Die Steigbügelhalter

Deutschlands repressive Krisenpolitik ist maßgeblich für den Aufschwung der extremistischen Rechten in Europa verantwortlich. Aufstieg und Zerfall des "deutschen Europa", letzter Teil

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Wer kennt sie nicht, die unzähligen Plakate und Transparente auf Demonstrationen in Südeuropa, die Merkel oder Schäuble als neue deutsche Nazis - mit Hitlerbärtchen oder in SS-Uniformen - darstellen? Inzwischen scheint man sich auch in Deutschland an diesen Anblick gewöhnt zu haben; ganz so wie sich die Öffentlichkeit in den USA daran gewöhnt hat, dass die US-Fahne irgendwo in Südamerika oder dem Nahen Osten mal wieder bei Protesten verbrannt wird.

Dabei handelt es sich bei diesen Protestäußerungen selbstverständlich um Übertreibungen. Bei Merkel, Schäuble sowie dem Großteil des deutschen Politestablishments handelt es sich nicht um Nazis, sondern um Steigbügelhalter eines europäischen Faschismus des 21. Jahrhunderts. Eine korrekte historische Analogiebildung würde die deutsche Kanzlerin nicht als Adolf Hitler, sondern als Hindenburg, Heinrich Brüning, Kurt von Schleicher oder Franz von Papen darstellen. Es war die Politik des "Reichskanzlers" und "seiner" autoritären Präsidialkabinette, die dem Faschismus in der Spätphase der Weimarer Republik den Boden bereitete - genauso, wie nun das deutsche Sparregime in Europa der extremen Rechten immer neuen Auftrieb verschafft.

Die Parallelen sind offensichtlich - insbesondere zwischen dem gegenwärtigen Spardiktat, dem Merkel Europas Krisenländer unterwarf und der desaströsen Deflationspolitik des "Hungerkanzlers" Brüning während der Weltwirtschaftskrise in den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts.

Mit Notverordnungen (damals kannte man den Begriff des "Sachzwangs" noch nicht) und "eisernem Sparen" wollte Brüning mitten in einer schweren Systemkrise partout den deutschen Haushalt sanieren, was die üblichen desaströsen Folgen zeitigte, die uns gegenwärtig aus der südlichen Peripherie der Eurozone (siehe Teil 2 Der Zerfall des deutschen Europa) bekannt sind: Die durch die Sparmaßnahmen verstärkte Rezession und Deflation ließ die Steuereinnahmen einbrechen und das Haushaltsdefizit anwachsen, während zugleich Arbeitslosigkeit und Hunger um sich griffen und die üppig finanzierten Nazis ihre größten Wahlerfolge erzielten.

Bild: Norbert Aepli/CC BY 2.5

Es war nicht die Hyperinflation in den frühen 1920er Jahren, die den Aufstieg der NSDAP ermöglichte, wie es die historische Mythenbildung in Deutschland imaginiert, sondern eine gescheiterte "Sparpolitik" zu Beginn der 30er Jahre, die bereits die bürgerlich-parlamentarischen Entscheidungswege vermittels der Notverordnungen aushebelte, bevor diese von den Nazis abgeschafft wurden. Die Diktatur des Sachzwangs ging der Diktatur der extremen Rechten voran.

Und genau diese Konstellation findet sich derzeit auch in Griechenland wieder, wo mit der "Goldenen Morgenröte" eine brutale Nazipartei in den Startlöchern auf der Lauer liegt, um von einem Scheitern Syrizas zu profitieren und mit ihrem irren Programm dem Krisenirrsin zur Gänze zum Durchbruch zu verhelfen.

An Warnungen davor, dass Deutschlands Spardiktat in Griechenland zu einer Machtergreifung durch eine Neonazi-Partei führen könnte, mangelt es zumindest im Ausland nicht. Der Nobelpreisträger Paul Krugman warnte vor "Weimar an der Ägäis", indem er die offensichtlichen Parallelen zu der "Sparpolitik" der Weltwirtschaftskrise in der Endphase der Weimarer Republik und dem gegenwärtigen deutschen Spardiktat in Europa zog.

