Die Schwierigkeit mit der Schnelligkeit
Über den Deutschen Kongreß für Philosophie in Leipzig
"Cognitio humana - Dynamik des Wissens und der Werte" lautete der Titel des diesjährigen Deutschen Kongresses für Philosophie, der, veranstaltet von der Allgemeinen Gesellschaft für Philosophie in Deutschland, vom 23. bis zum 27. September in der Universität Leipzig stattfand. Bei ihrem Bemühen, dem raschen Wandel der Welt begrifflich beizukommen, landeten die Philosophen unweigerlich auch bei Themen wie dem Hypertext, der Virtuellen Realität und dem Künstlichen Leben. Was dabei herausgekommen ist, hat Stefan Münker zusammengetragen.
"Was man nicht erfliegen kann, das muß man erhinken." (Freud)
Philosophie, sagte Hegel, sei dem Projekt verpflichtet, ihre Zeit in Gedanken zu fassen. Das klingt anspruchsvoll, und das war durchaus genauso gemeint. Auch nachdem der Anspruch sich als etwas zu stark erwies, haben Philosophen immer wieder versucht, der Hegelschen Vorgabe gerecht zu werden - und sie haben dabei Strategien entwickelt, das Scheitern ihres Versuchs mitzureflektieren. (Zumindest das haben Philosophen dem Hasen voraus: Sie wissen, daß die Welt immer schon vor ihnen da ist.) So auch anläßlich des XVII. Deutschen Kongresses für Philosophie, der unter dem Titel "Cognitio humana - Dynamik des Wissens und der Werte" vom 23.-27. September dieses Jahres in Leipzig stattgefunden hat.
Die vornehmlich technik- und wissenschaftsbedingte Dynamisierung unserer Zivilisation konfrontiert uns mit Problemen von Ungewißheit, Unsicherheit, Unübersichtlichkeit und Desorientierung, die durch eine bloße Anpassung unserer Wissensstandards und Rechtfertigungsstrategien nicht mehr zu bewältigen sind.
Die Veranstalter
Da keine Theorie in Sicht ist, die vermessen genug wäre, diese Lage einheitlich zu beschreiben, haben die Veranstalter einzelnen Aspekten Namen gegeben und die philosophischen Beiträge hierzu in fast dreißig Workshops und Kolloquien zusammengefaßt. (Und sowohl die Anzahl der Einzelveranstaltungen als auch die Vielfalt der Themen steht für den Versuch, wenn schon nicht das Ganze als solches, es doch in seiner zersplitterten Pluralität widerzuspiegeln. Merke: Bescheidenheit ist keine Primärtugend der Philosophen.)Den Veränderungen einer im raschen Wandel fortschreitenden Realität suchten sich die Kongreßteilnehmer unter anderem durch eine Auseinandersetzung mit der dynamischen Entwicklung ethischer Werte und ihrer Begründung ebenso wie wissenschaftlicher Theorien und ihrer Implikationen anzunähern.
In interdisziplinären Workshops wie dem zur Frage nach dem Zusammenhang von "Personalität und Hirngewebstransplantation" dokumentierte der Kongreß dabei die (viel zu seltene) Einsicht, daß philosophische Diskussionen mehr denn je auf den Blick aus dem Elfenbeinturm angewiesen sind. Ein entscheidender Motor gegenwärtiger Veränderungen unserer Lebenswelt - und damit auch des kulturellen Selbstverständnisses, mit dessen Reflexion es die Philosophie schließlich im wesentlichen zu tun hat - ist zweifellos die Entwicklung im Bereich der digitalen Medien und ihrer Technologien.
Dem Thema allerdings öffnet sich die akademische Philosophie nun langsam. Auf dem Kongreß fanden immerhin ein Kolloquium sowie ein Workshop über "Technische Kommunikation", Workshops zur "Technischen Welterzeugung" sowie über "Erkenntnisstile und Wissenschaftsformen der Informationsgesellschaft" und schließlich eine interdisziplinäre Veranstaltung über "Kommunikation und Wissenstranfer" einen Ort (- wenn auch in den Debatten nicht immer einen fruchtbaren Boden).
