Die Schlacht der Sehmaschinen

Über das Verhältnis von pandemischer Überwachung und dem "Krieg gegen den Terror"

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1. Die Show

„Welcome to Bentham Airport!“ – Willkommen im Panoptikum!1 Das ist die Flughafenansage, die mancher Reisende unwillkürlich zu hören vermeint, wenn er britischen Boden betritt. In London empfängt das Vereinigte Königreich seine Besucher mit einem Irisscanner und einem Schuhscanner, einem Taschen- und einem Ganzkörperscanner, sowie Myriaden von Videokameras. Wer diese Ekstase der Durchleuchtung durchlebt hat, schiebt nur wenige Meter weiter seinen Pass an der Pforte, die immer noch „Einreise“ (immigration), nicht „Ankunft“ heißt, flach unter einem Schlitz in der Sichtscheibe durch und beobachtet: wie die Papieroberfläche gescannt wird.

Heidi Specker: Future Security Conference. © Heidi Specker 2008. Alle Bilder von Arbeiten aus der Austellung Embedded Art

Erst hier tritt der Einreisewillige den Beweis seiner Identität an und versteht, dass das Wort „Ausweis“ eng mit „ausweisen“ verwandt ist. Bevor der Beamte in seinem Glaskasten die Berechtigung zum Betreten der Insel mithilfe seiner „object character recognition“-Software prüft, war der Reisende einfach ein namenloser Träger von allgemeinen Merkmalen und möglichen Gefahrenpotentialen, für deren Erkennen es genügt, den Körper vorzuzeigen. Im Licht der Schranken war er bloß nacktes Fleisch vor der Menschwerdung, als wäre seine Würde ein Art loser Haut, die während der Reise vergangen, verflogen, verschwommen sei und vom Leib abgezogen. Nun muss sie beim Durchgang durch den Zoll erst einmal wieder neu erzeugt und übergestriffen werden.

Olaf Arndt und die anderen Mitglieder der Künstlergruppe BBM, Moritz von Rappard, Janneke Schönenbach und Cecilia Wee, haben die Ausstellung: EMBEDDED ART - Kunst im Namen der Sicherheit kuratiert, die heute in der Akademie der Künste, Berlin, eröffnet wird und bis 22. März zu sehen ist.

Die Ausstellung beschäftigt sich mit den Bedrohungen eines freien öffentlichen Lebens nach den Anschlägen von New York, Madrid, Moskau und London. Seit der Terror die Metropolen der USA und Europas erreichte, haben staatliche Eingriffe im Namen der Sicherheit den Alltag von Millionen Menschen verändert. Die Ausstellung nimmt das Thema Sicherheit zentral auf und versteht sich als künstlerischer Kommentar zu einer der Kernfragen globaler Entwicklung.

Für EMBEDDED ART wurden internationale Künstler beauftragt, auf die aktuelle Situation zu reagieren. Gezeigt werden ausschließlich Arbeiten, die „eingebettet“ vor Ort oder vor dem Hintergrund komplexer Recherchen realisiert wurden. EMBEDDED ART ist das Arbeitsprinzip, „Kunst im Namen der Sicherheit“ das Thema der Ausstellung, die mit über 30 Arbeiten vielschichtige Einblicke in aktuelle Tendenzen zeitgenössischer Kunstpraxis gibt. Künstler aus Deutschland, Großbritannien, den USA, Japan, Südafrika, Italien, Kroatien und Slowenien sind mit Malerei, Video, Medienkunst, Fotografie, Musik und Hörspiel vertreten.

Begleitend finden Diskussionen, Filmvorführungen, Vorträge und Interventionen im öffentlichen Raum statt. In der temporär eingerichteten „Bar zur Inneren Sicherheit” diskutieren jeweils freitags beteiligte Künstler und weitere Gäste. Im Verlag argobooks erscheint ein umfangreicher Katalog.

Die staatliche Skopophilie, das Begehren zu Schauen, taumelt stets ein wenig bewusstlos zwischen den Grundrechten, die ein Blickverbot fordern, und dem immer etwas pervers erotisch aufgeladenen Schaugebot, das im Namen der Sicherheit die Rechte tangieren darf. Scannen, das liest sich auch ein bisschen wie „die Hosen herunter ziehen“.

Scannen ist ursprünglich ein Begriff aus der Welt des militärischen Radars. Er bedeutet, dass man ein beliebig wählbares Feld mit geeigneten bildgebenden Verfahren absucht nach Objekten seines Interesses, vorzüglich nach einem sich nähernden Feind. Das Innere von Taschen, Schuhen, die schummerigen Körpergegenden unter Gürteln und Achseln und eben auch das dunkle Innere des Kopfes hinter der Iris können solche Zonen sein, in denen man schon allein aufgrund des Lichtmangels verborgene Gefahren vermuten darf.

