Die Schattenseite der Achtsamkeit: Wie Meditations-Apps die Gesellschaft spalten

Reifender Mann mit Meditations-App im Schlafzimmer

"Reifender Mann mit Meditations-App im Schlafzimmer." Bild: Shutterstock/Monkey Business Images

Auf jedem vierten Handy: Meditations- und Mindfullness-Apps. Mehr als zehn Jahre dauert der Hype schon an. Jetzt wird Kritik laut.

Auf jedem vierten Handy soll hierzulande inzwischen eine der vielen Meditations- und Mindfullness-Apps installiert sein. Management-Coaches, Eltern-Ratgeber, Unternehmen, Krankenkassen empfehlen Meditation und Achtsamkeit als Kur gegen den wachsenden Stress unserer digitalisierten Gesellschaft.

Sogar bei sozialen Problemen, Burnout und psychischen Störungen soll die Methode helfen, behaupten Mindfullness-Verbände. Von Kontraindikationen ist selten die Rede. Nun mehren sich jedoch Berichte von negativen Auswirkungen der spirituellen Versenkung ins eigene Ich, die ursprünglich aus dem Buddhismus stammt.

Corona-Krise: Bürgerlich-esoterische Parteien entdecken ein Schlagwort

In Zeiten von Corona-Pandemie und häuslicher Zwangsruhe im Lockdown entdeckten bürgerlich-esoterische Parteien die Achtsamkeit als politisches Schlagwort.

Die Partei Wir2020 stehe für "Achtsamkeit, Aufmerksamkeit, Verantwortung und gelebte Demokratie" hieß es etwa auf der Internetpräsenz des eher kurzlebigen Parteiprojekts "Wir2020", welches sich als parlamentarischer Arm der Corona-Maßnahme-Kritiker verstand.

Auch das bundesweite Rahmenprogramm von Die Basis, der Protestpartei gegen die Corona-Maßnahmen, stützte sich auf die vier Säulen "Freiheit", "Machtbegrenzung", "Schwarmintelligenz" und "Achtsamkeit".

Studie entdeckt negative Nebenwirkungen

Doch der Mindfullness-Hype hatte schon seine Kritiker gefunden, in Wissenschaft und Medien, so berichteten in einer Studie sechs Prozent der Teilnehmer, die Achtsamkeit praktizierten, über negative Nebenwirkungen, die länger als einen Monat andauerten.

Achtsamkeit sei zu sehr gehyped, missverstanden und übermäßig kommerzialisiert worden, kritisierten weitere Forscher.

Vor vier Jahren beschrieb der BBC-Autor David Robson, wie er als Teilnehmer von Meditationskursen und privaten Übungen statt Entspannung zu erleben immer öfter negative Erfahrungen machte:

Viel zu oft beendete ich die Sitzung jedoch mit einem viel schlechteren Gefühl als zu Beginn. Anstatt sich zu entspannen, begann mein Herz zu rasen, oder mein innerer Monolog nahm eine unangenehme Wendung, als unschöne Erinnerungen und Gefühle von Versagen und Hoffnungslosigkeit meinen Geist überfluteten. Diese Ereignisse traten so häufig auf, dass ich Achtsamkeit nur noch gelegentlich anwende.

David Robson

Ein halbes Jahr später hatte Robson nachgeforscht und war auf Studien gestoßen, die belegen, dass Mindfullness-Training manche Menschen egoistischer machen kann.

Durch verstärkte Konzentration nach innen scheine man andere zu vergessen und weniger bereit, Bedürftigen zu helfen. Hier erkennen wir weniger die Intentionen des Buddhismus als vielmehr neoliberales Leistungs- und Optimierungsdenken.

Warum soll es den Chef interessieren, wie sich Untergebene fühlen?

Wenn wir durch Mindfullness, wie Robson meint, unsere Selbstbeherrschung verbessern, Konzentration schärfen, "geistige Flexibilität" steigern, werden wir dann nicht auch hinsichtlich ökonomischer Verwertbarkeit unseres Lebens optimiert?

"Flexibilität" wird dabei heute als fröhliche Anpassung an Anforderungen verstanden, nicht etwa als Fähigkeit, sich Anforderungen zu entziehen.

