Die Stunde der Patrioten

Merkelwürdige Töne auf dem CDU-Parteitag in Düsseldorf

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"Aber jeder erbärmliche Tropf, der nichts in der Welt hat, darauf er stolz sein könnte, ergreift das letzte Mittel, auf die Nation, der er gerade angehört, stolz zu sein. Hieran erholt er sich und ist nun dankbarlich bereit, alle Fehler und Torheiten, die ihr eigen sind, mit Händen und Füßen zu verteidigen."

So lautet Arthur Schopenhauers Verachtung des Nationalstolzes (Parerga und Paralipomena). Das und auch die Kritik aus dem eigenen Lager hat die CDU nicht am Versuch gehindert, den diesjährigen Parteitag in Düsseldorf mit dem Thema "Patriotismus" zu beleben:

Ich glaube, viele Menschen spüren, wir sind nicht nur wirtschaftlich, sondern wir sind auch gesellschaftlich in eine Schieflage geraten. Die Sehnsucht nach Orientierung ist groß. Die Menschen fragen danach, was uns verbindet, was diese Gesellschaft zusammen hält, welche Ziele sie hat. Niemand setzt sich für etwas ein, mit dem er sich nicht identifiziert. Deshalb wollen wir eine Gesellschaft, die sich ihrer Wurzeln bewusst ist. Das ist eine Gesellschaft, die sich nicht nur an Werte klammert, sondern die ihre Werte lebt...

Angela Merkel

"Patriotismus light"

Dass nun nach der Leitkulturdebatte (vgl. Der "Kulturkampf" geht weiter), die das begriffliche und politische Vakuum aller vaterländischen Anstrengungen (vgl. Wird mancher Müll von gestern heute wieder zur Vision?)so deutlich belegte, auf diesem drögen Feld weiter politische Pflänzchen wachsen sollen, spricht für Gottvertrauen. Ein wenig Gottvertrauen hat Frau Merkel nicht nur in nationalen, sondern auch in eigenen Angelegenheiten nötig. Die Wiederwahl zur CDU-Chefin mit letztlich bescheidenen 88,4 Prozent vor dem Hintergrund der ewigen Kanzlerkandidaten-Diskussion bei den Christdemokraten könnte die Machtfrage noch nicht zureichend beantwortet haben.

Klassischer Patriotismus beantwortet dagegen die älteste Machtfrage nach Freund und Feind im entschiedenen Sinne. Doch um diesen ging es auf dem Parteitag in Düsseldorf nicht. Selbstredend sollte nicht jener alte hässliche Patriotismus reanimiert werden, der sich dadurch diskreditiert hat, dass die eigene Scholle so viel mehr wert ist als fremder Boden, dass auch Kriege und abscheuliche Verbrechen geheiligt werden, wenn das Vaterland ruft. Und das Vaterland hat so oft in der Vergangenheit gerufen, dass "Nationalbewusstsein" und "Patriotismus" als seriöse Leitmotive politischen Handelns längst vergessen schienen. Doch wenn die Werte und auch das Geld so knapp werden, wenn die kulturell heterogener werdende Gesellschaft den Glauben an eine verbindliche Tradition längst aufgegeben hat, schlägt offenbar die Stunde eines neuen Patriotismus. Also sprach Edmund Stoiber auf dem Parteitag: "Aufgeklärter Patriotismus meint das Gegenteil von dumpfem Nationalismus. Patriotismus wehrt diesen gerade ab und gibt ihm keinen Nährboden.... Unser Patriotismus sucht das Verbindende mit anderen Völkern und fügt sich ganz besonders in die Gemeinschaft der europäischen Völker ein."

Hier und heute geht es also um allseits bekömmlichen, polyglotten und völkerversöhnenden "Patriotismus-light". Doch funktioniert das, was bei Käse und Yoghurt messbar ist? Oder verordnen wir hier eine nationale Diät, die irgendwann dann doch geeignet ist, in nationale Opulenz umzuschlagen? Die Einbindung der Völker in größere Kollektive wie Europa schien uns zuvor doch eher als Sieg über den Patriotismus zu gelten und nicht als dessen spätmoderne Vollendung. Jules Renard formulierte das in begriffsklareren Verhältnissen als den gegenwärtigen so: "Zuletzt steckt in jedem Patriotismus der Krieg, und deshalb bin ich kein Patriot." Das freilich wollen die Neo-Patrioten nicht, doch in ihrer Begriffsverwirrung ignorieren sie, dass diese ältesten Hypotheken wieder neu beliehen werden könnten und das Spiel mit abgelebten Traditionen gefährlich sein mag.