Bis an die Netzhaut bewaffnet, führt der Staat den Krieg gegen den Terror als eine Schlacht um die Sicherheit an der Heimatfront. Die anfallenden Kosten für den dabei entstehenden Kollateralschaden2 werden umgebucht und zu Einnahmen erklärt. Das Innenministerium darf sich der Wirtschaftsförderung rühmen. Solange sich der Gesetzgeber willig am Räumdienst zwischen den Trümmern der Grundordnung beteiligt, kann der Ausnahmezustand permanent aufrecht erhalten bleiben. Nicht umsonst hat das „White House“ schon Anfang 2002 den kommenden Krieg vorsorglich zur „New Condition of Life“ erklärt und damit eine ökonomische Richtlinie vorgegeben. Es entstehe eine neue Lebensgrundlage, weil man ohne „zeitliche und räumliche Begrenzung“ zu kämpfen habe. Die dadurch entstehenden Märkte sind Teil des Plans und sein Ziel.

Allen europäischen Staaten voran ist besonders der britische hinsichtlich seiner Schuldvermutung, die in den atemlos fortschrittsgläubigen Überwachungsszenarien aufscheint, ganz und gar paranoid geworden und darin dem Künstler Damien Hirst ähnlich, der in seinem Buch „Theories“3 berichtet, dass ihn in den 90er Jahren grenzenlose Panik befiel, als ihm klar wurde, dass seine Augen eine nur verschwindend geringe Prozentzahl seiner Körperoberfläche ausmachen und er ansonsten eingeschlossen in einem vollständig finsteren Kasten sitzt. Aus solchen Phobien entsteht der Wunsch nach zusätzlichen Organen. Dienstbare Technik stellt den Werkstoffkörper, der den eigenen, als unvollständig erlebten Körper erweitert.

Die Falle der falsch gedachten Vollständigkeit: Der Mensch möchte mehr sehen, als er kann, und zwar einzig, weil er es nicht kann. Hirsts Wahn ist artspezifisch für eine Spezies mit ubiqitären Zwangsvorstellungen, die sich so lange Hilfsmittel erfindet, bis diese zur Konkurrenz werden. Dann gilt der nicht prothetisch verstärkte Normalzustand als defizitär. Es entsteht das Gefühl, die zwei mikroskopisch kleinen Gucklöcher könnten eines Tages dicht sein, verklebt allein schon aus Angst vor mangelndem Ersatz.

Die aberwitzigen Fixationen und immer totaleren Ausleuchtungsphantasien ergreifen von der kollektiven Psyche moderner Staaten Besitz. Die Krankheit heißt Innere Sicherheit. Sie bricht aus, wenn der Kranke denkt, er sei von Feinden besiedelt: eine schrebersche Kontroll- und Verwandlungsangst.

Angesichts der panoptischen Maschinerie keimt der Verdacht, es handle sich um einen wohl inszenierten Selbstbetrug, den sich alle gern gefallen lassen, weil er das kleinere Übel darstellt. Kleiner im Vergleich zur größten denkbaren Katastrophe, die wir gern annehmen, sobald wir unter Beschuss liegen. Der GAU ist die gefühlte Auflösung geostrategischer Distanzen und Schutz versprechender Grenzen. Die einst fernen Schlachtfelder Asiens liegen heute angeblich vor der eigenen Tür, in den muslimischen Vierteln der westlichen Metropolen, an ihren Schulen und Universitäten.

Der Terror findet im Wesentlichen in den xenophoben Köpfen der beteiligten Fraktionen statt. Er ist ein Produkt von Ausbeutung, beidseitigem Rassismus und bleibendem Misstrauen. Er ist vor allem ein Produkt von Superioritätsphantasien und ihrem Gegenstück, dem Glauben, auf der anderen Seite seien ausschließlich Wilde, Ungebildete, Ungläubige, insgesamt minderwertigere Wesen unterwegs: eine weitere faulige Blüte im Strauß der tödlichen Vorurteile.