Ähnlich argumentierte der Spiegel-Online Wirtschaftskommentator Wolfgang Münchau, der ein Einknicken der griechischen Linksregierung vor dem Berliner Diktat als das "worst-case scenario" bezeichnete, da hiernach die "Goldene Morgenröte" als die einzige Partei übrig bliebe, die dieser Politik opponieren würde. Bezeichnenderweise wurde dieser Kommentar nicht auf SPON, sondern in der Financial Times publiziert.

Auch griechische Finanzminister Yanis Varoufakis äußerte sich bei seinem Deutschlandbesuch, ähnlich, als er Berlin aufforderte, Athen bei dem Kampf gegen die drohende Faschistische Gefahr zu unterstützen - und den sinnlosen Sparsadismus endlich einzustellen.

Deutschland tut hingegen alles, um dieses Szenario zu realisieren. Selbstverständlich geht es Berlin darum, die griechische Regierung zu diskreditieren und letztendlich in den politischen Bankrott zu treiben, um so ein Exempel zu statuieren. In diesem Jahr stehen Wahlen in den Krisenländern Spanien und Portugal an, und Merkel und Schäuble müssen verhindern, dass dort Kräfte ans Ruder kämen, die ebenfalls den Kurs des deutschen Europas infrage stellen würden. Deswegen will Berlin der Linksregierung in Athen das politische Überleben so schwer wie möglich machen.

Und deswegen findet Berlin europaweit auch willige Helfer bei der Isolierung Athens in all jenen Regierungen, die das Spardiktat mitgetragen haben und nun um ihre Wiederwahl fürchten. "Hoffnung ist ansteckend", bemerkte der Guardian anlässlich des Wahlsiegs der griechischen Regierung - und Berlin wird alles unternehmen, um diese Hoffnungen auf eine Alternative zu dem gigantischen preußischen Kasernenhof, in dem Europa von Schäuble und Merkel verwandelt wurde, im Keim zu ersticken.

Vom Neoliberalismus zum Rechtsextremismus: die Ideologie

Doch wieso kommen all diese rechtsextremen Gespenster der blutgetränkten europäischen Vergangenheit, in der im Namen der Nation und des Volkes die größten Menschheitsverbrechen begangen wurden, gerade in der gegenwärtigen Krise wieder zum Vorschein? Wieso erleben europaweit rechtsextreme und rechtspopulistische Bewegungen wieder einen derartigen Aufschwung, der offensichtlich - genauso wie während der frühen 30er Jahre des 20. Jahrhunderts - von dem Berliner Spardiktat noch befördert wird? Evident sind diese Zusammenhänge vor allem auf der ideologischen Ebene, wo ja zahllose Kontinuitätslinien zwischen Neoliberalismus und Rechtsextremismus bestehen.

Der historische Faschismus und Nationalisozialismus stellt, ebenso wie die gegenwärtigen Bewegungen der "Neuen Rechten", Krisenideologien dar, die auf eine terroristische und letztendlich eliminatorische Praxis zutreiben. Faschismus - ob nun der deutsche Nationalsozialismus, Francos katholischer Faschismus in Spanien oder die faschistische Diktatur Pinochets in Chile - ist eine offen terroristische Krisenform kapitalistischer Herrschaft. Rechtsextreme und faschistische Tendenzen gewinnen immer dann an Dynamik, wenn die bürgerlich-liberale kapitalistische Gesellschaft in eine ökonomische oder politische Krise gerät, die das Fortbestehen des Gesamtsystems gefährdet oder auch nur zu gefährden scheint (Weltwirtschaftskrise 1929, Sieg der Volksfront 1936 in Spanien oder Allendes Wahlerfolg 1970 in Chile).

