Die Tugenden der Wissenschaft im Kampf gegen populistische Strömungen
Intellektuelle Redlichkeit II
Es sind manchmal ganz banale Erlebnisse, Gespräche oder Vorkommnisse, die einem die Augen für die Dramatik gesellschaftlicher Entwicklungen öffnen. Ein beruflich geschätzter Kollege bei der Arbeit, der die Evolutionstheorie anzweifelt ("Hinter all der Schönheit und Erhabenheit der Natur muss doch ein großer Plan stecken"), Internetblogger, die lauthals verkünden, dass die Relativitätstheorie nicht stimmen kann ("Das ist doch alles unlogisch, was Einstein gesagt hat"), die Schwiegermutter, die sich vehement gegen das Impfen ihrer Enkelkinder wehrt ("Die armen Kinder werden vergiftet, sie werden zu Autisten") oder der Freund, der sich unerwartet als Klimaskeptiker gibt ("Ja, das Klima ändert sich vielleicht, aber Klimaschwankungen hat es schon immer gegeben, das hat nichts mit menschlichen Einflüssen zu tun").
Ein vorsichtiger Einwand, dass in all dieser Hinsicht die Wissenschaften eindeutige Aussagen machen und dass sich die Experten zu 99% einig seien, wird dann mit dem Verweis weggewischt: "Ach, die Wissenschaftler, die wissen es doch auch nicht besser. Die sind sich ja gar nicht 100% einig." Oder sogar: "Die werden doch dafür bezahlt, dass sie diese Aussagen machen."
Noch bedenklicher wird es, wenn Menschen in hohen Machtpositionen öffentlich den wissenschaftlichen Konsens anprangern. So glaubt der US-Vize-Präsident Mike Pence nicht an die Evolutionstheorie. Er hält es für eine fundamentale Wahrheit, dass Gott Himmel, Erde und die Ozeane geschaffen hat - und den Menschen auch. Kaum ein vernünftiger, aufgeklärter Mensch zweifelt heute noch an der Evolution. In den 160 Jahren, seit Charles Darwin seine Theorie formulierte, haben Wissenschaftler aus unzähligen Mosaiksteinchen ein konsistentes Bild von der Entstehung der Arten zusammengesetzt. Und trotzdem basteln sich nicht wenige Menschen ihre eigenen Wahrheiten zurecht - und werden dann auch noch in Positionen mit enormer Machtfülle gewählt.
Und der Unsinn hört auch nicht bei Adam und Eva auf. Physiker mögen es kaum glauben, aber es gibt eine äußerst lautstarke Community von Gegnern der Relativitätstheorie, und dies obwohl diese empirisch noch weit besser belegt ist als die Evolutionstheorie - in Kombination mit der Quantenphysik ist sie die am besten belegte Theorie in der gesamten Wissenschaft. Aber was dem gesunden Menschenverstand widerspricht, kann ja nicht stimmen, so lautet der Tenor dieser Gruppe, der in entsprechenden Internetforen leidenschaftlich artikuliert wird und seriöse Wissenschaftsblogs mit völlig irren und unsinnigen Kommentaren überflutet.
Besonders vehement wird auch der Klimawandel geleugnet (teils sogar in den gleichen Foren). Trotz eines immer breiteren Konsens der Klimaforscher, also derjenigen, die am meisten davon verstehen, immer heißerer Sommer in Europa, dem Abschmelzen der Gletscher in den Alpen, auf Island und in Grönland, den besonders heftigen Monsunregenfällen in Indien, zerstörerischen Hurrikans in Nordamerika und Taifunen in Asien und nicht zuletzt trotz der immensen Kostenabschätzungen von Wirtschaftsfachleuten lautet der Kanon so mancher reaktionärer politischen Akteure: "Wir lehnen den Klimawandel ab."
Vielleicht wollen sie demnächst auch die Gravitationskraft "ablehnen"? Ein besonders erschreckendes Beispiel: Der australische Regierungschef Scott Morrison bevorzugt es als Mitglied der Pfingstbewegung, in der Feuerkrise seines Landes, für die Klimaforscher eine Manifestation des Klimawandels, für Regen zu beten, statt auf die Wissenschaft zu hören.
Das echte Problem
Wie kann das sein? Der Glaube auch dieser Menschen an die technologischen Manifestationen wissenschaftlicher Erkenntnisse ist doch wohl kaum geringer geworden. Auch für Klimaskeptiker, Evolutions- und Relativitätstheoriekritiker, Impfgegner, Trump- oder AfD-Anhänger und andere erklärte Gegner der wissenschaftlichen Methode ist es selbstverständlich, mit Blitzableitern ihre Häuser vor Gewittern zu schützen, statt durch Opfergaben an Götter. Auch sie benutzen GPS-Systeme, um an ihr Ziel zu kommen, schlucken Antibiotika, wenn sie eine bakterielle Infektion haben und benutzen ihren Computer und das Internet, um mit Freunden und Geschäftskollegen zu kommunizieren und ihre populistische Polemik zu streuen.
Auch in der breiten Bevölkerung lässt sich kaum ein Anstieg der Wissenschaftsskepsis feststellen. So gaben 2019 in repräsentativen Umfragen nur acht Prozent der Menschen in Deutschland an, Wissenschaft und Forschung "eher nicht" oder "nicht" zu vertrauen (so im "Wissenschaftsbarometer", publiziert von Wissenschaft im Dialog - einer Initiative der deutsche Wissenschaften - und der Robert Bosch Stiftung), und dies nach 7% im Jahr 2018 und 12% im Jahr 2017. Auch ist die wissenschaftliche und wissenschaftsmethodische Ausbildung an Schulen und Universitäten umfangreicher als je zuvor, Tendenz - seit dreihundert Jahren - weiter steigend.