Ein Beispiel, wie solche Vorurteile kulturell befestigt werden, ist das „official war on terror artist“-Programm, dass die anglophonen Nationen nach dem 11. September 2001 ins Leben gerufen oder vielmehr aus ihrem schon 200 Jahre alten „combat artist“ Programm abgeleitet haben. In London bietet dafür das Imperial War Museum die Plattform. Was im Zeitalter der medialen Vermittlung fast anachronistisch scheint, nämlich mit Staffelei, Pinsel und Farbtuben in den Krieg zu ziehen, weist auf einen chronischen Mangel neuer Medien hin. Digitale Kameras und ihr Wiedergabe – und Verbreitungstempo bringen Bilder eher zum Verschwinden. Wer Geschichte schreiben will, muss eine bleibende Form finden. Schlachtenbilder haben diesen Wunsch nach nachträglicher Fixierung ebenso erfüllt, wie die künstlerische Freiheit dem politischen Interesse dienlich war bei der Korrektur des Bildes vor seiner Veröffentlichung im Museum. Dass für das Ölbild, selbst für die Bleistiftskizze noch kein Nachfolgemedium gefunden wurde, ist angesichts des vorhandenen optischen Arsenals schon verwunderlich. Man möchte einen Satz von Eduardo Paolozzi, der besagt, wer die Kunst des 20. Jahrhunderts verstehen will, ins Imperial War Museum gehen und dort all die faschistische Weltbeherrschungstechnologie studieren soll, dahingehend erweitern, dass ein Besuch der „war on terror“-Galerie im Jahr 2008 hilft zu begreifen, welche historische Bedeutung den optischen Verfahren des modernen Krieges zuzurechnen ist.

Jacques Coetzer: Smart Casual Bulletproof. © Jacques Coetzer 2008

Da hängen die Auftragswerke zeitgenössischer Künstler in den um den Lichthof laufenden, oberen Sälen über dem spitzen Schädel der V2, in der Theodor W. Adorno einen neuen kurzhalsigen, kopflosen Weltgeist Form annehmen sah. Sie aquarellieren, formal abgefasst im Stil des 19. Jahrhunderts, vor allem eines für die Ewigkeit: dass dies ein Krieg ist, der für die Weltsicherheit geführt wird, mithin eine Frage des Weltfriedens und kein Ausdruck imperialer Wirtschaftsinteressen. Die Auftragsmalerei des britischen Verteidigungsministeriums hilft, die bedrohliche Dimension einer Gefahr zu konstruieren.

Die Kunstwerke affirmieren, bei aller Darstellung von Gräueln und Strapazen, durch die Bank rückhaltlos, was sie ästhetisch zu protokollieren vorgeben: das hilfreiche und schutzspendende Wirken der Armee. Liegt ein Werk mal außerhalb dieses inhaltlich abgesegneten Themen-Kanons, wie etwa Peter Howsons ebenfalls vom Imperial War Museum beauftragte Reise nach Bosnien, sortiert die hausinterne Zensur sofort die unerwünschten Machwerke aus. Seine Serie über gezielte Vergewaltigungen im Nachkriegs-Jugoslawien, die sehr präzise klar macht, dass die Anwesenheit einer Streitmacht noch keine Sicherheit für die Bevölkerung garantiert, eher das Gegenteil, brachte den Maler in einen ernsten Konflikt mit dem Museum, dem er – auch finanziell – nur dadurch entgehen konnte, dass David Bowie eines der inkriminierten Werke erwarb.

Kunstwerke und Überwachungstechniken zeigen Gefahren auf und versprechen Hilfe. Die einen selektieren mechanisch und „objektiv“ die Bevölkerung nach Tätern und Opfern, die anderen beschreiben Lösungen, sollen zeigen, dass Gewalt gegen Gewalt gesetzt werden muss zum Heil des Friedens. Die Bilder der Kriegskünstler liefern somit die Rechtfertigung für den Einsatz der Sicherheitstechnik. Sie beeindrucken bei aller politischen Fragwürdigkeit mit einer Wirkungsmacht, die aus der simplen Handwerklichkeit entspringt, dem Gegenentwurf zur Argos-äugigen4 Inszenierung mit Hochtechnologie.

Christina Zück: Defence Phase II Karachi. © Christina Zück 2008

Ausgefeilte Technik fasziniert zwar wegen eines gewissen Fetischcharakters, der an allen Innovationen haftet. Die optische Aufrüstung der letzten Jahrzehnte ist jedoch per se weder substantiell noch nachhaltig, sondern stets ephemer: morgen schon überholt von spektakulärerem Equipment. Die diversen Erkennungsdienste kokettieren dabei mit der nicht nachprüfbaren Behauptung einer minimal notwendigen Funktion. Dass daran etwas faul ist, merkt der vielfach beäugte Kunde vor jeder medialen Schranke. Vermeintlich nackt, bis in die Nerven hinein transparent, steht der von technischen Strahlen durchdrungene Kunde im Rampenlicht auf der gesellschaftlichen Bühne und spürt, gerade weil er nichts spürt vom eigentlichen, vom schmerzfreien Verfahren der Durchleuchtung: das ist alles nur „show“.