Bei dieser rechten Krisenideologie in all ihren Schattierungen - von der deutschen AfD oder der Schweizer SVP über den französischen FN, bis zum ungarischen Jobbik und zur Goldenen Morgenröte - handelt es sich somit um "opportunistische Rebellionen", in denen nicht etwa die Überwindung des bestehenden Systems propagiert wird, sondern dessen extremistische Zuspitzung und Verhärtung.

Die Krise des Kapitalismus soll mittels einer terroristischen Entgrenzung des Kapitalismus - der für diese Gesellschaftsformation konstitutiven widerspruchsgeladenen Vergesellschaftungsformen - überwunden werden. Die rechte "opportunistische Rebellion" bringt somit einen "Extremismus der Mitte" hervor. Nicht das emanzipatorische Bemühen, das Bestehende zu überwinden, führt in die Barbarei, sondern der krampfhafte, ins Extrem treibende Versuch, am kollabierenden Bestehenden festzuhalten.

Der Begriff des Extremismus kann die Grundlagen dieser Krisenideologie - die im Bestehenden und scheinbar "Alltäglichen" wurzelt - aber nur dann erhellen, wenn er ernst genommen, und nicht nur als eine rein formale Begriffshülse verwendet wird, mit der in totalitarismustheoretischer Diktion Kräfte an den Rändern des politischen Spektrums belegt werden. Stattdessen gilt es, die Grundzüge der weltanschaulichen Wahnsysteme des europäischen Rechtspopulismus nachzuzeichnen, um so die Kontinuität zwischen neoliberaler und rechtspopulistischer Ideologie aufzuzeigen. Was konkret wird von der Rechten ins Extrem getrieben? Erst bei dieser Auseinandersetzung mit dem konkreten Inhalt der neurechten Ideologie - sowie deren Verwurzelung im Mainstream der spätbürgerlichen Gesellschaften - wird der besagte Begriff des "Extremismus der Mitte" voll verständlich.

Die Neue Rechte greift also auf Anschauungen, Wertvorstellungen und ideologische Versatzstücke zurück, die im Mainstream der betroffenen Gesellschaften herrschen. Dies war auch bei der "alten Rechten" während der Weltwirtschaftskrise der 30er der Fall, als der damals dominante völkische Nationalismus ins eliminatorische Extrem getrieben wurde.

Heutzutage scheint die rechte Ideologie von der Ungleichartigkeit von Menschen modernisiert und "ökonomisiert". Die rechtsextreme Vorstellung einer rassisch reinen "Volksgemeinschaft", wie sie der Nationalsozialismus prägte, weicht nun der Wahrnehmung der Nation als Leistungsgemeinschaft, in der prinzipiell alle Leistungswilligen willkommen seien - bei gleichzeitigem Ausschluss der ökonomisch marginalisierten Bevölkerungsgruppen.

Diese Wandlung der Exklusionsmuster geht aber offensichtlich nicht mit einem Rückgang der rassistischen und xenophoben Ressentiments einher. Es findet hingegen eine Neuformierung von Kulturalismus, Rassismus und Fremdenfeindlichkeit statt, die gerade ökonomisch vermittelt wird. Die kulturelle oder rassische Hierarchisierung von Nationen und Minderheiten wird bei diesen ökonomisch grundierten Ressentiments gerade aus ihrer wirtschaftlichen Stellung in der Weltwirtschaft oder in der betreffenden Volkswirtschaft abgeleitet.

Wirtschaftlicher Erfolg deute auf überlegene Gene oder eine überlegene Kultur hin, während Verarmung und Marginalisierung im Umkehrschluss auf genetische oder kulturelle Mängel zurückgeführt werden. Geradezu paradigmatisch kann dies ja an der Darstellung der (südeuropäischen) Krisenopfer in der deutschen Öffentlichkeit nachvollzogen werden, denen ja eine ökonomisch grundierte Minderwertigkeit angedichtet wird, um sie hierdurch für die Krise verantwortlich machen zu können.

