Die Türkei zwischen Nationalismus und Islamismus
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Der politische Islam Erdogans vermischt Nationalismus, Islamismus und Raubtierkapitalismus. Nach den Gezi-Protesten 2013 und dem Zerwürfnis mit den Gülenisten brauchte Erdogan neue Bündnispartner, um seine Macht erhalten zu können.
Spätestens als er ein Bündnis mit der MHP, der faschistischen Partei in der Türkei, einging und AKP-Politiker reihenweise deren Rhetorik und Symbolik (z.B. den Wolfsgruß der faschistischen Grauen Wölfe oder den Rabbia-Gruß der Islamisten) übernahmen, hätten bei den europäischen Regierungen viele Glühbirnen angehen müssen.
Man stelle sich vor, Außenminister Heiko Maas zeigt den Hitlergruß. Wie kann es sein, dass ein Repräsentant eines Nato-Staates, der auf den wichtigsten internationalen Bühnen auftritt und daher immerhin durch diesen Status auch internationale Regeln einhalten muss, permanent gegen eben diese verstößt und damit in Ruhe gelassen wird? Die Antwort kann vermutlich nur eine zynische Antwort sein. Regierungs-Politik kennt keine Moral und funktioniert nicht nach den ethischen Werten, die sie vorgibt.
Es gibt einen Propagandafilm über Erdogan mit dem Titel "Reis". Das Wort bedeutet "der Boss, der Anführer". Eine Bezeichnung, die nicht dem muslimisch-religiösen Kontext entspringt, sondern aus dem säkular nationalistischen Sprachgebrauch stammt. Er wird vor allem vom Militär und kriminellen mafiösen Strukturen benutzt.
Für Ruken Cakir ist dies ein Beweis, dass Erdogan sich von der muslimischen Gemeinschaft entfernt hat - hin zum Nationalismus. Das wird auch in der türkischen Gesellschaft wahrgenommen. Der einstige Hoffnungsträger für einen demokratischen, liberalen islamischen Staat mutiert zum Nationalisten auf dem Ticket des Islam.
Für viele Menschen in der Türkei wird immer deutlicher, dass Erdogan verschiedene Labels benutzt, um seine Macht zu konsolidieren. Hier liberal, dort islamistisch. Religion ist für viele nur noch Mittel zum Zweck, um im System Erdogan an Pfründe und Jobs zu kommen. Das entzweit die Gesellschaft. Dieses korrupte System im Namen des Islams und den Personenkult um Erdogan haben mittlerweile viele Leute satt.
Der anfangs erwähnte ehemalige AKP-Abgeordnete Yeneroglu bescheinigt der türkischen Regierung, ein noch schlimmeres Übel als das des autoritären Kemalismus zu sein. Damals konnten die Menschen noch demonstrieren und Widerstand leisten, kein Student wurde deshalb von der Uni geschmissen, berichtet Yeneroglu. Heute kann das keiner mehr, "weil das Regime heute mit Unterdrückung und Angst arbeitet und alle kriminalisiert, die es kritisieren".
Yeneroglu, der einst in deutschen Talkshows die Politik Erdogans verteidigte, hat Recht. Mit immer neuen Repressionen, Mandatsentzügen und Verhaftungen von Parlamentsangehörigen der Opposition sendet Erdogan klare Botschaften an die Bevölkerung: "Wer nicht für mich ist, ist gegen mich und bekommt das zu spüren."
55 von 65 gewählten HDP-Bürgermeistern wurden mittlerweile abgesetzt und durch Zwangsverwalter ersetzt, Teile kurdischer Städte dem Erdboden gleichgemacht und die Bevölkerung vertrieben. Die Folgen beschreibt ein ARD-Beitrag vom 7.6.2020. Die Frage ist, ob Erdogans trotzige Reaktion, mit noch mehr Repression auf die abstürzenden Umfragewerte der AKP bei den nächsten Wahlen zu reagieren, erfolgreich sein wird.