Nun ist das Verhältnis der Philosophen zu (ihren) Medien seit je ein gespanntes. Bereits Platon kritisierte die Schrift, ohne die wir nichts von ihm wüßten, nicht nur als dem Gedanken sekundär, sondern zugleich als dem Denken abträglich. Dahinter stand das Ideal einer reinen Wahrheit, die es unvermittelt auszudrücken gelte. Doch natürlich sind wir heute schlauer - und wissen spätestens seit Derrida um die konstitutive Rolle medialer Aufschreibesysteme für die Art und Weise, in der wir die Welt beschreiben und erkennen. Ja, gewissermaßen findet die Eingebundenheit in ein immer weiter wachsendes und in sich unendliches Geflecht intertextueller Bezüge, an der laut Derrida das Projekt einer abschließenden philosophischen Wahrheitsfindung immer wieder scheitert, in den hypertextuellen Welten des Internet ein materielles Pendant. So werden, wie es Mike Sandbothe in seinem Beitrag über Bild, Sprache und Schrift im Internet deutlich machte, "aus spekulativen Gedankenexperimenten ... unter den Bedingungen des Internet konkrete kulturelle Praktiken mit handfesten philosophischen Implikationen"
Die Aufdeckung dieser Implikation stellt eine ebenso wichtige wie spannende Aufgabe dar - zu deren Durchführung es allerdings eines differenzierten Blicks erfordert, wie ihn in seltener Ausnahme Elisabeth Parzer eröffnete, die der allzu oft halbseitig blindmachenden Euphorie dem neuen Schreibmedium des Hypertext die Verluste entgegenhielt, welche die Übertragung eines innerhalb des abendländischen Kulturkreises entwickelten Mediums auf andere Kulturen bedeuten kann: "Hypertext", so Parzer, ist nämlich keineswegs "nur ein Medium, das beliebige Inhalte transportieren kann, sondern er zwingt dem Inhalt auch eine bestimmte Form auf, die diesem nicht bloß äußerlich bleibt."
Für viele Philosophen allerdings bleibt die Beleuchtung philosophischer Aspekte der neuen Medien wohl auch weiterhin ein Anathema, was nicht zuletzt seinen Grund in einer tiefverwurzelten Technikfeindlichkeit der Geisteswissenschaftler hat. Immer noch, so Friedrich Kittler in einer anläßlich des Kongresses publizierten Diagnose über den Zustand der Philosophie unter maschinellem Konkurrenzdruck herrscht jener Geist vor, der es sich "zur Ehre an(rechnet), nicht auf dem technischen Stand zu sein". Das ist bedauerlich, aber nicht besonders originell: Es spiegelt vielmehr eine Gesellschaft wider, die im Umgang mit den neuen Medien unerfahren sich entweder euphemistisch zu ihren Möglichkeiten - oder aber skeptisch gegen ihre Gefahren positioniert. "Das multimdediale Zeitalter", so die richtige Diagnose von Gerhard Banse und Kätze Friedrich, wird nun einmal "gleichsam als »Traum« und als »Trauma« eingeläutet, wenngleich die Einschätzungen mehr auf Analogieschlüssen und hypothetischen Annahmen als auf gesicherten Erkenntnissen beruhen.
