Die Türkei und der EU-Beitritt
Bislang scheint man in der EU auf Verzögerung zu setzen, die Menschenrechtsfrage dient dabei eher als Feigenblatt
International richtete sich die Aufmerksamkeit am letzten EU-Gipfel vor allem darauf, ob die europäischen Staats- und Regierungschefs trotz oder vielleicht gerade wegen der zum Teil herben Abstrafung durch die Wähler bei den Europawahlen den Mut aufbringen würden, die verbliebenen Streitpunkte bei der europäischen Verfassung auszuräumen und tragfähige Kompromisse zu schließen. Doch offenbar waren es eher faule Kompromisse in Nebensächlichkeiten wie dem Gottesbezug oder es handelte sich um Hilfen für Regierungen, die wie die Polens in ihren Landesparlamenten in absoluter Not geraten sind und denen man mit den Abstimmungsmodalitäten so weit entgegen kam, dass sie nun kaum schlechter gestellt sind, als im ursprünglichen Verfassungskonvent von Nizza vorgesehen war.
Völlig unangetastet blieb die verfassungsmäßige Etablierung der EU zu einer zweiten NATO in bzw. neben der NATO. Für die türkische Regierung und die Medien des Landes jedoch stand eher das Interesse im Vordergrund, wie denn die Europäer, aber besonders ihre Regierenden auf das reagieren werden, was man in der türkischen Presse gerne als das "Reformfeuerwerk" der Regierung Erdogan verkauft.
Die Enttäuschung in fast allen politischen Lagern der Türkei wird nun bei der Analyse der Abschlussdokumente von Brüssel offenbar. Bereits im Vorfeld des Gipfels hatten türkische Medien die Entwicklung der Formulierungen bis hin zu denen im Abschlussdokument des Gipfels verfolgt. Hier begrüßt die EU die vollzogenen Reformen und bietet an, die Türkei bei der Umsetzung der Reformen, besonders auf den Feldern der Grundrechte und Grundfreiheiten (Recht der freien Meinungsäußerung, Presse- und Medienfreiheit, Koalitions-, Demonstrations- und Religionsfreiheit), der kulturellen Rechte der Minderheiten sowie bei der Angleichung des Verhältnisses zwischen Politik und Militär an europäische Standards zu unterstützen, desgleichen bei der Lage im Südosten des Landes, also wohl bei der Lösung der Kurdenfrage.
Dass jedoch nicht dabei auf die gerade in den vergangenen zwei Wochen spektakulär und mediengerecht in Szene gesetzten Reformen wie die Freilassung der lange inhaftierten früheren DEP-Abgeordneten, darunter Leyla Zana, die Aufnahme von Sendungen in der Sprache ethnischer Minoritäten, unter anderem in Kurdisch, im türkischen Fernsehen, auf die neue Polizeiverordnung zum Demonstrationsrecht oder die veränderte Haltung der Generalstaatsanwaltschaft zur Strafwürdigkeit von Meinungsäußerungen ausdrücklich eingegangen oder Bezug genommen wurde, kommentierte Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan, der am Gipfel teilgenommen hatte, nach seiner Rückkehr aus Brüssel im Staatsfernsehen TRT, man habe wohl in Europa manche der Reformen in der Türkei anscheinend nicht mitbekommen.
Manche Reformen sind auch nicht mit zu bekommen. Ein für Telepolis befragter Internetprovider mit Sitz in Istanbul, der nicht genannt werden möchte, nennt die rechtlichen Harmonisierungen der Freiheit der Kommunikation mit Bestimmungen innerhalb der EU "einen eher gegenseitigen Prozess der Einschränkungen der Freiheit". Fast jede von Journalisten und Netzexperten beklagte "noch bestehende Zwangsmaßnahme für Internetbetreiber in der Türkei hat inzwischen ein analoges Pendant in einem der Staaten der EU".
Was unterscheidet Kroatien von der Türkei?
Nicht wenig Irritation löste in der türkischen Öffentlichkeit die schnelle Entscheidung des EU-Gipfels aus, Kroatien den Status eines Beitrittskandidaten zu verleihen und bereits die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen zuzusagen. Zwar versuchte Außenminister Abdullah Gul die Wogen der Enttäuschung zu glätten, in dem er beschwichtigte, man dürfe angesichts der Größe der Türkei nicht beide Länder gleich bewerten. Doch die türkischen Medien gehen davon aus, dass diese Entscheidung ebenso wie der ausführlich geschilderte Europawahlkampf der CDU/CSU in Deutschland und der Erfolg anderer konservativer und rechter Parteien in der EU mit ähnlichen Positionen als ein weiterer Beleg für den fehlenden Enthusiasmus in den EU-Staaten im Hinblick auf einen möglichen Beitritt der Türkei gewertet werden muss.