Schon im November 2019 fuhr der einst von großen Teilen der Bevölkerung bejubelte Präsident bei einem Auftritt im islamisch-konservativen Konya eine Schlappe ein. Statt gewohnter jubelnder Massen im konservativen Kernland der AKP fanden sich nur ein paar hundert Zuhörer ein. Grund dürfte der Parteiaustritt des einstigen Ministerpräsidenten Ahmet Davutoglu sein, der von 2014 bis 2016 selbst AKP-Chef war und zu Erdogans schärfstem innerparteilichen Kritiker wurde. Er warf der AKP und Erdogan vor, sie hätten sich von ihren vier Gründungsprinzipien "Demokratie, Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit" bis zur Unkenntlichkeit entfernt:
Nach Umfragen von Mitte Mai käme die AKP nur noch auf ca. 32 bis 39 Prozent der Wählerstimmen, ein Absturz von 10 Prozent im Vergleich zur Parlamentswahl im Juni 2018. Auch die faschistische MHP kann keine Zuwächse verzeichnen. Nach den Umfragen hätte damit die AKP-MHP Regierung keine Mehrheit mehr. Schon wird spekuliert, ob Erdogan die für 2023 vorgesehenen Wahlen vorziehen und die HDP, die immerhin mehr als 13 Prozent der Wählerstimmen für sich verbuchen konnte, verbieten lässt.
Angesichts dessen, dass erst kürzlich eine AKP-Kommission zur Änderung des Wahlrechts gegründet wurde, sind derartige Vermutungen nicht aus der Luft gegriffen. "...Erdogan wird versuchen, Änderungen im Wahlrecht zu seinen Gunsten vorzunehmen, die Opposition weiter zu schwächen und zu kriminalisieren und dann in einem für ihn günstigen Moment mit Neuwahlen abzuräumen," meint der Essener Türkei-Experte Burak Copur.
Spaltung der Opposition
Eine weitere Strategie Erdogans scheint es zu sein, die ohnehin nicht einige Opposition weiter zu spalten. Vor allem an die oppositionelle, kemalistische CHP erging die Botschaft:
"Denkt nicht einmal an ein vereintes prodemokratisches Lager mit der prokurdischen Partei."
Gemeint ist die HDP, die bei den letzten Kommunal-Wahlen durch den Verzicht auf eigene Kandidaten und dem Aufruf die CHP-Kandidaten zu wählen, der CHP in mehreren westtürkischen Metropolen wie Istanbul, Izmir und Ankara zu Bürgermeistern verholfen hat.
Leider ist die CHP für ihr Einknicken bekannt, wenn sie für sich keine Vorteile erwarten kann. 2017 führte der CHP-Vorsitzende Kemal Kilicdaroglu einen 450 Kilometer langen "Marsch für Gerechtigkeit" von Ankara nach Istanbul an, nachdem dem jetzt erneut ins Visier geratenen CHP-Abgeordnete Berberoglu die Immunität aberkannt wurde, weil er Informationen über getarnte Waffenlieferungen des türkischen Geheimdienstes MIT an den IS öffentlich machte und kurzzeitig inhaftiert wurde.
Heute stellt sich die CHP gegen den Marsch der HDP, die mit einem Sternmarsch auf Ankara gegen die Inhaftierung ihrer Abgeordneten und Absetzung ihrer gewählten Bürgermeister demonstriert. Heute seien die Bedingungen andere, meint der CHP-Vorsitzende Kilicdaroglu. Man dürfe sich nicht durch einen "Trick" der Regierung zu Straßenprotesten hinreißen lassen.
"Wir müssen uns aller Handlungen enthalten, die zu Spannungen führen können und Provokationen ermöglichen."
Offen bleibt die Frage, was denn im Vergleich zu 2017 anders sein soll und weshalb man nicht zusammen gegen einen Despoten auf die Straße gehen kann?