Die Türkei zwischen Nationalismus und Islamismus
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Das "Türkei-Problem" für den Westen: In den europäischen Regierungen hätten längst die Glühbirnen angehen müssen
Namhafte AKP-Mitglieder verlassen enttäuscht die Partei des Staatspräsidenten Erdogan. Als die AKP vor 18 Jahren an die Macht kam, hegten auch westliche Regierungen große Hoffnungen auf eine liberale, demokratische Türkei.
Viele dachten, mit der AKP, mit Erdogan ließe sich Demokratie mit einem liberalen Islam verbinden. Auch bei den Grünen gab es durchaus Sympathien für Erdogan. Heute ist die Türkei wegen ihrer aggressiven Außenpolitik und der wachsenden Gefahr einer islamistisch-faschistischen Ein-Mann-Herrschaft international zunehmend isoliert und wird wegen ihrer Unberechenbarkeit - ähnlich wie die USA - als Problemfall statt als Hoffnungsträger eingestuft.
Vom Hoffnungsträger zum Problemfall
Zu Beginn des Arabischen Frühlings im Jahr 2011 wurde die Türkei als Modell für die muslimische Welt gefeiert.
Wer sich nicht mit Erdogans Geschichte befasst hatte und seine wahre politische Ausrichtung hin zum politischen Islam nicht erkannt hatte, konnte in den "Nuller Jahren" in der Tat Hoffnung für die Türkei schöpfen. Als die AKP 2002 die Macht erlangte, trat sie als Fürsprecherin der muslimischen und eher konservativ geprägten Gesellschaftsschicht auf, die mit der vormaligen sehr autoritären, aber säkularen, kemalistisch-nationalistischen Regierung von Ministerpräsident Bülent Ecevit unzufrieden gewesen war.
Auf der internationalen Bühne trat die AKP für den Beitritt zur Europäischen Union ein, für mehr Demokratie, für Reformen in der Justiz zugunsten Menschenrechten und Minderheiten. Auch den Kurden sollten Gespräche mit der PKK endlich Frieden im Südosten der Türkei bringen. Das wurde bei der Parlamentswahl 2011 honoriert, als die AKP fast 50% der Wählerstimmen erhielt. Bis zu den Gezi-Protesten 2013 hielt die positive Stimmung und die Hoffnung auf Demokratie an, auch wenn die Umsetzung mehr als schleppend voranging.
2015, mit dem Einzug der links-demokratischen, pro-kurdischen Partei HDP ins Parlament verlor die AKP ihre absolute Mehrheit. Spätestens von da an war Schluss mit den Friedensgesprächen und den Reformen. Die AKP-Regierung reagierte auf die eigene Niederlage mit Neuwahlen und der Belagerung kurdischer Städte im Südosten. Von vielen unbemerkt, entwickelte sich Erdogan sich immer mehr zum Despoten, griff zu immer repressiveren Mitteln, um die Oppositionsbewegung, vor allem die 2015 erstmals ins Parlament gewählte HDP mit Terrorismusvorwürfen zu diskreditieren.
Für die AKP-Regierung wurden Bürger, die sich gegen Kriege aussprachen, plötzlich zu "Terroristen", wie z.B. die Friedensinitiative von Akademikern im Jahr 2016, die mittels einer Petition den Krieg im kurdischen Südosten kritisierte. Die türkische Regierung stufte die Petition als terroristische Propaganda und Beleidigung des türkischen Staates ein. 27 Wissenschaftler wurden verhaftet, Hunderte Akademiker, die die Petition unterzeichnet hatten, verloren ihren Job.
"Für den Frieden zu sein, ist in der Türkei also ein terroristischer Akt", konstatiert die Wissenschaftlerin Rosa Burc, die zu alternativen Demokratiemodellen und politischen Vorstellungswelten der Staatenlosen promoviert, im Interview mit dem Magazin ze.tt.. Der gescheiterte Putsch im Juli 2016, welcher der Gülen-Bewegung zwar zugeschrieben wird - was aber bis heute nicht bewiesen ist, nährte Erdogans Angst vor Machtverlust.
Seit April 2017 steht die Türkei unter dem Monitoring des Europarates - solange, bis "ernste Bedenken" über die Einhaltung der Menschenrechte, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit "auf zufriedenstellende Weise ausgeräumt werden". Im Jahr 2019 erreichte die Türkei bei dem Demokratieindex der Zeitschrift The Economist auf einer Skala von null bis zehn lediglich 4,09 Punkte und liegt damit in der Kategorie "hybrides Regime" an der Grenze zum autoritärem Regime.