Was ist nun eigentlich so völlig anders?

Wir sollten uns von einer klaren Wertorientierung auch durch nichts und niemanden abbringen lassen. Das hat auch nichts mit dem Besetzen vermeintlich populärer Themen zu tun. Wir brauchen einen stärkeren Gemeinsinn. Wir brauchen gemeinsame Wertüberzeugungen, wenn wir die Veränderungen in Deutschland erfolgreich gestalten wollen. Liebe zu unserem Land ist ein solcher Wert. Das ist Patriotismus, wie wir ihn verstehen. Genauso wie die Menschen bei den Leipziger Montagsdemonstrationen, als sie riefen: "Wir sind ein Volk!"

Stoibers patriotische, beifallheischende Erinnerungsarbeit ist zweifelhaft. Denn damals war die politische Agenda der Wiedervereinigung zumindest klar, während heute den Neo-Patrioten nicht sehr viel mehr einfällt als eben die Beschwörung des Patriotismus selbst.

Patriotische Begriffshülsen

Denn inzwischen reden alle von Patriotismus und der Kampf um die Lufthoheit am deutschen Begriffs-Himmel hat gerade erst begonnen. Angela Merkel macht klar, dass des Bundeskanzlers Patriotismus jedenfalls keiner ist. So hat der doch gesagt: "Patriotismus ist das, was ich jeden Tag tue." Das bedeutet wohl für die meisten, die ihrer Arbeit nachgehen und Steuern zahlen - nolens volens - Patrioten zu sein. Deutschland, einig Volk von Patrioten - von "Sozialschmarotzern", die der Kanzler bekanntlich nicht mag, einmal abgesehen. Doch die CDU-Chefin wittert hier längst gefährlichen Antipatriotismus:

Ist es patriotisch, dass in Deutschland jeden Tag tausend Arbeitsplätze verloren gehen? Ist es patriotisch, dass in unserem Land 5, ja 6 Millionen Menschen ohne Arbeit sind? Ist es patriotisch, dass die Zahl der Insolvenzen mittelständischer Betriebe noch nie so hoch war wie heute?

Nun könnten alle diese beklagenswerten Umstände unabhängig von des Kanzlers Wirken sein, so wenig wie vielleicht irgendeine Politik etwas daran zu ändern vermag. Was das alles aber mit Patriotismus zu tun haben soll, setzt mindestens höheres nationales Verständnis voraus. Für Frau Merkel gibt es jedenfalls "sozialdemokratischen Patriotismus", der "seine Bedeutung ad absurdum führt! Weil es eine Politik ist, die deutsche Interessen kaputt macht!" Doch ist der ein nationaler "Gesinnungslump", dem angesichts dieser patriotischen Kraftakte nicht ohnehin die ganze Begriffsklauberei absurd erscheint und bestenfalls geeignet, in Wahlkampfprogrammen zu verschwinden? Frau Merkels Vorwurf fügt sich jedenfalls gut in das historische Klischee, dass Sozialdemokraten ein gespaltenes Verhältnis zum "Vaterland" haben.

Neue Nationalliturgien

Wenn Inhalte fehlen, müssen Prozeduren her. So werden Rituale hervorgezaubert, die das vorgeblich gestörte Verhältnis der Deutschen zu ihrem eigenen Land entkrampfen sollen. Der stellvertretende CDU-Vorsitzende Christian Wulff fordert eine Eidespflicht für Neu-Bürger. Was verrät uns eigentlich das Ein- oder Abschwören, von einigen christlichen Märtyrern abgesehen, über die Gesinnungstreue von Untertanen? Sicher wird der Eid dazu führen, dass sich nicht integrationswillige Aspiranten auf das Deutschtum lieber den Finger brechen, als die Hand zu heben. Gleich danach wird mit dem Abspielen der Nationalhymne und Einbürgerungsfeiern gedroht, bis sich der Patriotismus gleichsam als Kollateralgewinn nationalen Musikerlebens einstellt. Auch Muslime sollen dieses nationale Klangerlebnis nicht missen. Denn so Stoiber:

Die Liebe zum eigenen Land, unser Patriotismus richtet sich nicht gegen ausländische Mitbürger. Unsere gewachsene vielfältige Kultur bietet vielmehr Orientierung für Ausländer, die sich integrieren wollen. Hier könnten wir manches von den USA lernen.

Patriotischer Nachhilfeunterricht von Bush II. lässt sicher auf programmatische Weiterungen des bislang noch etwas blutleeren Patriotismus hoffen. Es geht also um eine politische Kopie des amerikanischen Patriotismus, der zwar historisch völlig andere Präzedenzen hat, aber augenscheinlich so viele Wählerstimmen mobilisiert, dass der politische Appetit auf Patriotismus mehr als einleuchtet. Dabei ist der von Stoiber und anderen Christdemokraten den Muslimen aufgedrängte Wertetransfer nach deutschem (!) Verfassungsrecht alles andere als unproblematisch. Denn es sieht so aus, als wolle man tief in die muslimischen Familienstrukturen hineinwirken, nachdem noch kürzlich Berichte über das Schicksal patriarchalisch geknechteter Musliminnen nur noch das bestätigten, was ohnehin jeder zu wissen glaubte. CSU-Chef Stoiber hatte folgerichtig schon zuvor verlangt, dass Muslime in Deutschland die hier geltenden Wertmaßstäbe annehmen. Das ist nun besonders pikant, wenn ausgerechnet ein Christ seine Wertmaßstäbe Muslimen verordnen möchte, indem er seine christlichen Werte als patriotische ausgibt.

Wie weit reichen eigentlich Religionsfreiheit und der Schutz von Ehe und Familie? Werden die Verfassungsgarantien jetzt auf patriotisches Augenmaß zurechtgestutzt, weil die Zustände hinter muslimischen Haustüren für westliche Demokraten und Gleichstellungsbeauftragte unerträglich sind? Die hinter aufrechten Sprüchen der Vaterlandsliebe aufscheinende härtere Gangart macht klar, dass der interkulturelle Dialog, der bislang schon nicht funktionierte, nicht besonders ernst gemeint sein kann. Und das ist nicht wundersam, weil man sich der Werte, die man hier großzügig vermitteln will, selbst längst nicht mehr sicher ist.

Kultureller Patriotismus

Nirgends wird das deutlicher als bei den leer gewordenen National-Symbolen. Denn deren modischer Einsatz ist alles andere als das von der WELT neulich konstatierte Zeichen für ein unverkrampftes Nationalgefühl. Da muss die Kollektion "Liebeserklärung an Deutschland" von Eva Gronbach als "Fortschreibung jener neupatriotischen Identitätssuche" herhalten. Nationales Klamotten-Branding, also "T-Shirts mit Bundesadler in Paris, Brüssel, New York, Tokio und Los Angeles" zu verticken, demonstriert dann das neue nationale Selbstwertgefühl. Das Ausmaß der patriotischen Verwirrung ist gewaltig. Denn wenn der deutsche Patriotismus gleichzeitig als multikulturelles und globales Vermarktungsinstrument funktioniert, ist das politisch so authentisch wie Zigaretten mit Che Guevara-Emblem und italienischer Mussolini-Wein. Diese um jeden Bedeutungsgehalt beraubte politische Ornamentalistik führt geradewegs in unhistorische Bewusstseinsschrottlandschaften, aus denen uns der neue Patriotismus doch heim in das gelobte Land der Dichter und Denker bringen will. Stoiber redet nämlich expressis verbis von diesem bei den Kids in Vergessenheit geratene Land, obwohl Goethe und Schiller ja auch inzwischen eher Werbeartikel als vermittelbare Autoritäten sind. Doch der CSU Chef weiß mehr: "Patriotismus gibt unserem Land inneren Halt. Patriotismus macht unser Land krisenfest, die Menschen selbstbewusster. Wer sich seinem Land emotional tief verbunden fühlt, dem ist es eben nicht egal, wie die Zukunft unseres Landes und seiner Menschen aussieht, wovon unsere Kinder und Kindeskinder nicht nur ökonomisch leben sollen, sondern woran sie sich geistig und kulturell orientieren können."

