Die Sündenböcke Pakistans
In Pakistan hat es die einfache Bevölkerung schwer - religiöse Minderheiten haben es noch schwerer. Dabei ist Religion meistens nur ein vorgeschobener Grund. Hauptsächlich geht es um den alltäglichen Kampf um knapper werdenden Lebensraum und Ressourcen.
Der Abgeordnete Muhammad Safdar ließ am 10.Oktober im pakistanischen Parlament eine wahre Hasskanonade auf die Religionsgemeinschaft der Ahmadiyya los. "Die sind eine Bedrohung für das Land, die Verfassung, die Ideologie." Safdar ist kein Mitglied irgendeiner radikalen islamischen Partei, sondern der Regierungspartei PML-Nawaz und der Schwiegersohn von Ex-Premierminister Nawaz Sharif. Dieser brauchte zwei Tage, bis er aus London verlauten ließ, dass alle religiösen Minderheiten in Pakistan in Frieden leben können.
Den Ehemann seiner Tochter Maryam tadelte Sharif nicht. Dafür unterstrich er: "Mohammed - gepriesen sei sein Name - ist der letzte Prophet Gottes." Ein weiterer Seitenhieb auf die Ahmadiyyas. Obwohl sie den Islam in vielem genauso streng auslegen wie konservative Sunniten ist das "Verbrechen" der Ahmadiyya, dass ihr Gründer Mirza Ghulam Ahmad (1835-1908) für seine Anhänger einen prophetenähnlichen Status hat. Für konservative Muslime ist das ein Angriff auf eine der fünf Säulen des Islams: Es gibt nur einen Gott und Mohammed war sein letzter Prophet.
So überrascht es nicht, dass Safdar kurz darauf nachlegte und Mumtaz Hussain Qadri pries, den Mörder des Gouverneurs Salman Taseer. Taseer hatte sich gegen das Blasphemiegesetz ausgesprochen und für die Christin Asia Bibi eingesetzt, wofür er 2011 von seinem Leibwächter Quadri ermordet wurde.
Weder Nawaz Sharif noch seinem Schwiegersohn, die beide im materiellen Prunk leben und im liberalen London ihr zweites Zuhause haben, nimmt jemand bei Sinnen ihr religiöses Gehabe ab. Safdar wurde einen Tag vor seiner Hassrede am Flughafen in Islamabad von Mitarbeitern der Behörde National Accountability Bureau (NAB) wegen Korruptionsverdachts verhaftet und Stunden später nur gegen Kaution freigelassen. Er hatte also allen Grund für ein Ablenkungsmanöver. Auch sein Schwiegervater hat einiges beim pakistanischen Militär/Establishment gutzumachen. Vor Monaten prangerte Sharif die Verbindungen des pakistanischen Militärs zu den Islamisten an - der Beginn seines Abstiegs. Mittlerweile beginnt innerhalb seiner Familie das Hauen und Stechen um die Nachfolge.
Da ist es dann kein Wunder, wenn Teile der Gesellschaft extrem religiös werden. Kein Wunder, dass selbst in gemäßigten Moscheen Plakate hängen, die den Mörder von Gouverneur Taseer zum Helden erklären. Dass Zehntausende die Beerdigung des Mörders Qadris besuchten, der 2016 gehängt wurde. Dass sich Gruppen wie die pakistanischen Taliban bilden, für die der pakistanische Staat der Feind ist.
Obwohl: dieses Verhältnis ist nicht so eindeutig. Im Jahr 2011 zerstörte eine amerikanische Drohne in der unwirtlichen Berggegend von Waziristan ein Farmhaus, das sich wegen seines modernen und teuren Baustils enorm von den Lehm- und Steinhütten im weiten Umkreis absetzte. Im Innern der 120.000 Dollar-"Hütte" mit Marmorfußboden wurde nach dem Drohnenangriff die Leiche des Anführers der pakistanischen Taliban, Hakimullah Mehsud, gefunden. Der angebliche Staatsfeind Nummer Eins in Pakistan lebte dort mit seinen zwei Frauen, gerade einmal einen Kilometer entfernt von einem Hauptquartier der pakistanischen Armee.
So ist es ebenfalls verständlich, dass viele moderat denkende Staatsdiener, die daheim gerne einen Gin made in Pakistan trinken - gekauft von einem christlichen Angestellten - den Mund halten.
Trotzdem erhob im Falle von Safdars Äußerungen die pakistanische Zivilgesellschaft die Stimme. Besonders hörbar wetterte die Anwältin und Menschenrechtlerin Asma Jahangir und forderte strenge Konsequenzen für den Schwiegersohn von Nawaz Sharif. Das ist bewundernswert: Khurram Zaki, Sabeen Mahmud und Perween Rahman sind nur einige der bekannteren Aktivisten, die in den letzten Jahren ermordet wurden. Allein im Januar dieses Jahres wurden innerhalb weniger Tage vier Menschenrechtsaktivisten in Pakistan entführt.