Die Gesellschaftssphäre der Ökonomie wandelt sich in dieser Ideologie zur "zweiten Natur" menschlicher Existenz, zu einem Wirtschaftsdschungel, der durch seine Selektionsmechanismen die "natürliche Zuchtwahl" zwischen den einzelnen Konkurrenzsubjekten wie auch den "Wirtschaftsstandorten" vornimmt - und so eine Hierarchie von vermeintlich rassisch oder kulturell überlegenen oder minderwertigen Menschengruppen definiert. Die Naturalisierung des Kapitalismus geht mit der Personifizierung der Krisenursachen einher.

Das Scheitern in der Konkurrenz ist laut dem Neoliberalismus nicht Ausdruck zunehmender Widersprüche und Verwerfungen im Kapitalismus, sondern der Minderwertigkeit der betroffenen Personen: Du bist schuld, wenn du scheiterst - dies ist das Mantra des Neoliberalismus. Die Neue Rechte hat diesen neoliberalen Kult der Konkurrenz konsequent zugespitzt und buchstäblich erweitert: Die (rassische oder kulturelle) Minderwertigkeit wird nicht nur beim individuellen Scheitern konstatiert, sondern auch beim "kollektiven Scheitern" einer Nation im Standortwettbewerb.

Vom Neoliberalismus zum Rechtsextremismus: die Praxis

Wie reagieren solch neoliberal deformierte Gesellschaften, deren ideologischer Mainstream von der Naturalisierung des Kapitalismus, von der Personifizierung der zunehmenden Widersprüche ("Du bist schuld an deinem Scheitern, etc.") und dem allgegenwärtigen Konkurrenzkult geprägt sind, auf den Kriseneinbruch und den verordneten Sozialkahlschlag? Die Krisenpolitik wird zu einem unabänderlichen, quasi "natürlichen" Sachzwang imaginiert (quasi einem reinigenden Gewitter), während sofort die Suche nach den Schuldigen beginnt.

Der ökonomisch vermittelte Charakter deutscher Machtentfaltung in der Krise verschafft dieser fatalen Sichtweise zusätzlichen Aufschub. Bundeskanzlering Angela Merkel greift bei der europaweiten Durchsetzung ihrer Austeritätspolitik selbstverständlich nicht auf Notverordnungen zurück, wie es etwa Reichskanzler Brüning tat, sondern auf vermittelte Methoden, bei denen Berlin bemüht ist, entsprechende "Sachzwänge" für die sogenannten Krisenstaaten Europas zu errichten.

Zu dieser Strategie gehört die Durchsetzung des europäischen Fiskalpaktes durch Merkel und Wolfgang Schäuble, der die Staaten Europas zu einer knallharten Sparpolitik vertraglich verpflichtet, sowie die zuvor bewusst betriebene Eskalation der Schuldenkrise in allen betroffenen Staaten, die sich den deutschen Sparauflagen widersetzten. Berlin torpedierte jegliche Hilfsmaßnahmen, bis sich die Regierungen der Schuldenstaaten aufgrund einer steigenden Zinslast und größer werdender Refinanzierungsprobleme dem deutschen Druck beugten und die Austeritätspolitik implementierten.

"Der Sachzwang, das bin ich!" Dies ist der inoffizielle Leitgedanke deutscher Machtpolitik in der Eurozone, wie sie von Schäuble und Merkel durchgesetzt wird. Und auch bei den aktuellen Auseinandersetzungen will man Athen dazu zwingen, die "Sachzwänge" zu akzeptieren, die sich aus der Wechselwirkung des Krisengeschehens und der deutschen Krisenpolitik ergeben.

Es wird eine "Realität" konstruiert, die Athen zu akzeptieren habe, wie es in unzähligen Presseartikeln hieß, die Syriza aufforderten, doch endlich die Realität zur Kenntnis zu nehmen. Als ob nicht gerade der unerträgliche Zustand der Realität das eigentliche Problem darstellen würde - und diese folglich gerade der Veränderung bedarf. Doch dies - eine Veränderung des Bestehenden - überhaupt zu denken, ist dem Mainstream trotz aller Verwerfungen überhaupt nicht mehr möglich.