Wenn Arbeitgeber davon begeistert sind, ist das verständlich. Wobei im Rahmen der derzeitigen Kriegsertüchtigung und neuer deutscher Härte einigen der Psychokram scheinbar zunehmend überflüssig erscheint. Warum soll es den Chef interessieren, wie sich seine Untergebenen fühlen?

So fragt der knallharte CEO heute und wird politisch vom rechten Flügel unterstützt:

"Diese hingebungsvoll zelebrierte Achtsamkeit und Selbstfürsorge wird unser Bruttosozialprodukt jedenfalls nicht mehr steigern", beschwerte sich die freie Autorin und einstige Bundesfamilienministerin Kristina Schröder (CDU) diese Woche in einem Meinungsbeitrag für die Tageszeitung Die Welt.

"Im Zweifel krankschreiben? Das ist eine Gefahr für unseren Wohlstand", so ihr zentraler Befund.

Telepolis, Neue deutsche Härte: Kampf dem Krankenstand

Das ist sicher kein Mainstream in heutigen Chefetagen, sondern auf patriarchalisch-machtbesoffene Führungskräfte und rechtspopulistische Empfänger ihrer Parteispenden beschränkt.

Personalabteilungen wissen, dass ein gutes Betriebsklima die Produktivität durchaus steigern kann. Also ist dort Mindfullness vielerorts Programm, soweit sie Optimierung und Leistungssteigerung dient.

Aber warum Achtsamkeits-Hype auch bei Eltern- und Lehrer-Ratgebern oder Krankenkassen?

Achtsamkeits-Boom: Für die Gesellschaft bedenklich?

Viele Menschen sind aus verschiedensten Gründen nicht bereit, sich am Wettkampf um Selbstoptimierung für Profit und Karriere zu beteiligen. Ob sie ihn nun als unethisch, sinnlos oder schädlich für sich selbst und andere sehen, am Ende bleibt ein Achtsamkeits-Boom, der mit Leistungssteigerung wirbt, für einige gefährlich und für die Gesellschaft bedenklich ist.

Robson warnte nach weiteren Recherchen schließlich, Achtsamkeit könne Meditierende zu einer "darker person" machen, zu einer finsteren Persönlichkeit.

Einer neueren Studie zufolge, so Robson, könne Achtsamkeit besonders schädlich sein, wenn wir anderen Menschen Unrecht getan haben. Indem sie unsere Schuldgefühle unterdrückt, hält sie uns anscheinend davon ab, unsere Fehler wiedergutzumachen.

Neoliberale "Individualisten"

Schlecht für die Opfer der selbstoptimierten Karrieristen, die, gestärkt durch Mindfullness, für ihre Erfolge über Leichen gehen. Wenn eine Person bereits individualistisch veranlagt sei, würde sie nach der Meditation noch weniger bereit sein, anderen zu helfen.

Wenn heute ganze Armeen solcher neoliberaler "Individualisten" aufmarschieren, ist das auch eine Erklärung dafür, dass unser Leben immer stressiger, unsere Gesellschaft immer unsozialer wird.

Wobei diese "Individualisten" natürlich eher Konformisten im neoliberalen Mainstream sind, denen man egomanische Ellenbogen-Mentalität als individuell verkauft hat. Und wie reagieren unsere Medien darauf, deren Neigung zu Gesellschaftskritik bekanntlich von Jahr zu Jahr sinkt?

ARD blendet Gesellschaftskritik aus

In der ARD-Mediathek findet sich ein Magazinbeitrag der Reihe "Vollbild", der sich selbst als gründlich recherchiert präsentierte: "Krank durch Meditation? Die unbekannten Gefahren der Achtsamkeit".

Die Kamera folgte einer Fragen stellenden Journalistin durch Besuche in Meditations-Retreats, Interviews mit Geschädigten und Experten-Befragungen.

Millionen Menschen in Deutschland würden meditieren, Zuhause, in Gruppen, mit Apps. Aus der buddhistischen Tradition sei mittlerweile Mainstream geworden – und ein riesiger Markt. Meditation solle das Allheilmittel gegen Stress sein und sogar bei psychischen Störungen helfen. Doch die Erleuchtung habe auch Schattenseiten.