Zu einem sich bereits abzeichnenden Streit um die Aufnahme der Republik Zypern in die Zollunion mit der Türkei wählte man in der Schlusserklärung des Gipfels eine diplomatische Leerformel, in der Zypern nicht direkt erwähnt wird. Im Hinblick auf die im Dezember anstehende Entscheidung über die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit der Türkei wird ebenfalls keine Aussage getroffen, sondern lediglich die Entscheidung von Kopenhagen vom Dezember 2002 bekräftigt. Wenn auch mit unterschiedlichen Gewichtungen kritisiert man im Lager der etablierten Parteien in der Türkei ebenso wie bei Menschenrechtsorganisationen die Tendenz, die Entscheidung der EU-Kommission zuzuschieben, indem auch betont wird, dass alles letztlich vom kommenden Fortschrittsbericht abhängen wird.
Auf Seiten der Menschenrechtler fragt man sich besorgt, ob der Fall Kroatien nicht den weiteren Reformwillen der türkischen Regierung lähmen könnte, da doch die Menschenrechtslage in Kroatien ebenfalls nicht allzu rosig aussieht und gerade mal ein Anfang gemacht wurde, um z.B. die Diskriminierung der etwa 35.000 Angehörigen der Roma-Minderheit oder gar des hohen Anteils von kroatischen Bürgern serbischer Herkunft abzubauen.
Dennoch erfolgte die Zusage an Kroatien ohne Fortschrittsbericht über den Vollzug des Abbaus der Diskriminierungen und ohne die erfolgte Rückkehr vertriebener Flüchtlinge in die Krajina. Doch wen verwundert dies, wenn selbst selbsternannte Musterknaben innerhalb der EU ausdrücklich im neuesten dritten Bericht der Kommission gegen Intoleranz und Rassismus (ECRI des Europarats benannt werden, bei denen eine anhaltende Tendenz zur Missachtung von Rechten der Minderheiten festzustellen sei. Der Bericht hebt insbesondere die Lage in Deutschland, Tschechien, Ungarn und Griechenland hervor. Wen verwundert da dann noch die Argumentation des türkischen Staatsministers Aydin, die die Befürchtungen der Menschenrechtsorganisationen untermauert:
In der Türkei hat sich die Lage in den letzten Jahren sehr gebessert. In vielen europäischen Ländern hat die Demokratie aus sicherheitspolitischen Gründen in den letzten Jahren gelitten. Es gibt auch viele Beschwerden über die Verletzungen der Menschenrechte in den USA.
Den jüngsten Äußerungen Verheugens, der noch als EU-Erweiterungskommissar amtiert, war zu entnehmen, dass Einwände gegen die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit der Türkei nicht erhoben werden. Jedoch kündigte er an, es werde neben dem Fortschrittsbericht erstmals für ein Kandidatenland ein weiterer Bericht erstellt, der die Auswirkungen des Beitritts auf die EU abschätzen soll. Eine solche Folgenabschätzung könnte viel politisches und agitatorisches Spielmaterial für die Kräfte liefern, die wie die Unionsparteien die Zweifel an der Zugehörigkeit der Türkei zur "abendländischen Kultur- und Wertegemeinschaft" äußern, aber verdeckt einen zu großen Einfluss des bevölkerungsreichen Landes befürchten (siehe die Diashow auf der Webseite der Wiener Presse).
Diese Folgenabschätzung könnte sich sowohl zur Argumentationsgrundlage für eine Vertagung der Aufnahme von Beitrittsverhandlungen entwickeln, wie auch zu einer Verlängerung der Zielperspektive des Türkei-Beitritts führen, also später als 2014/15, wie jetzt noch ins Visier genommen. Je länger die Beitrittsperspektive verzögert wird, desto langsamer werden sich Verbesserungen der Menschenrechtslage in der Türkei und auch eine friedliche Lösung der Lage in Kurdistan hinziehen. Mit einer schlichten Vertagung oder einer weiteren Hinhaltestrategie kommt man sowohl Reformgegnern in der Türkei, ebenso wie populistischen Agitatoren der abzuschließenden abendländischen Festung Europa vor dem ungläubigen Morgenland in den EU-Staaten entgegen.