Zudem gilt im Fall Deutschlands, dass mit der massenmedialen Kampagne gegen Athen, deren Exzesse selbst die bürgerlich-konservative NZZ empörten die Massenmedien sich gegenüber dem Stammtisch rehabilitieren konnten. Die Rufe "Lügenpresse", die die Neue Deutsche Rechte gegenüber dem Mainstream erhob, der ihr nicht chauvinistisch genug war, sind nun verklungen, nachdem alle im Kampf gegen "die Griechen" zusammenrücken.

Die Krisenverlierer sind die Schuldigen, dies ist das Kredo der deutschen wie europäischen Krisenideologie - während die dargelegten inneren Widersprüche (siehe Teil 2) des zu einem Naturphänomen imaginierten Kapitalverhältnisses nicht wahrgenommen werden.

Die irrsinnigen Vorgaben der deutschen Sparpolitik in der Eurozone, die offensichtlich gescheitert ist, lösen in einem derart ideologisch verblendeten Mainstream keine Oppositionsbewegung aus; sie tragen vielmehr zur Verfestigung eines "autoritären Kreislaufs" in all jenen Gesellschaftsmitgliedern, die sich eine Alternative zur kapitalistischen Dauerkrise nicht vorstellen können. Der Sozialpsychologe Oliver Decker hat diesen irrationalen Konstituierungsprozess autoritärer und rechter Ideologien in der gegenwärtigen Krise präzise auf den Punkt gebracht:

Die ständige Orientierung auf wirtschaftliche Ziele - präziser: die Forderung nach Unterwerfung unter ihre Prämissen - verstärkt einen autoritären Kreislauf.

Sie führe zu einer "Identifikation mit der Ökonomie", so Decker, "wobei die Verzichtsforderungen zu ihren Gunsten in jene autoritäre Aggression münden, die sich gegen Schwächere Bahn bricht." (vgl. Kennzeichen Deutschland 2014: die Ablehnung der Anderen?) Die neoliberale Verzichtspolitik, die nun europaweit umgesetzt wird, fördert somit die autoritäre Aggression gegen die Krisenopfer, auf der rechtspopulistische wie rechtsextremistische Ideologien gleichermaßen beruhen.

Je strikter das Spardiktat, je heftiger die hierdurch hervorgerufenen sozioökonomischen Verwerfungen, desto größer der Hass auf die Opfer dieser Krisenpolitik, unter all den Gesellschaftsmitgliedern, die die entsprechenden autoritären Dispositionen aufweisen. Dies erklärt auch den graduellen Unterschied zwischen dem uferlosen und militanten Hass der "Goldenen Morgenröte" in der Zusammenbruchsökonomie Griechenland und dem "gemäßigteren" Rechtspopulismus in Deutschland.

Aller Irrationalität und allen pathogenen Dispositionen zum Trotz weißt die rechtsextreme Praxis in Krisenzeiten eine durchaus gegebene, bösartige Binnenrationalität auf. Alle rechtspopulistischen und rechtsextremen Ideologien der menschlichen Ungleichwertigkeit verfügen über einen tatsächlich gegebenen materiellen Kern, sie folgen - auch in ihren "nationalsozialistischen" Varianten - einem Kosten-Nutzen-Kalkül, das auf der Verinnerlichung kapitalistischer Rentabilitätskriterien und Vergesellschaftungsformen beruht und insbesondere in Krisenzeiten an Anziehungskraft gewinnt. Die Marginalisierung, die Vertreibung oder gar die Ermordung von Bevölkerungsgruppen (»Ausländer«, Roma, Juden, Muslime, Schwule, etc.), die von der Rechten unterschiedlichster Couleur propagiert wird, soll mit handfesten materiellen Vorteilen für die Mehrheitsbevölkerung einhergehen.