"Können Achtsamkeit und Spiritualität krank machen?"

In dem 30-Minuten-Beitrag werden sehr ausgiebig zwei junge deutsche Betroffene interviewt. Ein junger Mann erlitt beim Meditationskurs Panikattacken und fühlte sich damit alleingelassen.

Eine junge Studentin, die sich offenbar nur aus Langeweile in ein 8-Tage-Schweige-Retreat verirrt hatte, berichtete sogar von einer dort ausgebrochenen psychotischen Episode.

Ihr Guru, von dem verpixelte Videos gezeigt wurden, begriff offenbar gar nicht, was geschah und riet zum Weitermachen.

Bei Netzrecherchen fand "Vollbild" dann den noch dramatischeren Fall einer jungen Kanadierin, die nach einem ähnlichen Kursus Suizid beging. Deren Mutter wurde interviewt. Dann noch eine US-Psychologin, die das Cheetah House für Mindfullness-Opfer betreibt und zwei deutsche Psychologie-Professor:innen, die in Freiburg eine Beratung für Meditations-Geschädigte anbieten.

50 Prozent aller Meditierenden würden unangenehme Erfahrungen damit machen, 10 Prozent sogar Beeinträchtigungen ihres Alltags erleben. Moralisiert wird von der ARD ausschließlich gegen die Anbieter, nicht wie bei der BBC auch gegen die Nutzer der Angebote, die ihren Egoismus "mindfull" für die Karriere stärken wollen.

TÜV für Meditationslehrer

ARD-Fazit: Wir brauchen bessere Ausbildung und eine Art TÜV für Meditationslehrer, um vulnerable Personen vor unseriösen Anbietern zu schützen. Das Problem wird damit individualisiert und entpolitisiert, die Lösung an die Staatsgewalt delegiert. Dahinterstehende neoliberale Ideologien werden ausgeblendet und ihre Profiteure in Behörden, Organisationen und Unternehmen bleiben unbefragt.

Deren Augenmerk liegt darauf, wie sie mit "Wertschätzung" ihre Wertschöpfung, also den Profit, steigern können, weil eine achtsam gelebte Kultur in Organisationen die Beschäftigten langfristig vital und gesund arbeiten lässt.

"Die jüngste Etappe einer langen historischen Entwicklung"

Schon 2008 kam Kritik an der Mindfullness-Forschung auf, mit der die Neurowissenschaft versuchte zu verstehen, wie Meditation das Gehirn verändert und die Aufmerksamkeit schärft. Anfangs ergaben die Neuroforschungen jedoch nicht immer überzeugenden Ergebnisse zum Segen der Meditation als Allheilmittel -im Gegenteil:

So wurde vor einigen Jahren die "Mindfulness-Scale", also die Achtsamkeitswerte von Koma saufenden und zudem rauchenden Studenten mit denen von vermeintlich gesünder lebenden Kommilitonen verglichen. Als Maßstab wurde das "Freiburg Mindfulness Inventory" (FMI) angewandt, eine unter Meditationsforschern anerkannten Skala zum Ermitteln der kontemplativen Aufmerksamkeit.

Zur Überraschung der Forscher glichen sich die Achtsamkeitswerte der Gruppen, schlimmer noch: Wie der Baseler Psychophysiologe Paul Grossman heraus fand, schnitten die fröhlichen Trinker sogar ähnlich gut ab wie eine Gruppe sehr erfahrener Meditierender aus einer anderen Untersuchung.

Jörg Auf dem Hövel , Telepolis, 2008

Auch die Psychologin Charlotte Jurk bemängelte 2018 im Telepolis-Interview die ungehemmte Anwendung von Mindfullness-Apps, kritisiert jedoch auch die Praxis heutiger Psychotherapie.

Die grassierende Psycho-App-Hype sei nur die jüngste Etappe einer langen historischen Entwicklung. Die psychotherapeutische Theorie und Praxis sei ebenfalls bereits weitgehend standardisiert und mechanisiert.

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