Die Rückkehr der Eigentlichkeit

Kulturrelativismus und konzerneigene Hassprediger

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In Jamaika wurden in den vergangenen Jahren zwei der prominentesten Schwulenrechtler ermordet: Brian Williamson und Lenford Harvey. Die Verbrechen waren allerdings nur insofern etwas besonderes, als die beiden Opfer prominent waren und die meisten Morde an Schwulen auf der Karibikinsel nicht heimlich geschehen, sondern durch einen Lynchmob.

Rebecca Schleifer schrieb für Human Rights Watch einen Bericht über die Situation von Homosexuellen auf der Insel, in dem sie die unzureichende Aufklärung und Bestrafung solcher Morde scharf kritisierte. Dabei spielt eine wichtige Rolle, dass Homosexualität in Jamaika unter Strafe steht. Nach Artikel 76 des Offences Against the Person Act drohen bei homosexuellem Analverkehr bis zu 10 Jahre Haft mit Zwangsarbeit, bei bloßem Händchenhalten (Artikel 79) immer noch 2 Jahre.

An eine Änderung dieser Gesetze denkt niemand in der politischen Klasse des Landes. Im Gegenteil: 2001 nutzte die wichtigste Oppositionspartei JLP das explizit homophobe Musikstück "Chi Chi Man" von TOK als Wahlkampfhymne, um damit die Gerüchte anzuheizen, dass Premierminister Patterson schwul sei.

Neben dem TOK-Track hätte die JLP auch auf zahlreiche andere Titel zurückgreifen können. Die Auswahl ist groß, weil das Tötet-Schwule-Stück ein fester Topos in der jamaikanischen Volksmusik ist. Sie reicht von Beenie Mans "Battyman Fi Dead" über Sizzlas "Pump Up" ("Shot battyboy, my big gun boom”), Vybz Kartels "Gun Like Mine" ("Kartel buss one inna battyboy spine"), Capeltons "Bun Out Di Chi Chi", Bounty Killers "Another Level" und Shabba Ranks "No Mama Man" ("If Jamaica would a legalize gun to kill battyboy would be the greatest fun") bis zu Elephant Mans "Nah Gwan A Jamaica" – wobei letzterer bizarrerweise durch sein starkes Lispeln und sein Auftreten wie die Hollywood-Karrikatur eines Homosexuellen wirkt.

Der wahrscheinlich berühmteste homophobe Gassenhauer aber stammt von Buju Banton, der "Boom Bye Bye" zu einem guten Teil seinen Erfolg verdankt. Im Herbst 2005 wurde Banton angeklagt, im Jahr zuvor zusammen mit Kumpanen in der Nähe seines Aufnahmestudios in Kingston in die Wohnung eines Homosexuellen eingebrochen zu sein und ihn und fünf andere Männer derart verprügelt zu haben, dass dauerhafte körperliche Schäden zurückblieben.

Buju Bantons Manager Donovan Germain versuchte die nicht unbedingt entlastend wirkenden Texte seines Schützlings damit zu entschuldigen, dass sie einer afrikanischen Tradition folgend kein eigentliches, sondern uneigentliches Sprechen seien und nicht wörtlich zur Hatz auf Schwule aufrufen würden.

Die "Tradition des uneigentlichen Sprechens"

Das Material für seine Entschuldigung geliefert hatten Germain postmoderne Kritiker, die gegenüber problematischen Äußerungen "Respekt vor den Aussageweisen einer Kultur" forderten "die in der Tradition des uneigentlichen Sprechens steht".1

Sie lehnten sich an die Theorie des "Signifyin(g)" an, die vom afroamerikanischen Literaturwissenschaftler Henry Louis Gates entwickelt worden war. Gates hatte in den 80er Jahren das Überleben einer afrikanischen Trope in afroamerikanischen Oraltraditionen konstatiert, die seiner Ansicht nach nicht auf einer semantischen Ebene funktionierte.2 Sozialpsychologen hatten sich seit den 30er Jahren mit dem von Gates ausgegrabenen Phänomenen ritueller Beleidigung beschäftigt. "Signifying" war der Überbegriff für diese Praktiken, zu denen unter anderem das playin´the dozens, das rapping, das running it down, das gripping, das copping a plea, das sounding, das loud-talking und das marking gezählt wurden.

Dafür, dass Gates` Theorie relativ inflationär angewendet werden konnte, sorgte das Umfeld eines immer dogmatischer werdenden Kulturrelativismus. Die Idee, dass moralische, ethische und ästhetische Prinzipien kulturgebunden sind, wurde von der ethnologischen Herangehensweise zum ethischen Dogma erhoben – mit der Folge, dass problematische Verhaltensmuster zu pittoresken Eigenheiten verklärt wurden. Dieses Dogma erstickte teilweise die kritischen Auseinandersetzung mit kulturellen Phänomenen.

Auch die unter Musikern verbreitete Rastafari-Ideologie, die nicht nur rassistisch, sondern auch extrem homophob ist, wurde im Westen zumeist als "erfrischend natürlich" verherrlicht. Formale Elemente wie das jamaikanische Patois, das für europäische Ohren oft klingt wie ein Dreijähriger, der Englisch spricht, täuschten über die Inhalte hinweg: Wer denkt schon bei einer so putzigen Formulierung wie ""haffi dead" gleich ans Sterbenmüssen?

