Die Türkei am Scheideweg: Demokratie oder Terror?
Die Koalitionsverhandlungen stocken; der IS tötet 32 Menschen im türkischen Suruc
Bei einem Bombenattentat in Suruc starben 32 Menschen, der Islamische Staat (IS) wird zur Bedrohung für die Türkei. Derweil kommt die Regierungsbildung nach den Parlamentswahlen vom Juni kaum voran. Die regierende AKP schielt auf Neuwahlen.
32 junge Menschen sind tot, rund hundert verletzt. Sie hatten sich in einem Kulturzentrum in der kurdischen Stadt Suruc in der Türkei nahe der Grenze zu Syrien mit zweihundert weiteren Aktivisten versammelt. Sie wollten helfen, die völlig zerstörte Stadt Kobane wiederaufzubauen.
Unmittelbar vor Beginn der Pressekonferenz detonierte eine Bombe. Zeitgleich fand ein Attentat mit einer Autobombe in Kobane statt. Die kurdische YPG hatte mit US-Luftunterstützung die Kämpfer des Islamischen Staates (IS) vertrieben, in Kobane steht seitdem kein Stein mehr auf dem anderen. Die Bewohner, die flüchten konnten, haben alles verloren. Nach und nach sind die ersten in den letzten Wochen zurückgekehrt, doch der Frieden hielt nicht lange. Immer wieder versucht der IS, die strategisch wichtige Grenzstadt einzunehmen. In Suruc setzten die Extremisten am Montag ein Zeichen: Wer Kobane unterstützen will, riskiert sein Leben. Auch wenn er sich auf türkischem Boden befindet.
Lieber neben einem Terror-Kalifat als neben einem kurdischen Staat
Es ist der erste Terroranschlag des IS innerhalb der Türkei - zumindest der erste, bei dem die türkische Regierung dies eingesteht. Und er traf jene, die von der regierenden AKP, die nach der Wahlschlappe um ihre Macht ringt, ohnehin keine Unterstützung erwarten dürfen: in erster Linie kurdische Studenten, die aus der ganzen Türkei angereist waren, um humanitäre und Wiederaufbauhilfe zu leisten.
Selahettin Demirtas, Co-Vorsitzender der kurdischen Partei HDP, die bei den Parlamentswahlen überraschend 13% geholt hatte, sagte, die Menschen in den kurdischen Gebieten müssten sich selbst helfen. Ein Frontalangriff auf die AKP, deren Außenpolitik sich nun bitter rächt. Dem IS gegenüber bestand sie aus teils offener Unterstützung, Beschwichtigungen und Wegsehen.
Dass IS-Kämpfer in den Städten und Dörfern auf der syrischen Seite der Grenze seit Monaten Massaker anrichten, kümmert die AKP kaum. Auch nicht, dass die Islamisten einen beträchtlichen Teil der Grenze zur Türkei kontrollieren. Für Erdogans Partei und auch für viele Türken scheint die Vorstellung eines autonomen kurdischen Staates schrecklicher zu sein als die Vorstellung, Seite an Seite mit einem Terror-Kalifat zu leben.
Dabei steht außer Frage, dass der kurdische Staat kommen wird. Die Frage ist längst nicht mehr ob, sondern nur noch wann, auch wenn das den Hardlinern und Ewiggestrigen nicht in den Kram passt. Die kurdischen Kämpfer um PKK und YPG sind zur Zeit die wichtigsten Kräfte im Kampf gegen den IS, und dass früher oder später eine Einigung mit Barzanis kurdischem Autonomiegebiet im Irak anstehen wird, ist anzunehmen, auch wenn die Gräben tief sind.
Das eigentliche Problem - nämlich dass der IS monatelang ungehindert Zeit hatte, sich innerhalb der Türkei zu etablieren - wird nach wie vor halbherzig angegangen oder gleich ganz verleugnet. Zwar werden sowohl die EU-Grenzübergänge als auch die zu Syrien inzwischen stärker kontrolliert und regelmäßig Verhaftungen von Terrorverdächtigem durchgeführt. Aber es ist fraglich, welchen Effekt das noch hat.
Dass der IS selbst innerhalb Istanbuls seine Leute rekrutiert, ist ein offenes Geheimnis. Die Polizei hat offenbar Wichtigeres zu tun. So fragte eine Gruppe von Journalisten, darunter auch Deniz Yücel (Die Welt) und Özlem Topcu (Die Zeit) den Gouverneur von Urfa, wozu auch Suruc gehört, im Juni nach den Aktivitäten des IS in der Region. Die Frage ging offenbar zu weit. Sie wurden kurzzeitig festgenommen. Und als am Montagabend in Istanbul spontan tausende Menschen auf die Straße gingen, um der Opfer des Anschlags zu gedenken und dabei auch lauthals eine Mitschuld der AKP skandierten, tat die Istanbuler Polizei das, was sie am besten kann: Sie attackierte die Menschenmenge mit Wasserwerfern und Tränengas.
Fragile Lage
Die Stimmung in Istanbul brodelt wieder in den letzten Wochen. Als die AKP bei den Parlamentswahlen ihre Regierungsmehrheit verlor, sahen sich jene im Aufwind, die seit jeher den autoritären Regierungsstil Erdogans kritisieren. Doch die Hoffnungen auf eine Koalition, in der die AKP sich unterordnen muss, was dem gemäßigten Parteiflügel Auftrieb geben könnte, scheinen sich nicht zu erfüllen. Zu verfahren sind die unterschiedlichen Positionen der Parteien, eine tragfähige Einigung ist nicht in Sicht - und die AKP scheint auf Neuwahlen zu spekulieren. Ob sie dann aber wieder stärkste Kraft würde, ist fraglich.
Der Allmachtsanspruch ist gebrochen. Auch die ständigen Einmischungen Erdogans werden vielerorts missmutig beäugt - denn nach der Verfassung hat sich der Staatspräsident aus parteipolitischen Belangen herauszuhalten.
Die Türkei befindet sich in einer fragilen Lage. Ob Neuwahlen oder Last-Minute-Koalition, es ist kaum einzuschätzen, wohin die Reise geht. Und dabei ist der IS eine tickende Bombe im wahrsten Sinne des Wortes: Denn sollte eine neue Regierung eine weniger zurückhaltende Position den Extremisten gegenüber einnehmen, besteht die Gefahr, dass Anschläge auch in Istanbul, Ankara oder Touristengebieten wie Antalya stattfinden - und nicht mehr nur in den kurdischen Regionen, zu denen Ankara dringend ein besseres Verhältnis etablieren muss, wenn es dem islamistischen Terror etwas entgegensetzen will.