"Wir haben von Freiheit und Gerechtigkeit gesprochen, aber offenbar haben wir nicht wirklich Gerechtigkeit gemeint, nicht wirklich Freiheit gemeint. Den Islamisten und ihrer Klientel unter den landflüchtigen Anatoliern ging es vor allem darum, einen Anteil vom Kuchen zu bekommen", resümiert der ehemalige AKP-Abgeordnete und Vorsitzende der Menschenrechtskommission, Mustafa Yeneroglu.
Enttäuschungen
Von Freiheit und Gerechtigkeit ist heute nichts mehr übrig. Immer mehr Bürger der Türkei kehren der Regierungspartei und Erdogan enttäuscht den Rücken. Wahlprognosen sehen die AKP mittlerweile unter 40 Prozent. Auch international rücken immer mehr Politiker quer durch alle Parteien von Erdogans Politik ab. Gerichte bescheinigen der türkischen Regierung Menschenrechtsverletzungen gegen Oppositionelle und ethnische Minderheiten im Land und völkerrechtswidrige Angriffskriege in den Anrainerstaaten.
Ich konnte meinen Kindern nicht mehr ins Gesicht sehen, ohne mich zu schämen - deshalb bin ich aus der AKP ausgetreten. Jetzt werde ich gefragt, warum ich mich von Erdogan distanziert habe, und dazu sage ich: Nein, nicht ich habe mich entfernt. Es ist der Staatspräsident, der sich von unseren Werten entfernt hat - so weit entfernt, dass ich mich entscheiden musste: Entweder ich verleugne meine Werte, oder ich stelle mich dieser Entwicklung entgegen…
Mustafa Yeneroglu
Yeneroglu fand nach seinem Parteiaustritt ungewöhnlich deutliche Worte der Kritik:
"Wir haben es hier mit Machthabern zu tun, die völlig unkontrolliert und trunken von ihrer Macht jedes Unrecht begehen, um an der Macht festzuhalten. Die heutige Ordnung in der Türkei hat mit dem Islam und islamischen Werten nicht das Geringste zu tun, nicht einmal entfernt. Denn islamische Werte gründen zuallererst auf Gerechtigkeit. Wo keine Gerechtigkeit ist, darf man sich nicht als Muslim bezeichnen - das ist eine Schande."
Yeneroglu gehört heute der neu gegründeten konservativen Partei des ehemaligen Wirtschaftsministers und ehemaligen AKP-Mitglieds Ali Babacan an. Auch der von Erdogan kaltgestellte, frühere Ministerpräsident Ahmet Davutoglu und der frühere Staatspräsident Abdullah Gül sind aus der AKP ausgetreten und nahmen ihre Gefolgsleute gleich mit.
Abkehr der Bevölkerung vom politischen Islam
Erdogans Bemühungen, in der Türkei den politischen Islam nach Vorbild der ägyptischen Muslimbruderschaften einzuführen, scheinen gescheitert. Obwohl er Hunderte Gymnasien in religiöse Imam-Schulen umwandelte, halbierte sich die Zahl der jungen Menschen im Alter zwischen 15 und 25 Jahren, die sich als islamisch-konservativ bezeichnen. Nur noch knapp 20 Prozent der Jugendlichen bezeichnen sich als fromm.
Der türkische Journalist Rusen Cakir, der die islamische Bewegung in der Türkei seit den 1980er Jahren beobachtet und als führender Kenner der AKP gilt, konstatiert:
"Selbst die Kinder frommer Familien fühlen sich nicht mehr zur islamischen Bewegung oder irgendeiner Form von Islamismus hingezogen."
Susanne Schröter, Islamexpertin und Buchautorin, beschreibt den politischen Islam als eine Bewegung, "die auf die Übernahme des Politischen zielt". Es gehe darum, "die gesamte Gesellschaft Stück für Stück anhand von islamischen Normen zu verändern. Also islamische Normen anstelle anderer Normen, säkularer Normen, multikultureller Normen et cetera zu setzen", erklärt Schröter.
Mit dieser Politik manövrierte Erdogan die Türkei letztlich in eine islamistische Ecke - und verstärkte die Spaltung der Bevölkerung. Nachdem viele gläubige Türken in Erdogan einst einen Hoffnungsträger sahen, weil sie sich von den autoritären, säkularen CHP-Eliten ihres Landes ausgegrenzt und unterdrückt fühlten, präferiert nun anscheinend ein Großteil der türkischen Bevölkerung wieder einen modernen, demokratischen und laizistischen Staat.
