilt als "urdeutscher" Ort. Man ist sich sicher, die Besatzung ist für die Ewigkeit. Nach seiner Berufung im Januar 1941 steuert Ernst-Rudolf Huber gemeinsam mit dem Reichserziehungsministerium maßgeblich die personelle Zusammensetzung der juristischen Fakultät.

Mit seiner Frau Tula Huber-Simons gründet Huber ab 1941 im "deutschen Straßburg" ein wissenschaftliches Kränzchen. Hier wird debattiert, Vorträge werden gehalten und meine Mutter erinnert sich daran, wie ihr Vater abends zu Fuß zu den Veranstaltungen im nahe gelegenen "Kameradschaftshaus" ging.

Ab 1942 schließt sich diesem erlesenen "Debattierclub" auch der Atomphysiker Carl Friedrich von Weizsäcker an. Seine Berufung nach Straßburg hatte länger gedauert, denn er war nicht Mitglied der Partei. Im Nordosten der Stadt bezieht die Professorenschaft vornehme Villen, man bleibt unter sich und versteht sich als die geistige Elite des Nationalsozialismus. Vom Krieg ist wenig zu spüren.

Gespenstisch

Meine Mutter ist 6 Jahre alt, als sie im Herbst 1941 mit ihrer Familie in die Schillerstraße 7 zieht. Die ganze Stadt steht gespenstisch leer, die umliegenden Häuser sind unbewohnt. Schon 1939, unmittelbar nach der britisch-französischen Kriegserklärung, war das Elsass evakuiert worden.

Der kleinen Karin macht die unterschwellige Feindseligkeit der Elsässer gegenüber den deutschen Besatzern schwer zu schaffen. "Das Hausmeisterehepaar Müller, das bei uns im Souterrain wohnte, meine Lehrerin, selbst unser Kindermädchen habe ich als extrem feinselig erlebt", erzählt sie.

Und so verschließt sie sich alleine mit ihren Ängsten, seelisch fern von der unterkühlten Mutter. Das Verhältnis zum Vater dagegen ist eng und liebevoll, und wenn er abends für sie zum Einschlafen Klavier spielt, fühlt sie sich geborgen. Der Zwiespalt zwischen ihrer Liebe und der Ahnung, dass der Vater aktiver Teil eines verbrecherischen Systems war, bereitet meiner Mutter und ihren vier Geschwistern Zeit ihres Lebens Probleme und beschäftigt die Enkelkinder.

Als mein Bruder vor vielen Jahren nach Freiburg ins Archiv fährt, um Klarheit über seinen Großvater zu bekommen, wird er anfangs in der Familie als Verräter bezeichnet, als Nestbeschmutzer.