Die SPD zerlegt sich in ihre Einzelteile

Wie man Demokratie simuliert: Der sozialdemokratische Mitgliederentscheid legt vor allem die Schwächen des Verfahrens bloß. Kommentar

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Keine Überraschung im Willy-Brandt-Haus: SPD-Betonkopf Olaf Scholz bekam mit seinem Anhängsel, der unbekannten Brandenburgerin Klara Geywitz, die meisten Stimmen im ersten Wahlgang des SPD-Mitgliederentscheids über die Nachfolge der gescheiterten Parteivorsitzenden Andrea Nahles.

Der Finanzminister und G-20-Rabauke Scholz geht aber keineswegs als Favorit in den nun fälligen zweiten Wahlgang. Denn mit gerade mal 22,6% der Stimmen liegen Scholz/Geywitz nur hauchdünn vor Nordrhein-Westfalens früherem Finanzminister Norbert Walter-Borjans und der Bundestagsabgeordneten Saskia Esken, die beide 21 Prozent erhielten. Walter-Borjans und Esken sind die erklärten Favoriten der Jusos und der Parteilinken. Sie gelten auch als Skeptiker gegenüber der Großen Koalition. Die Stimmen der Koalitionsgegner und der Befürworter einer programmatischen Neuausrichtung der Partei und eines klareren SPD-Profils links von der Mitte dürften deshalb auf Walter-Borjans/Esken fallen.

Dagegen steht Scholz - außer für den SPD-Niedergang als Generalsekretär unter dem Kurzzeitvorsitzenden Gerard Schröder, für eine glanzlose Amtszeit als Hamburger Bürgermeister (2011-2018) und das Ausarten und schamlose Niederknüppeln der G-20 Proteste - für stures "Weiter so", für das Festhalten an der Großen Koalition, für die "Schwarze Null" auch in der ausgedörrten SPD-Programmatik.

Jetzt darf man gespannt sein, ob er sich programmatisch weiter links positioniert (das ist unwahrscheinlich) oder gegen Walter-Borjans/Esken eine Angstkampagne fährt - wobei er gewiss von den rechtsbürgerlichen sogenannten "Qualitätsmedien" rechts von der Frankfurter Rundschau unterstützt werden wird (das ist beides sehr wahrscheinlich).

"Wer die SPD führt, ist wurscht"

Das Gesamtergebnis des Wettstreits um den Parteivorsitz ist allerdings ernüchternd bis erschütternd: Denn gerade mal gut die Hälfte der 425.630 sozialdemokratischen Parteimitglieder beteiligte sich überhaupt an der Abstimmung. Und etwa fünf Prozent der abgegebenen Stimmen waren ungültig oder Enthaltungen. Die Teilnehmer der Stichwahl haben also nur das Vertrauen von etwa zehn Prozent der Parteimitglieder. Das ist ein fatales Signal. Es zeigt nicht zuletzt: Vielen Mitglieder ist es inzwischen wurschtegal, wer die Sozialdemokratie führt.

Zumal die Kandidaten fast sämtlich zweite Wahl waren: Der provozierende und die Partei des Versöhnen-statt-Spalten-Apostels Johannes Rau spaltende Juso-Jungspund Kevin Kühnert hat ebenso trotz Drängens seiner Fans auf eine Kandidatur verzichtet. Wie auch der geschmeidige Parteirechte, VW-Aufsichtsrat und niedersächsische Ministerpräsident Stefan Weil, der das Auswahlverfahren und den Mitgliederentscheid bereits im Sommer kritisiert hatte.

Verzichtet hatte auch die populistische Familienministerin Franziska Giffey, eine Art burschikose Sozialtante der SPD, die sich dummerweise selbst durch Plagiat(svorwürfe)e an ihrer Doktorarbeit aus dem Rennen gekegelt hatte.

Alle drei stünden zumindest für klare SPD-Kursentscheidungen - sie werden bei der nächsten Parteivorsitzenden-Wahl zur Verfügung stehen, bis zu welcher es nach jetzigem Stand nur wenige Jahre dauern kann.

Auch für den Moment hätte es bessere Kandidatinnen gegeben: Die von vielen als gute Seele der Partei geschätzte Mainzer Ministerpräsidentin Malu Dreyer und die an Krebs erkrankte junge Hoffnungsträgerin Manuela Schwesig, die als einzige beide das Geschick und die Sympathiewerte hätten, die SPD wieder nach vorn zu bringen.

Eine Doppelspitze mag zwar das Erfolgsmodell der Grünen plagiieren, passt aber nicht zur hierarchischer denkenden und von den Gremien des Mittelbaus maßgeblich mitbestimmten SPD.

Der gewaltige Aufwand, mit dem die SPD die Nahles-Nachfolge bestimmt hat - monatelange Bedenkzeit, 23 Regionalkonferenzen zur Bewerbervorstellung - hat vor allem das Bild einer zersplitterten Partei verfestigt: Kein Kandidatenpaar bekam auch nur ein Viertel der Stimmen, fünf von sechs bekamen jeweils zwischen 14 und 23 Prozent der Stimmen. Uneindeutiger könnte das Ergebnis kaum sein. Ratlosigkeit auf allen Ebenen, auch jenseits des kommissarischen Vorstands.

Tinder-Demokratie für die Generation ADHS

Vor allem zeigt die geringe Beteiligung und das vorherige SPD-Procedere auch die Grenzen und Schwächen derartiger Wahlverfahren und der sogenannten direkten Demokratie als solcher: Was die SPD damit vor allem erreicht hat, ist eine Selbstschwächung der Partei.

Eine Doppelspitze, die im ersten Wahlgang nur von zehn Prozent der Mitglieder aktiv unterstützt wurde, von anderen in der Stichwahl bestenfalls als "kleineres Übel" angesehen wird, kann kaum unbelastet und kraftvoll an die Aufgabe herangehen, der Partei Willy Brandts wieder Selbstbewusstsein zu geben und sie möglicherweise zu einer ernsthaften Konkurrentin um die Kanzlerschaft zu machen.

Ein solcher Zwergenvorstand hat auch weder ein starkes Verhandlungsmandat innerhalb der "großen Koalition" noch die Unterstützung, um diese gegebenenfalls zu verlassen. Demokratie wird hier mehr simuliert als praktiziert. Denn ist etwas schon demokratisch, bloß weil alle abstimmen dürfen? Ist es demokratisch, wenn Kandidaten den Wählern wie bei Tinder im Speed-Verfahren präsentiert werden?

Jeder Teilnehmer bekam bei den Regionalkonferenzen gerade mal zwei Minuten Zeit, um sich zu präsentieren. Jede öffentliche Äußerung blieb daher auf schlichte Slogans und primitive Schlagworte beschränkt. Um danach auf Fragen der Mitglieder zu antworten, durften sie 60 Sekunden nicht überschreiten - derartiges funktioniert schon bei Frank Plasbergs "Hart aber Unfair" nicht, für eine Partei in der Tradition Bebels und Brandts ist solche Niveaulosigkeit schlicht unwürdig: Anti-Aufklärung als Demokratie für die "Generation ADHS".

Von außen mag all das modern wirken und SPD-Romantiker befriedigen, in der Praxis unterbindet es das, was diese Partei vor allem nötig hat: Besonnene, geduldige Debatten über Taktik, Strategie und Programmatik der Sozialdemokratie. Es stimmt zwar, dass Personen Programme repräsentieren. Die SPD aber ist - ähnlich wie ihre Schwesterparteien im Rest Europas - in einer Situation, in der sie ein neues Projekt braucht, weil die alte Programmatik unserer Gegenwart längst nicht mehr angemessen ist.