Die Schützengräben in Mittelerde und die Moral der Bilder
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Der Dokumentarfilm "They shall not grow old" von "Herr der Ringe"-Regisseur Peter Jackson ist ein spannender, sehenswerter Film für Interessierte - und trotzdem ganz falsch
Sie schauen uns an. Sie kämpfen, sie wollen die "Germans töten", sie wollen ihrem Land "dienen". Oder dem König. Oder dem Empire. Britische Soldaten im Ersten Weltkrieg. Mal wird gekämpft, mal wieder herumgealbert, ausgeruht, gegessen, viel marschiert. Man erzählt eigene Erfahrungen. Innenansichten des Krieges.
"They shall not grow old" ("Sie werden nicht alt werden) ist ein Dokumentarfilm, der komplett aus historischem Archivmaterial stammt. Montiert und inszeniert hat ihn der "Herr der Ringe"-Regisseur Peter Jackson.
Auf der Höhe neuester Effekte
Der Film bringt uns alles nahe, aber paradoxerweise wirkt es gerade dadurch fern. Wie der Blick auf Aliens. Die Nähe der Darstellung funktioniert wie ein Verfremdungseffekt. Wir sehen Menschen, mit denen wir nichts gemeinsam haben.
Nichts ist falsch an diesem Film, nichts ist wirklich neu, alles ist interessant, weil diese Bilder, zumindest historisch Interessierte immer wieder fesseln. Sehr vieles kann man seit Jahren jederzeit sehen: Wer sich die kleine Mühe macht, die öffentlich einsehbaren, als "open content" rechtefrei zugänglichen Internet-Archive in den USA zu konsultieren oder sich einfach auf YouTube bewegt und dort zum Beispiel die 26-teilige BBC-Serie "The Great War", zum 50. Jubiläum aus dem Jahr 1964 ansieht, der wird vieles wiedererkennen.
They Shall Not Grow Old (11 Bilder)
Was neu ist: Das Arrangement dieser Bilder. Ihre Einfärbung: Aus Schwarzweiß wird Farbe, mit Pastellfarben zugleich auf gelbgrüne Patina und "historisch" getrimmt. Ihre Reinigung per moderner Computertechnik. Und digitale Umrechnung in 3-D. Vor allem aber: Der Ton. Jackson vertont den Ersten Weltkrieg auf der Höhe neuester Effekte.
Für seinen Film hat Jackson mit dem "Imperial War Museum" in London gearbeitet. Er hat unglaubliches Archivmaterial mit Tonaufnahmen aus dem Fundus der BBC kombiniert. Die Hauptfrage, die dieser Film aufwirft, ist die nach der Moral der Bilder.
Der Krieg als Massenerfahrung und der Pointillismus der Bilder
Die Moral der Bilder. Für Normalzuschauer mag die Frage danach im ersten Moment reichlich akademisch erscheinen.
Aber genauso wichtig wie die Frage danach, was gezeigt werden darf, ist auch die danach, wie man es zeigt: Wann sind Eingriffe gerechtfertigt, weil sie die Bilder "verbessern", das Erlebnis "steigern", ab wann beginnen Manipulation und Propaganda? Und: geht es überhaupt um das Erlebnis? Sind Gefühl und Emotion beim Publikum wichtig? Warum?
Es sind solche prinzipiellen Fragen des Filmemachens, die Peter Jacksons Film berührt und für sich in bestimmter Weise beantwortet.
Und wir alle wissen: In Zeiten von "Fake News", und "postfaktischer" Politik kann der Umgang mit historischem Bildmaterial und der Eingriff in es nicht unbekümmert sein.
Der Film ist, auch wenn er von der Vergangenheit handelt, ganz und gar gegenwärtig. Klar: er wurde heute gemacht, von einem Zeitgenossen, für das Publikum der Gegenwart. Er holt Millionen von Menschen, die heute alle tot sind, für Augenblicke in die Gegenwart zurück, ja: Er erweckt sie auf sonderbare Weise zum Leben. Das ist die einzigartige Magie des Films, die sich nur im Kino richtig entzündet - an dem Ort, an dem wir ganz und gar in die Bilder eintauchen und im Dunkel mit dem Licht der Leinwand verschmelzen.
Der Zeitgeist der Diversität und der politisch-korrekten Gerechtigkeit des "Repräsentierens" von allem und jedem bildet sich ebenfalls ab: Man hat großen, und vielleicht etwas zu großen, Wert darauf gelegt, jeder beteiligten Bevölkerungsgruppe ihr eigenes Kapitelchen zu geben: Briten parzellieren sich in Schotten, Waliser, Nordiren, Iren und nicht zu vergessen: Engländer.
Dazu kommen die Soldaten aus Schwarzafrika, Indien, China, Indochina; dazu kommen Kanadier, Südafrikaner, Australier, und Jacksons eigene Landsleute: Neuseeländer. Dazu Tiere. Die Liste ist noch immer unvollständig. Das kann ermüden. Der Krieg als Massenerfahrung geht hinter solchem Pointillismus oft verloren.
Zugleich fehlt alles Mögliche: Bis auf den Prolog und einen Epilog geht es nur um die Westfront 1914 und 1918, also um die britische Erfahrung. Weder der Osten kommt vor noch der Orient noch die Kolonien noch die Kriege in Ostmitteleuropa, die auf die bolschewistische Revolution 1917 folgten und bis in die frühen 1920er andauerten. Jackson aber will weder andere Nationen zeigen noch Kriegsverweiger und kaum Zivilisten, Frauen, Kinder. Im Mittelpunkt steht die Front. Das Kriegserlebnis. Das ist einseitig, aber konsequent. Fazit: Ein spannender, sehenswerter Film für Interessierte. Den Blick auf die Historie wird er nicht verändern.
Der Film handelt vom Krieg und was der mit den Menschen macht. Man kann da nicht anders, als auch an die Kriegsschauplätze der Gegenwart zu denken, und an die Kriege, die noch kommen werden. Vielleicht wird man in hundert Jahren so einen Film über die Iraner zeigen, über Amerikaner, über Flüchtlinge.
Was aber machte der Krieg mit Tolkien?
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