Technik kann am besten, was nur Technik kann. Sofort leuchtet die Herkunft des visuellen Beherrschungs-Systems aus der Ballistik ein. Man will mit Scannern Ziele orten, nicht in verborgene Bereiche vordringen. Warum jemand Sprengstoff oder Messer mit in ein Flugzeug nehmen will, interessiert den Beamten hinter dem Scanner nicht. Sein Job ist, ihn zu entwaffnen. Wer keine Waffen trägt, hat auch nichts zu leiden. Die Logik des allgemeinen Verdachts lautet daher: Das „Lesen“ der Oberfläche tut niemandem weh. Also ist es allen zumutbar. Doch wie sehr man auch hinstarrt: Das Problem selbst wird nie zu erkennen sein.

2. Londonistan

Das Problem hat einen Namen: Londonistan. Der unbekannte Schöpfer des Neologismus hat damit ursprünglich London als „sicheren“ Zufluchtsort für legendäre Gestalten des „globalen Terrorismus“ gemeint, wie Abu Qatada, den aus Afghanistan stammenden Araber, der Anfang der 1990er Jahre zusammen mit Abu Hamsa al-Masri und Omar Bakri einen Kreis sogenannter radikaler Salafisten bildete. Die salafistische Richtung der Dschihad-Bewegung, der auch Osama Bin Laden angehört, betrachtet Parlamente als eine „kritikwürdige Neuerung, die dem Islam der frommen Altvorderen (al-salaf al-salih) widerspricht“5. Qatada hat von Oktober 2002 bis März 2005 im Londoner Gefängnis Belmarsh eingesessen.

Der Begriff Londonistan hat sich unterdessen von seinen „Stiftern“ abgelöst. Nach den Anschlägen in der Londoner U-Bahn im Sommer 2005 steht Londonistan für die Angst der weißen Bevölkerung vor dem Hass der Fremden, dessen Gründe sie nicht verstehen will – der blinde Fleck des Empire. Die postkoloniale Gesellschaft, der ohnehin jede eigenmächtige Entwicklung der von ihr Kolonisierten ein Rätsel aufgibt, blendet Konflikte mit religiösem, ethnischen oder anderen, ihren Interessen zuwider laufenden Hintergründen aus ihrem Diskurs aus und schafft durch die Erhaltung des Problems neue Märkte. Londonistan: die Angst der Weißen vor dem „Feind im Innern“. Londonistan: die Legitimation der Regierung, den hundertäugigen Hund loszulassen.

3. Terrorism Act

Am 14. Mai 2008 benachrichtigte laut der Tageszeitung Guardian6 ein Mitarbeiter der Universität Nottingham die Polizei, weil er auf dem Rechner des Systemadministrators Hisham Yezza ein 1500 Seiten starkes Dokument mit Trainingsanleitungen aus dem Umfeld von al-Qaida gefunden hatte, das zum freiem Download zur Verfügung steht. Der 22-jährige Student Rizwaan Sabir hatte es dort abgelegt, um es auszudrucken. Sabir, der eine Forschungsarbeit über taktische Unterweisungen von Terroristen schreibt, hatte das Dokument von der offiziellen Website einer nicht näher bezeichneten US-Behörde herunter geladen. Er konnte aber den Preis für die Fotokopien nicht aufbringen. So bat er seinen algerischen Kollegen Yezza um Unterstützung beim Ausdruck.

Rizwaan Sabir

Sabir und Yezza wurden mit Hinweis auf den „Terrorism Act“ sechs Tage in Haft genommen, bis man die Anklage fallen ließ. Zwischenzeitlich durchsuchten Spezialeinheiten die Wohnung von Sabirs Familie, beschlagnahmten und analysierten deren Computer und Mobiltelefone. Sabir ist ohne Verurteilung wieder auf freien Fuß, nachdem er ein Papier unterzeichnet hat, in dem er bestätigt, dass es sich bei dem Trainingsmanual um ein „illegales Dokument“ handelt, das nicht für Forschungszwecke verwendet werden darf. Sabir, der von „psychologischer Folter“ spricht und dem Gefühl, „in Belmarsh zu enden“, gibt an, dass er noch unmittelbar vor der Entlassung geschlagen wurde.

Yezza trifft es schlimmer: bei einer parallel laufenden Überprüfung seiner Papiere stellt die Behörde fest, dass der seit 13 Jahren in Großbritannien lebende Universitätsangestellte keine gültige Aufenthaltsgenehmigung besitzt. Direkt aus dem Gefängnis wird er nach Colnbrook ins „Immigration Removal Center“ verlegt, wo er nun der Ausweisung entgegensieht.