Die antiweißen Äußerungen der 5% Nation, so Diedrich Diederichsen Anfang der 1990er, "sollte man nicht als weltanschauliche Grundsatzerklärungen missverstehen, [sondern] eher als postmodern-tribalistische Strategie" betrachten.3 Und selbst wenn man, so Mark Terkessidis, davon ausginge, dass die Rapper "agitieren und klar sprechen wollen, bliebe gegen den reinen Hermeneutiker der Einfluss der Tradition sowie die Materialität der Zeichen zu beachten, d.h. das seit dem Strukturalismus geltende Argument, dass die formale Struktur des Sprechens selbst eine Bedeutung ist/schafft."4

Fünfzehn Jahre später deutet viel darauf hin, dass "Signifyin(g)" im Zusammenhang mit Hip Hop und Reggae weniger das Aufzeigen einer afrikanischen oder auch nur afroamerikanischen Tradition des uneigentlichen Sprechens war, als die Anwendung einer speziell für die Zitatpop-1980er geltenden Gesetzmäßigkeit auf ein grundlegend anderes kulturelles Phänomen: Abgesehen davon, dass die Verfolgbarkeit einer Traditionslinie nach Afrika ohnehin nicht beweisbar war und Formen ritueller Beleidigung auch im England des 17. Jahrhunderts existierten, stand die Wahrnehmung als "uneigentliches Sprechen" nämlich genau in der Rezeptionstradition der zitatpopgeprägten Generation, die von Roxy Music an die gesamte Musikgeschichte entsprechend (wenn man so will) "distanziert" aufgearbeitet und betrachtet hatte.

In dieser Rezeptionstradition standen auch die postmodernen Kritiker. Und sie standen noch so tief in ihr, dass sie nicht sehen konnten, dass es weniger eine afrikanische Tradition war, als ihre eigene. Ein - wenn man so will - typisch "eurozentristischer" blinder Fleck. Hip Hop wurde zwar von Diedrich Diederichsen und Mark Terkessidis so rezipiert, aber nicht von Bushido, G-Hot oder Massiv.

Konzerneigene Hassprediger

Im Unterschied zur rein symbolischen Darstellung von Gewalt in Computerspielen sind in den Gangsterrap-Stücken die Inhalte auch an Gewalt und Islamismus im realen Leben gekoppelt. Massiv kokettiert nicht nur mit Kontakten zu Berliner Verbrecherbanden, er soll auch während eines Auftritts in einem alevitischen Kulturzentrum in Duisburg die Anwesenden als "Kufar" beschimpft haben – worauf gewalttätige Unruhen ausbrachen. Doch während andere Hassprediger abgeschoben werden, darf Massiv bleiben - weil der Bertelsmann-Konzern mit ihm Geld verdienen will. Unter anderem dafür ließ der Konzern mit der "Urheberrechtsreform" gerade eben wieder seine Monopolrechte ausbauen.

Allerdings wird mittlerweile auch bei der Exekutive die Frage gestellt, was die Politik mit diesem Ausbau der Monopolrechte eigentlich fördert. So zeigte sich Kulturstaatsminister Bernd Neumann, dessen Handschrift die "Urheberrechtsreform" trägt, plötzlich entsetzt über die Leitkultur aus Gangsterrap und Islamismus, in die der Bertelsmann-Konzern derzeit viel Geld investiert.

Ob allerdings der Neo-McCartyismus, der diesen Sommer dazu führte, dass Beenie Man, Sizzla and Capleton den "Reggae Compassionate Act" der Kampagne Stop Murder Music unterzeichneten, eine adäquate Antwort auf dieses Phänomen ist, ist mehr als fraglich. Zu glauben, dass es die Situation von Homosexuellen und anderswo tatsächlich verbessert, wenn homophobe Musiker gezwungen werden, den Oettinger zu machen, scheint kein unbedingt durchdachter Aktivismus zu sein: Erzwungene Distanzierungen führten bereits bei früheren Gelegenheiten dazu, dass die Homophobie sich – angereichert mit einer Portion Verschwörungstheorie und garniert mit einer Viktimisierung der eigenen Gruppe – eher verstärkte.

Es mag sein, dass die Anti-Schwulen-Hymnen manch potentielle Gewalttäter anstacheln - gleichzeitig machen sie aber bereits vorhandene Phänomene sichtbar und damit diskutierbar. Ohne sie würde kaum jemand von der Situation der Homosexuellen in Jamaika oder in Neukölln wissen. Und so naiv es ist, zu glauben, dass jemand wie G-Hot lediglich "uneigentliches Sprechen" produzieren würde, so naiv ist es, der Homophobie dadurch beikommen zu wollen, dass man den Botschafter der schlechten Nachricht erschießt – sprich, die Stücke verbietet oder Distanzierungen erzwingt. Maßgabe jeder Reaktion sollte vielmehr ein altes englisches Sprichwort sein, das auch im Medienzeitalter noch gilt:

"Sticks and stones can break my bones, but words can never hurt"