Dazu zählt nicht nur die oppositionelle linke Partei HDP, die sich darüber hinaus für die Anerkennung und Rechte von ethnischen Minderheiten im Vielvölkerstaat Türkei einsetzt, dazu zählen auch viele Künstler, Musiker oder zivilgesellschaftliche Gruppen aus der Frauenbewegung, der LGBTI-Bewegung, der Ökologie- oder Friedensbewegung.
Die kemalistische CHP, die die Werte Atatürks vertritt, ist zwar wie die AKP, MHP und IYI-Parti gegen die Anerkennung von Minderheiten und verleugnet ebenfalls die Tatsache, dass die Türkei ein Vielvölkerstaat ist, verteidigt aber einen laizistischen Staat - was viele konservative, aber nicht islamistische Wähler bindet.
Der dominierende Flügel der CHP präferiert allerdings nach wie vor ein zentralistisches, nationalistisches und autoritäres Staatsmodell. Obwohl die CHP-Fraktion im türkischen Parlament ebenfalls für die Aufhebung der Immunität von 50 HDP-Abgeordneten stimmte und damit letztlich zur Inhaftierung und Verurteilung der HDP-Vorsitzenden Selahattin Demirtas und Figen Yüksedag beitrug, gerät auch sie immer wieder ins Visier der Justiz, wenn ihre Kritik zu sehr an den Fundamenten der AKP kratzt.
Selbst bei einem Teil der Nationalisten wie z.B. der von der MHP abgespaltenen IYI-Parti rumort es, weil ihnen Erdogans Politik zu islamistisch ist. Sie präferieren ebenfalls ein zentralistisches, nationalistisches Staatsmodell, das autoritär ausgerichtet ist. Einzig die faschistische MHP, die in Koalition mit der AKP regiert, unterstützt den Erdogan-Kurs.
Auch wenn das Erdogan-Regime nahezu alle Medien unter Kontrolle hat, nehmen zunehmend mehr Menschen die Prunksucht in Erdogans Palästen wahr, während sie sich kaum noch Fleisch leisten können. Erdogans Streben, als großer muslimischer Führer in die Geschichte einzugehen und ein neues Osmanisches Reich zu schaffen, wird von den aufgeklärten Eliten zunehmend als narzistische Störung und Machtwahn Erdogans wahrgenommen.
Aber noch es gibt vor allem in ländlichen Gebieten viele Menschen, die westliche Werte als Bedrohung empfinden und die Erdogan als starken Mann betrachten, der dem Westen islamische Werte entgegensetzt. Der türkische Autor Mustafa Akyol, der sich in seinem Buch "Islam without Extremes" für einen liberalen Islam einsetzt, bestätigt die Beobachtungen des Journalisten Cakir. Der Deutschlandfunk zitiert Akyol so:
"Viele Menschen fühlen sich abgestoßen vom autoritären Regime, von seinen Unrechtstaten, der Korruption, dem Nepotismus. Und weil das Regime die Religion nutzt, um sein Tun zu rechtfertigen, führt der Widerwille gegen das Regime zu einem Widerwillen gegen die Religion selbst."
Während die einen die außenpolitischen Eskapaden Erdogans feiern, weil diese ihren Nationalstolz bedienen, sorgen sich die anderen, weil Erdogan überall zündelt und das Pulverfass jederzeit hochgehen kann.
Wohin diese Spaltung der Gesellschaft führt, kann momentan keiner voraussehen. Es kann gut sein, dass die ökonomische Krise, die Korruption, der Klientelismus in Verbindung mit der gesellschaftlichen Spaltung zu einem Bürgerkrieg führt.
Dann hat der Westen auch ein Problem, da die Konflikte sich auch in den westlichen Ländern entladen können. Die Türkei-Korrespondentin des Berliner Tagesspiegel, Susanne Güsten, die in der Vergangenheit eher moderate bis AKP-freundliche Artikel verfasste, kommt nun in ihrer Analyse zur türkischen Außenpolitik zum Ergebnis, dass sich an der Bereitschaft der türkischen Regierung zu militärischen Einzelaktionen in den Anrainerstaaten und ihrem schroffen Stil so schnell nichts ändern wird.
Das "Türkei-Problem" für den Westen habe gerade erst begonnen.