Der zuständige Fachbereichsleiter der „School of Politics and International Relations“, Alf Nilsen, befürchtet „schwere Menschenrechtsverletzungen“, falls Yezza wegen seiner Verwicklungen in diesen Fall nach Algerien ausgeliefert würde. Sally Hunt von der University and College Union UCU kommentiert: „Wenn wir uns ernsthaft mit Problemen wie Extremismus und Terrorismus auseinandersetzen wollen, dann müssen wir uns sicher fühlen – eine unverzichtbare Voraussetzung, um einen Gegenstand in die Tiefe zu untersuchen und ein besseres Verständnis gewinnen zu können. Das Letzte, was wir brauchen, sind verängstigte Forscher, die sich nicht trauen, ein Thema anzupacken, weil sie fürchten, dafür verhaftet zu werden.“

Der Sprecher der Universität Nottingham verteidigt zwar die Entscheidung, bei „derartigem Material“ die Polizei hinzuzuziehen, gesteht aber ein, dass ein „registrierter Student mit gutem Grund jede Art von Material beziehen darf, dass sein Studium erfordert, wenn auch mit der Erwartung verbunden, sensibel damit umzugehen und es nicht an Hinz und Kunz weiter zu schicken.“

In den Händen von Hinz und Kunz, die in der britischen Nomenklatur westliche Namen tragen („Tom, Dick und Harry“), könnte sich die Unterweisung in terroristischer Taktik, so die erstaunliche Logik einer akademischen Einrichtung, schnell in „angewandte Forschung“, zu einer Gefahr für die Innere Sicherheit verwandeln. Wenn dieser Schluss gilt, welchem Zweck mag dann das Dokument auf der allgemein zugänglichen Website einer US-Behörde gedient haben? Inzwischen ist ein guter Überblick über den Fall und ein Interview mit Sabir online verfügbar.

4. Mode der Sicherheit

Anziehen und Ausziehen ist die praktische Seite einer Dialektik der Sicherheit im Alltag eines Staates, der sich ständig bedroht fühlt. Beginnend am Flughafen, wo für die Schuhe der Reisenden ein eigenes Transportband eingerichtet wurde. Vor Betreten jedes Tante Emma Ladens fordert ein Hinweis neben dem Videoüberwachungszeichen dazu auf, Mützen und Kapuzen abzusetzen. London hat ein „Messer-Problem“. Am „bank holiday“, dem langen Wochenende Mitte Mai 2008, starben ein gutes Dutzend junge Leute durch Stiche. Fast einhellig lautet die Begründung: ich hatte ein Messer dabei, weil alle anderen ein Messer dabei haben und ich fühle mich nicht sicher, wenn ich ohne Messer ausgehe.

Die Spirale der Angst. Auf dem Weg quer durch W 1, das Londoner Innenstadtviertel, begegnet man etwa 400 oder 500 Wachdienstleuten, die kugelsichere Kevlarwesten tragen. Wenn man einmal anfängt darauf zu achten, ist es verblüffend, wie viele verschiedene Modelle auf dem Markt sind. Man kann nur schätzen, aber nicht weniger als 40 verschiedene Schnitte sind allein auf diesen wenigen Metern im Einsatz, teilweise sehr modisch „slim fit“, angenehm tailliert, teilweise martialisch wie Rüstungen. Aus dem Angebot lässt sich die Nachfrage ablesen. Es kann nicht mehr lange dauern, dann werden Burberry´s nachziehen und gepanzerte Regenmäntel anbieten. Oder man kauft im „TopShop“ durchstichfeste und dennoch luftige Twinsets für das rundum geschützte Tanzwochenende.

Auch das Rauchen stellt ein Sicherheitsproblem dar: beim Betreten einer Disco in London findet wie fast überall eine ausführliche Leibesvisitation statt. Hier würde sich Mode anbieten, die gleich von vornherein jene Zonen frei lässt, die sonst besonders zeitaufwändig untersucht werden müssen. Denn seitdem das Rauchverbot in Innenräumen in Kraft ist, müssen insbesondere starke Raucher und deren Freunde sich ein dutzend Mal am Abend abtasten lassen. Wer viel Platz vor der Tür hat, was in London äußerst selten ist, stellt einen Käfig auf, in den die Raucher von innen hineingelangen können. Der Käfig muss aber so engmaschig sein, dass man von außen kein Messer durch die Gitter durchreichen kann. Weil das aber wegen der zum ungehinderten Abzug von Rauch nötigen Maschenweite fast unmöglich ist, steht auch in den Käfigen ein Türsteher mit Kevlarweste und passt auf die Raucher auf. Raucher werden so automatisch doppelt zur Gefahr für die Gesundheit und ganz allgemein suspekt.