Längst ist - so traurig es sein mag - diese Nationalkulturverwaltung chancenlos, der globalen Ex- und Hopp-Konsumkultur ihr gewaltiges Terrain streitig zu machen. Deutsche Leitkultur ist mehr denn je MTV-Kultur. Wenn Sarah Kuttner etwa vor der Kamera brüllend Stoffkuscheltierchen in pubertärer Selbstinszenierung zerschneidet oder erotische Gebrauchsartikel vor einem Teenie-Massenpublikum auf Lusttauglichkeit hin untersucht, erleben wir die neue deutsche Identität.

Zwischen Nationalmotorik und –rhetorik

Der von der CDU aufgetischte "Patriotismus light" zählt zu den verkrampften Versuchen einer Werteverklitterung, die weder semantisch stimmt noch politisch handlungstheoretisch plausibel ist. Dem schizoiden Cross-over der Werte scheinen keine Grenzen gesetzt: modern-patriotisch, weltoffen-nationalbewusst, europäisch-deutsch. Gerade diese Mixturen, die ein Softgetränk für jeden Geschmack und Magen sein sollen, sind nicht die geringste Ursache, dass traditionelle Werte nicht mehr funktionieren. Völlig vergessen sollen zudem die blutigen Kehrseiten des Patriotismus sein, als könne man nun auf einmal über Nation, Volk und Vaterland reden, ohne sich abzugrenzen. Was ist - eingedenk Carl Schmitt - der politische Sinn von solchen Begriffen, wenn nicht der, nationale Differenzen zu betonen? Gibt es keine Begriffe und dem zugeordnet politisches Handeln, die ohne diesen Ballast auskommen? Wäre es nicht einfacher, Werte zu leben, als sie zu beschwören? Und selbst wenn diese Werte wiederbelebbar wären, lässt sich eine säkulare Gesellschaft nicht mehr dauerhaft erfolgreich mit Werten beheizen, die über die "minima moralia" eines halbwegs erträglichen Zusammenlebens hinausgehen.

Dabei optieren Patrioten wie Frau Merkel doch scheinbar nur für Selbstbewusstsein: "Ich will etwas Anderes: Ich will, dass deutsche Interessen wieder beachtet und geachtet werden. Ich bin es satt, überall zu lesen, dass wir der kranke Mann in Europa sind. ...Liebe Freunde, ich will in meinem Leben nie wieder im Ausland gefragt werden: "Was ist bloß mit euch Deutschen los?" Ich will, dass Deutschland wieder nach vorne kommt. Wenn wir Deutschland nach vorne bringen, bringen wir auch Europa nach vorn. Deutschland muss wieder Motor Europas werden."

Mit anderen Worten: Patriotismus ist eine wundervolle Sache, die kongenial Weltbürgertum und Liebe zur Scholle in einen rasanten Formelkompromiss bannt, der zur nationalen Motorisierung Europas führt. Dabei seien gerade jene Geschichtswahrer und Reanimateure nationalen Kollektivdenkens daran erinnert, dass ihr Patriotismus, der sich über das nationale Identitätsgefühl definiert, eine relativ neue historische Errungenschaft ist. Der antimoderne Katholik Joseph de Maistre, dem man viel, aber keine mangelnde Ehrlichkeit vorwerfen kann, hat das programmatisch auf den Punkt gebracht, was man heute vielleicht denken, aber zumindest auf Parteitagen nicht sagen mag: "Der Glaube und der Patriotismus sind die beiden großen Wundertäter der Welt. Der eine und der andere ist göttlich und alle ihre Handlungen sind Wunder." Wenn das wirklich so sein sollte, wird allerdings die christdemokratische Faszination im Angesicht dieses göttlichen Themas leichter nachvollziehbar.