Die Schützengräben in Mittelerde und die Moral der Bilder
Seite 2: Frodo an der Front
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"Ein Ring sie zu knechten, sie alle zu finden, ins Dunkel zu treiben und ewig zu binden" - man muss kein Fan sein, kein Leser der Fantasy-Romanvorlagen des englischen Alt-Philologie-Professors und Schriftstellers John Ronald Reuel Tolkien (1892-1973), und man muss noch nicht mal einen der vielen Tolkien-Filme von Peter Jackson gesehen haben, um diese Sätze zu kennen und sofort an "Der Herr der Ringe" zu denken.
Tolkien und seine Verfilmungen sind ins kollektive Gedächtnis unserer Gegenwart eingegangen, globale Klassiker. Offenbar trafen sie ins Herz der Zeit und einer globalen Gemeinschaft, die auf das (vorläufige) Ende der Utopien und der Hoffnungen nach dem Freiheitsjahr 1989 und auf die Weltbilderschütterung im Terror des "11.September 2001" mit der Flucht in Gegenwelten reagierten - und mit neuen Mythologien.
So eine ist das Universum von "Der Herr der Ringe" und wenn Dome Karukoskis Film "Tolkien" nur eines beweist, dann dass Fantasy niemals das ist, was naive Geister "reine Unterhaltung" nennen. Von der Welt aus der sie stammt, ist Fantasy nicht zu trennen, je mehr sie auf die Massen zielt und sie ergreift, um so unmittelbarer ist sie das Kind der Zeit und der Epoche, auf deren Reflexe und untergründige Bedürfnisse sie reagiert.
Darum gehört es zu den interessantesten Fragen, die dieser Film in seinen Zuschauern zurücklässt, was es denn wohl ist, was unsere saturierte Wohlstandswelt mit den Jahren des Zusammenbruchs verbindet, in denen das Alte Europa des 19.Jahrhunderts in den "Stahlgewittern" der Westfront und den fallenden Imperien des Ostens zerbarst?
Neues von der Hobbit-Franchise
In jedem Fall ist Tolkien ein gutes Geschäft für Film- und Verlagsbranche. Und darum ist die "Frodo-Franchise" jetzt wieder im Kino unterwegs. Nachdem Tolkiens Romane in den vergangenen 20 Jahren alle verfilmt wurden, kommen jetzt offenbar die Sachbücher dran. "Tolkien und der Erste Weltkrieg" heißt das gründlich recherchierte Werk des Historikers John Garth, das die Fakten-Grundlage für diesen Film bildet - der zugleich alle Register zieht, die das Kino von der Literatur unterscheiden: Manipulation und visuelle Überwältigung, surreale Bewusstseinsstrombilder machen das Kino zur (Alb-)Traumfabrik.
Alles setzt im England Ende des 19. Jahrhunderts ein, der Hochzeit eines viktorianischen Königreichs, das noch nicht weiß, dass es 20 Jahre später mit allem vorbei sein wird, dass Kolonien und Klassengesellschaft ebenso zerfallen werden wie die heuchlerische Moral des Puritanismus, auf die man noch so stolz ist.
Auch Tolkien (Nicholas Hoult) soll zu einem funktionierenden Elite-Rädchen in der Maschinerie des Empire werden. Er besuchte das noble College Exeter in Oxford, knüpfte Freundschaften mit Geoffrey (Anthony Boyle), Robert (Patrick Gibson), Christopher (Tom Glynn-Carney) und Sam (Craig Roberts). Kunst und Poesie beschäftigen die braven Jungs, und J.R.R. empfindet eine erste Liebe zu Edith Bratt (Lily Collins).
Der Film ist jetzt eine Filmbiografie des britischen Schriftstellers und handelt vor allem davon, wie Tolkien nun zu dem wurde, als den wir ihn kennen: Professor in Cambridge, spezialisiert auf frühmittelalterliche Literatur und Autor höchst erfolgreicher Fantasy-Romane.
Nachdem eine ganze Weile ziemlich brav und bieder Kindheit, Jugend und frühestes Erwachsenenleben portraitiert werden, wird mehr illustriert als gezeigt, welche persönliche psychologische Funktion die Fantasy für ihn hatte. Sie bildete nämlich ein perfektes Mittel für Eskapismus: Denn der junge Mann beginnt ausgerechnet während des Ersten Weltkriegs damit, erste Entwürfe der mythischen, zauberhaften Welt von Mittelerde zu skizzieren, mitten in jener allgemeinen Entzauberung, aus der die Moderne hervorging.
Das Schlüsselerlebnis eines Gasangriffs im Ersten Weltkrieg traumatisierte Tolkien, und dieses Trauma hat er, so suggeriert es jedenfalls der Film, in seinen Romanen verarbeitet. Indem er sich in die Philologie der mittelalterlichen englischen Literatur zurückzog und zudem in seinen eigenen Romanen eine Art komplette Gegenwelt entwarf, mit Karten und einer eigenen Geschichte, floh Tolkien gewissermaßen aus der richtigen Welt.
Darum erzählt der Film eine Menge über Fantasy. Er zeigt nicht nur, dass Fantasy etwas mit der realen Welt zu tun hat, und nicht von ihr komplett zu trennen ist. Er zeigt auch, wie sehr Fantasy eine Flucht- und Bewältigungsstrategie ist.
Die filmische Umsetzung der Kriegserfahrungen gehört zu den schwächeren Seiten des Films: simple Querverbindungen zwischen Erlebtem und Erdichtetem sollen effektvoll suggerieren, wie sich die Gasnebel über der Westfront in Drachenatem verwandeln, wie sich zwischen den zerfetzten Körpern der Gefallenen die dunklen Umrisse der Monster formen. Als wäre Tolkiens Dichtung eine Art Reflex auf den Krieg und Romanheld Frodo ein Alter Ego seines Autors. Dies ist daher auch eine Verniedlichung und Simplifizierung von Kunst.
Der Erste Weltkrieg als inneres Erlebnis liegt im Trend
Für die Herr-der-Ringe-Fans ist "Tolkien" daher auch nur begrenzt zu empfehlen. Hier wird vor allem die Herr-der-Ringe-Marke in Form von seichtem uninspiriertem Wohlfühlkino ausgequetscht. "Tolkien" ist alles, was sein Held selber nicht mochte. Tolkien selbst würde diesen Film über sich ganz und gar nicht mögen. Denn der Schriftsteller lehnte biografische Herangehensweisen komplett ab.
"Ich habe etwas gegen diese moderne Tendenz in der Kritik" schrieb er einmal, "mit ihrem übertriebenen Interesse an den Einzelheiten aus dem Leben von Schriftstellern und Künstlern. Sie lenken nur die Aufmerksamkeit vom Werk eines Autors ab."
Der Erste Weltkrieg als Erlebnis - dies zu zeigen scheint aber gerade ein Trend im Kino zu sein. Neben Peter Jacksons Dokumentation kam mit dem bezaubernden ungarischen Film "Sunset" eine weitere Geschichte aus dem Vorkrieg ins Kino. Der Erste Weltkrieg bleibt eben ein Schlüsselereignis der europäischen Geschichte - hier ging das Alte Europa komplett unter.
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