Dank „path intelligence“, einem seit Mai 2008 in Großbritannien zulässigen Mobiltelefon-Ortungs-System, weiß die Kaufhaus-Leitung, die es einsetzt, genau, wann und in welcher Abteilung ihre Kunden die schicken Schutzwesten geshoppt haben und ob sie deutsche, russische oder englische SIM-Karten beim Kauf mitführten! Der Betreiber einer „path intelligence“-Anwendung nutzt „grundlegende Informationen wie die IMSI-Kennung und damit etwa auch die Provider-Anbindungen der Telefonbesitzer aus, um zu erkennen, welche Peilungen sich auf dasselbe Gerät beziehen. Erklärter Zweck der Übung ist die Ermittlung von Bewegungsprofilen, einerseits um festzustellen, wie oft ein Kunde im Laufe von Wochen und Monaten in bestimmten Läden auftaucht, andererseits anscheinend auch, um seine Bewegungen innerhalb eines Ladens auf wenige Meter genau nachzuvollziehen.“7

Will man ausreichend häufige Peilungen für eine verlässliche Innenraum-Lokalisierung durchführen, „muss man dem Mobilgerät entsprechende Vorgaben machen, etwa durch das Vorspiegeln fast unbrauchbarer Empfangsverhältnisse oder durch gezielte wiederholte Login-Aufforderungen, sogenannte Identity Requests. Letztere Vorgehensweise verfolgen geheimdienstliche Fahndungsgerätschaften wie der IMSI-Catcher, der sich in die Kommunikation zwischen Handy und Sendemast einschmuggelt und auch das Abhören von Telefonaten ermöglicht. Sein Einsatz ist in Deutschland nur auf richterliche Anordnung im Rahmen der Terrorbekämpfung zulässig.“ Noch!

5. London Underground

Wo „path intelligence“ mit einer bezahlbaren Präzision für Ortung in Räumen ganz am Anfang steht, ist RFID bereits am Ziel. Die nur wenige Cent teuren hauchdünnen Chips stecken nicht nur als elektronischer Ersatz für Schlüssel in Portemonnaies, oder als Diebstahlsicherung in Rasierklingenpäckchen, sowie in Waren von Bekleidungsherstellern, die mit Scannern an engen Durch- oder Ausgängen ebenfalls Kundenbewegungen im Kaufhaus messen.

RFIDs befinden sich heute auch in jeder Oyster-Card, der Standard-Monatskarte für den öffentlichen Nahverkehr. In Millionenstückzahl im Umlauf, tippt jeder Besitzer einer Oyster-Card täglich vielfach auf das Lesefeld vor den U-Bahn-Schranken oder im Bus und hinterlässt dabei seine Kennung: Bausteine einer technischen Machbarkeit von Rasterfahndung in einer Dimension, die bei der Erfindung des Begriffs vor weniger als 40 Jahren nicht vorauszuahnen war. Doch die Zukunft des Systems liegt nicht allein in der höheren Auflösung, noch in seiner immer größeren Verbreitung.

Peter Kennard & Cat Picton Phillipps: Control Room. © Peter Kennard & Cat Picton Phillipps 2008

Die Zukunft liegt eindeutig in der fast beliebigen Kombinierbarkeit mit anderen bereits funktionierenden Technologien zur Verfolgung und „Neutralisierung“ von potentiellen Straftätern. Die Schockwaffenfirma Taser Inc. bietet beispielsweise eine Kombination aus Videoüberwachung und TASER-Pistole an. Die Anlage zoomt und feuert über die gleiche Konsole. Die deutsche Waffenfirma Diehl Munitionssysteme hat gar einen Schnellfeueraufsatz für einen Panzer umgerüstet auf „nicht-tödliche“ Gummikugeln. Diehl schlagen zum Schutz vor Hooliganismus vor, diesen in Verbindung mit hoch auflösendem Video und einer Software zum Abgleich der Aufnahmen mit einer biometrischen Bilddatei in Fußball-Stadien einzusetzen: „search and destroy“ in einem Vorgang. Die Automatisierung solcher Prozesse ist ein weiterer Ausbauschritt: verlässlicher und schneller als der Mensch ahndet das kombinierte System den Verstoß gegen Recht und Ordnung.

Dabei überholen die Systeme dank digitaler Parametrierbarkeit, für die Null nur ein Wert auf einer nach unten und oben offenen Skala ist, gewissermaßen die Zeit: präventive Gefahrenabwehr ist nicht länger ein Schlagwort von Verfechtern der „zero tolerance“-Strategie, sondern technisch machbar.

Aber ist aufwändige Technik – genauer gesagt: technische Superiorität über den Feind – überhaupt ein aktuelles Konzept? Ursprünglich ist diese Form von Überlegenheit über den Feind ein Ergebnis des Kalten Kriegs. In einer Situation, in der zwei konkurrierende Supermächte zugleich über das Know-How verfügen, eine Vernichtungskraft freizusetzen, die zum sofortigen Ende aller Geschichte führt (Atombombe), ist nur eine Wettrüsten ad infinitum, das zu einem ewigen Patt führt, eine gewisse Garantie fürs Überleben.