Mit der Versagung von sozialen Leistungen für die zu Feindbildern aufgebauten Minderheiten, mittels ihrer offenen Diskriminierung auf dem "Arbeitsmarkt", oder durch deren Vertreibung und Enteignung soll die soziale und materielle Stellung der Mehrheitsbevölkerung verbessert werden. Die Krisenfolgen sollen nun vermittels konkreter Politik auf stigmatisierte Minderheiten abgewälzt werden - was abermals nur einer Zuspitzung der üblichen neoliberalen Wirtschaftspolitik entspricht, die dies innenpolitisch durch eine Verschärfung des "Klassenkampfs von oben", und außenpolitisch mittels hoher Handelsüberschüsse zu realisieren versucht.

Die Strategie, die insbesondere "nationalsozialistische" Gruppierungen wie die "Goldene Morgendämmerung" oder die NPD bei dieser Hetze verfolgen, ist offensichtlich: Ohne die zu Feindbildern aufgebauten Minderheiten würden die schwindenden finanziellen Mittel für die als "Volksgemeinschaft" halluzinierte Mehrheitsbevölkerung schon reichen.

Im Endeffekt kann die Rechte Teile der Bevölkerung mit dem Ziel mobilisieren, Minderheiten in Krisenzeiten die gesamte Last der Krisenfolgen aufzubürden. Bis zum Extrem wurde die Strategie einer Ethnisierung des Elends etwa bei den Roma Europas getrieben, die inzwischen nahezu total marginalisiert wurden. Beispielsweise sind ein großer Teil der Arbeitslosen in Ungarn Roma, denen der ungarische Antiziganismus postwendend ihre Marginalisierung vorwirft.

In Frankreich oder Deutschland sind es daneben auch die Einwohner aus der Türkei oder dem arabischen Raum, die aufgrund bestehender rassistischer und kulturalistischer Ressentiments massiv sozial und wirtschaftlich benachteiligt werden - und die von der Neuen Rechten verstärkt als Sündenböcke aufgebaut werden, die angeblich auf Kosten der Mehrheitsbevölkerung leben.

Der Reflex, den die Rechte in der Krise ausschlachtet, ist somit klar: Angesichts schwindender finanzieller Ressourcen werden ethisch, rassisch, religiös, sozial oder kulturell definierte Gesellschaftsgruppen stigmatisiert, denen die Finanzmittel oder gar die Lebensgrundlagen entzogen werden sollen, um so die Mehrheitsbevölkerung zu entlasten. Das kriselnde kapitalistische System mitsamt den dazugehörigen Kategorien bleibt so, wie gesagt, außerhalb der Betrachtung. Die Rechte avanciert hingegen zum politischen Exekutor der wirtschaftlichen Krisendynamik, die ja tatsächlich immer größere Massen an wirtschaftlich "überflüssigen" Menschen produziert.

Keynesianismus gegen Neoliberalismus

Auf eben dieser Logik beruht letztendlich auch die Politik der Bundesrepublik gegenüber den südeuropäischen Krisenländern im Allgemeinen und Griechenland im Besonderen. Wie dargelegt (siehe Teil 1 und Teil 2 der Textserie), stellt die konkrete Verlaufsform der Schuldenkrise in der Eurozone die Folge des Wechselspiels von "objektiver" Krisendynamik (dem produktivitätsbedingten Verschuldungszwang des spätkapitalistischen Weltsystems) und der "subjektiven" Machtpolitik Berlins (dem deutschen Neo-Merkantilismus) dar.

Präziser: Die Systemkrise, die sich in der BRD in hohen Arbeitslosenraten manifestierte, verstärkte das Bemühen Berlins, vermittels hoher Exportüberschüsse die eigene Wirtschaft auf Kosten der heutigen europäischen Schuldenländer zu sanieren. Der Verschuldungsprozess was bis zum Ausbruch der Eurokrise ein gesamteuropäisches Phänomen, das ohnehin Teil der globalen Verschuldungsdynamik war. Alle schienen von den damit einhergehenden Defizitkonjunkturen zu profitieren, doch nach dem Krisenausbruch hat es Berlin vermocht, die Krisenfolgen ausschließlich auf die "Schuldenländer" abzuwälzen, die gerade durch Deutschlands Exportüberschüsse in die Verschuldung genötigt wurden.