Dann sprang der junge Bilawal Bhutto, die neue Hoffnung der Pakistan People Party (PPP), auf den Zug auf. Doch als Bilawal Safdar kritisierte, hatte er wohl vergessen, dass es 1974 sein Großvater Zulfikar Ali Bhutto war, unter dem die Ahmadiyya zu Nichtmuslimen erklärt wurden. Die "Exkommunikation" der Ahmadis per Parlamentsbeschluss ist in der islamischen Geschichte einmalig. Der damalige Premierminister Zulfikar Bhutto brauchte ebenfalls einen Sündenbock, da er Anfang der 70er durch die religiöse Jamaat-e-Islami-Partei unter Druck geraten war. Doch es half ihm nicht einmal, dass er drei Jahre später den Alkoholverkauf an Muslime verbot: 1978 wurde Zulfikar gehängt.
Dass es auch anders geht, zeigte 1953 der damalige Ministerpräsident Pakistans, Khawaja Nazimuddin. Als ein Zusammenschluss von Extremisten den Ausschluss der Ahmadiyya aus der muslimischen Gesellschaft forderte und dies mit Gewalttaten unterstrich, stellten sich die Verantwortlichen des Landes klar auf die Seite der Ahmadis und ließen die Rädelsführer der Islamisten verhaften - dann herrschte 20 Jahre lang Ruhe.
"Laut Gesetz darf ich keinen anderen Muslim mit Assalamu Aleikum ansprechen - was ich jeden Tag dutzendfach tue - unter Androhung einer Haftstrafe", sagte ein befreundeter Ahmadiyaa zu mir, bevor wir den Kontakt miteinander zu seiner Sicherheit einstellten. Auch in anderen Fällen von Diskriminierung von Minderheiten geht es nicht wirklich um Religion.
Vor ein paar Jahren geriet ich in Karatschi in den Abriss des Hindutempels Sri Rama Peer Naval, obwohl religiöse Orte laut pakistanischem Gesetz als unantastbar gelten. Es stellte sich später heraus, dass es sich um einen Streit um den Besitz des Grundstückes handelte. Im letzten Jahr wurde in Peschawar ein Hindutempel abgerissen. Dass die Gerichte den Abriss für illegal erklärten, kam zu spät: An der Stelle des 150 Jahre alten Tempels steht jetzt eine Shopping Mall.
Als die pakistanischen Taliban im Jahr 2012 gewaltsam die Randbezirke Karatschis von der politischen Partei der Paschtunen übernahmen, der ANP, war ihr Ziel nicht Missionierung. Es ging um die Vormacht über die Einnahmen aus Erpressung, Schutzgeld und Landraub. "Die Taliban spazieren einfach in die Wohnungen unserer Mitglieder und übernehmen sie", sagte mir damals ein Ahmadiyya.
Dass die Taliban nicht bis in die Innenstadt vordringen konnten, lag nicht an der Polizei, sondern an der MQM, der politischen Partei der Muhajirs (der nach 1947 aus Indien ausgewanderten Muslime). Die Partei hatte damals 25.000 Mann unter Waffen und lieferte sich mit der Partei der Bhuttos (PPP) einen blutigen Kampf um die Vorherrschaft in der Metropole.
Eines der Opfer war der Besitzer der Textilfabrik Ali Enterprise. Als seine Fabrik im Jahr 2012 abbrannte und 256 Arbeiter dabei ums Leben kamen, war er für alle Welt der Bösewicht. Trotzdem sagte der Inhaber der Nachbarfabrik Wochen später zu mir, dass er nicht verstehe, wie es zu dem Brand gekommen sei. Er kenne die Familie persönlich - es seien nette Menschen und ihre Fabrik genauso ordentlich geführt worden wie seine, jedenfalls für pakistanische Verhältnisse. Was seine Fabrik anging, fand ich es bestätigt - und er sollte auch mit seinen Zweifeln Recht behalten: Drei Jahre später kam heraus, dass der Brand im Auftrag der MQM gelegt worden war. Es ging um nicht gezahlte Schutzgelder des Fabrikbesitzers.
Der Konzern KIK, der bei Ali Enterprise hat produzieren lassen, wird gerade von Angehörigen der Opfer des Brandes in Deutschland verklagt - doch an dem Brand trägt KIK keine Schuld. Der Konzern ist mit anderen wie Nestle "nur" Teil der Externalisierung, die weiteren Lebensraum von Ländern der Dritten Welt zerstört und deren Ressourcen ausbeutet - auch die der menschlichen Arbeitskraft. Damit die Konzerne das jedoch können, braucht es vor Ort ein Establishment wie in Pakistan, für das Religion nicht mehr als Mittel zum selbstherrlichen Zweck ist, ohne Rücksicht auf das Leben von über 210 Millionen Menschen, und der 30 Millionen in Afghanistan.