Albert Wohlstetter hat das 1958 eine „delikate Balance des Terrors“ genannt. Die gemeinte Balance basiert auf dem Misstrauen gegenüber Bündnispartnern und dem Vertrauen auf eine „kleine Anzahl Bomben und eine kleine Anzahl von Flugzeugträgern, die sie tragen.“8

Einen weiteren Klassiker der Sicherheitsdoktrin, sozusagen das Manifest des Irrglaubens an die technische Überlegenheit, hat 1970 der österreichische Ökonom und CIA-Mitarbeiter Stefan T. Possony verfasst, gemeinsam mit dem Science Fiction Autor Jerry Pournelle. Ihr Text „The Strategy of Technology“ blieb über viele Jahre Pflichtlektüre für alle Offiziere im US-Militärdienst.

Ihre Theorien gründen in der fixen Existenz in etwa gleichstarker und geostrategische einander gegenüber liegender Machtblöcke. Mit dem Ende des Kommunismus bricht der Widerspruch zusammen, der beide Systeme über den Wettbewerb auf dem Feld der Technik letztlich in eins zwang.

Nun haben es beide Großmächte, die USA und der Nachfolgestaat der Sowjetunion, plötzlich mit „asymmetrischen Konflikten“ zu tun, mit nahezu unsichtbar kleinen, vereinzelten oder aus kleinsten Zellen heraus handelnden, und dennoch äußerst wirkungsmächtigen Feinden. Sie operieren aus dem Innern des Landes, das sie bekämpfen, aus dem öffentlichen Raum der Großstädte heraus: dort, wo sich kaum einer so gut auskennt, wie sie selbst. Dort, wo jeder Schutz vor Gewalt vergebens ist. Man kann diese Sorte Feinde wohl kaum zum Heraustreten aus ihrem operativen Dunkel bewegen, da es ihnen offenbar nicht oder nicht in erster Linie um eine sofortige Übernahme der Macht geht.

Die Form des Selbstmordattentates radikalisiert das schwierige Verhältnis noch weiter. Die Sprachen der Kontrahenten unterscheiden sich in jeder Hinsicht so stark, dass ältere Formen der politischen Annäherung, wie Verhandlung, Konzession, Embargo, Friedensschluss oder Waffenstillstand sämtlich vollständig ins Leere greifen. Spätestens, seit Osama Bin Laden und seine al-Qaida das neue Dogma von der Priorität, den „fernen Feind“ (USA, UK) zu bekämpfen, verkündet haben, leben nicht nur die Briten und Amerikaner im ständigen Bewusstsein, dass es lediglich eine Frage der Zeit ist, wann der nächste Vernichtungsschlag eine europäische Metropole ereilt. Afghanistan ist weit. Londonistan ist überall um uns herum.

6. What are you looking at?

Wie weit auch immer sich diese Schrecken bei nüchterner Analyse auf wirkliche Gefahren herunter brechen lassen, und unabhängig davon, welche tatsächliche Größenordnung man der Gefahr zuordnen muss – die Gegenschläge sind bereits geführt. Sie treffen notwendig auch die, zu deren Schutz sie dienen sollen. „What would you give for security?“ trällerte es bereits 1973 in einem Popsong von dem Exildeutschen Gershon Kingsley, heute aktueller denn je.

Was würdest du für die Sicherheit aufgeben?
Dein Recht auf freie Meinungsäußerung? Dein Recht auf Forschung?
Auf Versammlung und Demonstration?
Was ist dann noch ein Menschenrecht?
Oder der Wert von Demokratie?

Gegenschläge sind selten konstruktiver Natur. Fast alle Maßnahmen, zu denen eine westliche Kultur quasi automatisch greift, sind - wie noch zu Zeiten des Kalten Kriegs - technologisch, wie absehbar vordergründig ihre Wirkungsweise auch sein mag. Technik und Propaganda ergänzen sich dabei prächtig, unterstützt von Medien, für die jede Spur eines Anschlags erhöhte Auflagen bedeutet. Am 28. Mai 2008 beispielsweise zeigt „The London Paper“, die in hoher Auflage verbreitete Gratiszeitung der Londoner U-Bahn, halbseitig eine Computer-Animation, die angeblich auf einem al-Qaida nahe stehenden Internetforum gefunden wurde. Das Bild zeigt eine dramatisch grau-grün getönte Szene von Washington DC nach einem Atombombenangriff durch al-Qaida.