"Kaum ein Thema, bei dem die Erwartungen so gegensätzlich sind, wie das der virtuellen Realität. Erscheint sie den einen - beispielsweise im Gefolge von Jean Baudrillards Thesen über die faktische Vernichtung der Realität durch den virtuellen Schein - als Bedrohung, so gilt sie anderen als Chance zur Erweiterung ihrer Handlungs- und Wahrnehmungsweisen. Sabine Thürmel von der Siemens AG München versuchte in ihren Auführungen über die "Virtuelle Realität: der Computer als Erlebnismedium", die unterschiedlichen Positionen in eine differenzierte Ordnung zu bringen: "Virtuelle Realität und ihre virtuellen Welten", so ihr Fazit, "sind ... zugleich eigenständige Fiktionen, durch ihr Erfahrungspotential Konkurrenz zur materiellen Welt und in der Form virtueller Sozialisationsformen Teil der Lebenswelt." Nur dann, wenn die "virtuelle" erst als Konkurrenz zur nicht-virtuellen, "realen" Wirklichkeit verstanden wird, kann sie dieser auch zur Bedrohung werden. Das aber, möchte man meinen, muß nicht sein.
Was allerdings auch nicht sein muß - aber leider nur allzu gut die Phantasielosigkeit der Philosophie exemplarisch verdeutlicht -, ist der Versuch, die neuen Welten der virtuellen Realität wiederum ins Kalkül rationalistischer Wissenschaften einzubinden. Wie das gehen soll, demonstrierte Martin Fischer, der als Antwort auf die selbstgestellte Frage, "welche Konsequenzen sich daraus ergeben, daß diese Welten aus formalen Modellen erzeugt werden", die Antwort gab: "Der Computer liefert, wenn nicht grundsätzlich neue, so doch deutlich andere Möglichkeiten, auch soziale Prozesse einer Formalisierung und damit der Automatisierung und Normierung zugänglich zu machen [...] Virtuelle Welten sind kalkuliert, Handeln in virtuellen Welten ist kalkulierbar." Natürlich ist dieser letzte Schluß ein non sequitur. Aus ihm spricht der alte Traum, die Irrationalitäten menschlichen Lebens durch ihre Formalisierung unschädlich zu machen. (Ein Traum, wie ihn auch Leibniz, dessen 350. Geburtstag ebenso wie der 400. von Descartes dem Kongreß als ein unterschwelliger Leitfaden diente, unter dem Titel der "methexis universalis" geträumt hatte).
Die philosophisch spannendste - und wohl auch dem Phänomen angemessenste - These über die technisch erzeugten virtuellen Welten lieferte auf dem Kongreß Helmut Linneweber-Lammerskitten: "Die Möglichkeiten einer technischen Welterzeugung für ein Subjekt schafft die Basis einer sinnlichen Erfassung derjenigen Aspekte der (i) realen Welt, die zugunsten anderer Aspekte unrealisiert bleiben, i.e. sie erlaubt eine Erkenntnis von Möglichkeitsaspekten der realen Welt. Sie schafft gleichzeitig durch Modifikationen gemäß und innerhalb der unterschiedlichen Idealtypen eine Basis für die (ii) sinnliche Erfahrung des eigenen Selbst, wie es auch hätte sein können, i.e. sie erlaubt eine Erfahrung mit Bezug auf die Möglichkeitsaspekte des eigenen Selbst."
Es ist dieser Ausgriff in die Welten des Möglichen, welche die Diskussion um die virtuelle Realität mit der um die Formen Künstlichen Lebens verbindet - und der möglicherweise, so Marc-Denise Weitze, "eine neue Art zu philosophieren dar(stellt), in der Gedankenexeperimente der Form "Nehmen wir einmal an ..." ersonnen und getestet werden können."
Es wäre den Philosophen - und ihren Zuhörern und Lesern - zu wünschen, daß die Bereitschaft, solche Experimente des Denkens durchzuspielen, wächst. Den Wettlauf mit der Schnelligkeit der wandelnden Welt kann nur der gewinnen, der das Neue, das er zu erfassen sucht, nicht im Rückgriff auf bekannte, alte Methoden und Begriffe erschlägt. Dazu allerdings müßten die Philosophen sowohl den Mut zur Spekulation als auch den, sich ihrem ureigensten Gefühl, dem Staunen über die Welt, hinzugeben, neu gewinnen.