Die gegenwärtige Krisenideologie in Deutschland soll diese brutale Wahrheit, dass in der gegenwärtigen Systemkrise erfolgreiche Wirtschaftspolitik nur noch auf Kosten anderer Volkswirtschaften betrieben werden kann, mittels kulturalistischer oder rassistischer Ressentiments kaschieren. Die Rechte legitimiert mit ihren Ideologien von der Ungleichwertigkeit von Menschen diesen krisenbedingt zunehmenden, irrsinnigen Konkurrenzkampf und Verdrängungswettbewerb, der ja nicht nur zwischen Staaten, sonder auch zwischen Unternehmen und Lohnabhängigen an Intensität gewinnt.

Irrsinnig ist dieser Kampf deswegen, weil die gegenwärtige Systemkrise des Kapitals nicht durch Mangel, sondern durch potenziellen Überfluss ausgelöst wurde, Das System erstickt an seiner Produktivität, wie etwa ein Blick auf den europäischen "Immobilienmarkt" offenlegt. Nach dem Zusammenbruch aller Spekulationsblasen stehen Europaweit rund elf Millionen Wohnungen leer, während die Zahl der Obdachlosen auf rund vier Millionen angeschwollen ist.

Dieser absurde Zustand gilt als "Normalität". Ähnlich verhält es sich mit dem Recht auf Nahrung in dem Deutschen Europa, wo rund die Hälfte aller Lebensmittel auf den Müll landet, während Unterernährung und Hunger - insbesondere unter Kindern - in Spanien und Griechenland zunehmen. Die materiellen Bedingungen eines würdevollen Lebens für Alle sind längst vorhanden und dennoch nehmen Mangel und Konkurrenz zu, da die gesamte Gesellschaft nur auf die zusehends stotternde Reproduktion des Kapitals geeicht ist und Menschen nur dann eine Reproduktionsmöglichkeit finden, wenn sie innerhalb dieser destruktiven Verwertungsbewegung noch "gebraucht" werden.

Dieser absurde Charakter der gegenwärtigen Krise, die ja eine Eigendynamik besitzt, die nicht mal von Merkel und Schäuble kontrolliert werden kann, muss auch die Einschätzung der systemimmanenten Realpolitik bestimmen - sie muss gemäß ihres transformatorischen Potenzials beurteilt werden. Obwohl weder der linke Keynesianismus, wie er von Athens Linksregierung propagiert wird, noch der Neoliberalismus Berlins diese Krise des Kapitals überwinden können, besteht doch ein entscheidender Unterschied zwischen diesen Politikansätzen.

Die sinnlose Unterwerfung unter die kriselnde Kapitallogik, wie sie Berlin predigt, führt - wie dargelegt - zur Entstehung von rechtsextremen Ideologien der Unterwerfung. Der nachfrageorientierte Keynesianismus linker Prägung, der sich an den Bedürfnissen der Bevölkerung orientiert, öffnet zumindest eine Perspektive, künftig über die Befriedigung von menschlichen Bedürfnissen jenseits des Kapitalverhältnisses zu diskutieren, die Markt und Kapital aufgrund einer systemischen Überproduktionskrise nicht mehr befriedigen können. Ein Paul Krugman ist einem Wolfgang Schäuble jederzeit vorzuziehen.

Empfohlener redaktioneller Inhalt

Mit Ihrer Zustimmmung wird hier eine externe Buchempfehlung (Amazon Affiliates) geladen.

Ich bin damit einverstanden, dass mir externe Inhalte angezeigt werden. Damit können personenbezogene Daten an Drittplattformen (Amazon Affiliates) übermittelt werden. Mehr dazu in unserer Datenschutzerklärung.