Hätte der Grafiker nicht einen Teil der Kuppel des White House stehen gelassen, man hätte denken können, es sei ein nachkoloriertes Bild von Hiroshima. Den ganzen Tag lang sieht man bei jeder Fahrt in der gepresst vollen U-Bahn Hunderte von Mitreisenden, die sich das strategisch gut auf der Rückseite der Zeitung platzierte Bild vors Gesicht halten. Der Zeichner hätte sich den Effekt seiner kleinen grafischen Spielerei nicht besser wünschen können. Auf dem Internet-Forum mögen das Bild einige Hundert Fanatiker angeschaut haben. Jetzt kennen es Millionen und fühlen: jeder Preis ist recht, um das zu verhindern.

Dass aufmerksame Blogger von watchingwashington.blogspot.com einige Wochen später feststellen, dass der Lieferant des Bildes, die SITE Intelligence Group, entweder auf einen Hoax reingefallen ist oder absichtlich ein falsches Foto lanciert hat, ist keine Meldung mehr wert: die Animation stammt nun tatsächlich überhaupt nicht von Terroristen, sondern aus dem Spiel Fallout 3, die ihr Programm mit dem Satz „Amerikas erste Wahl für Simulationen von Atomwaffenanschlägen“ bewerben. Aber solche Erkenntnisse sind politisch eben uninteressant in einer aufgeheizten Atmosphäre von Angst und Heimatsicherheit.

Insofern ist die Animation niemandem hilfreicher als dem westlichen Regime, unter dessen Pressefreiheit sie erscheint. Sie ist die beste Begründung für jede Form der Einschränkung von Rechten, die wertvollste Legitimation aller Kosten von Aufrüstung. Die der medialen Präsentation des Bildes immanente Verzeichnung von Verhältnissen, die Vernachlässigung, ja Umkehrung von Ursache und Wirkung ist – ganz jenseits einer unerlässlichen, sicher aber noch zu führenden Debatte über religiösen Fanatismus und Terror – der Anfang einer nachhaltigen Verformung unserer Gesellschaft. Was die Verformung bewirkt, schleicht sich ein als Rettung und Hilfe. Alle dazu zählenden Maßnahmen etablieren sich allmählich fest in unserem Bewusstsein davon, was wir für wichtig und unverzichtbar halten. Und wenn wir uns eines Tages in der verformten Welt nicht mehr zurecht finden oder unwohl fühlen, ist alles bereits lange geschehen, parlamentarisch abgesegnet und gesetzlich fixiert, mit anderen Worten: unumkehrbar geworden.

In London, wo seit den Anschlägen die U-Bahn zum Ort traumatischer Kollektiverlebnisse geworden ist, gehen all diese Neuerungen früher und einfacher durch, als an Orten, die noch in der Unschuld einer Welt leben, die nicht um die Achse des Bösen rotiert.

Die ubiqitären Videokameras in britischen Bussen, Bahnen und auf Plätzen werden daher nicht als Einschränkung der Freiheit begriffen, sondern vielmehr als deren Garant. Und das, obwohl sie nachweislich quantitativ nicht die Kriminalitäts-, sondern nur die Aufklärungsrate verbessert, sowie die räumliche Zuordnung von Verbrechen verschoben haben. Die aus der Kriminologie schon lange bekannte Differenz zwischen Sicherheit und Sicherheitsgefühl mag deswegen eher der Grund dafür sein, das Modell London zum Vorbild zu nehmen. Für den Sommer 2008 schreibt die Stadt Mexiko City den größten bekannten Auftrag in Sachen Videoüberwachung aus, der je von einer Regierung auf einen Schlag vergeben wurde. 350.000 Kameras sollen in ein CCTV-Netzwerk integriert werden. Das ist so viel Hardware, dass weltweit nur drei Firmen mit bieten können. Wenn das Schule macht, muss der Markt der Sicherheitsanbieter noch neue Kapazitäten kreieren.

Der politisch engagierte „street art“-Künstler Banksy hat sich seit vielen Jahren immer wieder mit dem Phänomen der „surveillance“, seinen gesellschaftsverändernden Auswirkungen befasst. Einmal hat er nachts künstliche Krähen auf einem Mast mit Videokameras montiert. Einige Nachbarn rund um den Ort der Aktion waren überzeugt, das sei im Auftrag der Regierung geschehen. Denn im Viertel habe man sich schon so an die Präsenz der Kameras gewöhnt, dass niemand mehr hoch schaut. Nun könnten die ungewohnten Krähen dazu verführen, wieder das eigene Gesicht direkt in die Kamera zu halten.

Banksys vielleicht bekannteste Arbeit zum Thema Überwachung ist ein Schriftzug, mit einer Schablone auf eine riesige nackte Wand gesprüht, auf die scheinbar sinnlos eine einsame Kamera blickt. Der Text lautet: „Was beobachtest du?“ Die wahrscheinlichste Antwort ist autoreferentiell: „Den steigenden Umsatz.“ Die Besorgnis erregendste jedoch wäre: „...wie ihr euch verändert.“