Allerdings bezweifelt laut dem Wissenschaftsbarometer eine Mehrheit, dass die Wissenschaft auch wirklich unabhängig ist. Über 60% der Befragten waren der Meinung, dass der Einfluss der Wirtschaft auf die Wissenschaft "zu groß" oder "sehr zu groß" ist, und bei der Frage nach dem Einfluss der Politik sind dies ebenfalls weit mehr als 50%. Die Menschen sind also misstrauisch bzgl. einer zu starken Abhängigkeit der Wissenschaft vom Geld. Das hat im Jahr 1990 bereits Karl Popper so gesehen:
Ich bin ein begeisterter Anhänger der Wissenschaft. Physik und Biologie sind für mich großartige Wissenschaften, und ich halte die meisten Physiker und Biologen für sehr gescheit und gewissenhaft. Aber: Sie stehen unter Druck. Diesen Druck gibt es erst seit dem zweiten Weltkrieg, seitdem so viel Geld für die Wissenschaft ausgegeben wird.
Karl Popper
Es erscheint widersprüchlich: Die Menschen vertrauen der Wissenschaft grundsätzlich, trauen ihr aber auch große Interessenkonflikte zu. Die "Wissenschaftler sind bezahlt", heißt es dann, nicht selten mit dem Anhängsel "und zwar vom Staat". Doch was sich skandalträchtig anhören soll, erweist sich bei näherer Betrachtung als eine Banalität: Sollen die Forscher vielleicht umsonst arbeiten? Dass die meisten Forschungsbetriebe und damit Geldgeber staatliche Einrichtungen sind, hat sich für unsere Gesellschaft als sehr hilfreich erwiesen. Denn es ist gerade die zunehmende Abhängigkeit der Wissenschaft von kommerziellen Interessen, die uns beschäftigen sollte.
Bei aller positiven Entwicklungsdynamik des Zusammenwirkens von Unternehmergeist und wissenschaftlichen Kreativität, die in den letzten 200 Jahren die enorme Wohlstandsvermehrung ausgelöst hat, so erscheint es den meisten Menschen doch eher unheimlich, die Renditegier der Technologie-Investoren, die Ideologie der Silicon-Valley-Transhumanisten oder ganz allgemein die kapitalistische (bzw. militärische) Verwertungslogik über unserer aller Zukunft entscheiden zu lassen.1 Und was uns blüht, wenn ein allmächtiger Staat außerhalb demokratischer Strukturen den wissenschaftlichen und technologischen Fortschritt steuert, zeigt das Beispiel China.
Verlust der Wahrheit
Dazu kommt eine zweite Entwicklung innerhalb der Wissenschaften, die ihren populistischen Gegnern entgegenkommt. Beginnend mit der modernen Physik Anfang des 20. Jahrhunderts ließ sie zunehmend vom Glauben an die Möglichkeit absoluter Gewissheit ab. So musste Newtons Vorstellung eines absoluten Raums bzw. einer absoluten Zeit durch die relationale Raum-Zeit von Einsteins Relativitätstheorie ersetzt werden, die Nicht-Physiker kaum noch verstehen können.
Noch einschneidender war die Erkenntnis, dass ein Quantenobjekt gleichzeitig Welle und Teilchen ist und dass im Mikrokosmos ganz andere Gesetze als in unserem Makrokosmos gelten. Die Wissenschaftler mussten lernen, mit komplementären Wahrheiten zu leben, also: nicht A oder B ist wahr, sondern A und B können beide zugleich wahr sein.
Der endgültige Todesstoß für den philosophischen Anspruch nach letzten und begründenden Wahrheiten war der neue Objektbegriff in der Quantenphysik. Nachdem die Zeit schon nicht mehr absolut ist, so soll es den Physikern gemäß im Mikrokosmos auch keine reale und unabhängig existierende Objekte mehr geben, keine objektive Realität und damit auch keine absolute Sicherheit.
Es ist paradox: Je mehr Wissen wir erlangten, desto weniger durften wir darauf hoffen, dass es eine letzte Wahrheit gibt. Der Preis für unseren Wissenszuwachs ist also hoch - wir haben nun nichts mehr, woran wir uns festhalten können. In einem über drei Jahrhunderte laufenden Prozess hat sich die Menschheit Schritt für Schritt all ihrer mühsam aufgebauten Gewissheiten beraubt.
Mit Kopernikus verloren wir unsere Zentralstellung im Universum.
Darwin zeigte uns, dass wir auch nicht im Zentrum der Schöpfung stehen, sondern vielmehr Ergebnis eines Prozesses sind, den Tiere und Pflanzen gleichermassen durchlaufen.
Freud zufolge sind wir noch nicht einmal Herr im eigenen Haus unseres Geistes, dem Raum unserer subjektiven Empfindungen und Gedanken.
Zuletzt sagten uns Relativitäts- und Quantentheorie, dass kein Standpunkt wichtiger und "richtiger" ist als alle anderen, und es auch keinerlei reale und unabhängig existierende ("substantielle") Objekte gibt.
Uns ist die absolute und ewige Wahrheit abhandengekommen. Das ist auch gut so, denn so funktioniert die Welt nun mal nicht. Umso wichtiger sind die wissenschaftlichen Wahrheiten, sie helfen uns, uns in unserer Welt zurechtzufinden. Diese Wahrheiten sind keine Dogmen, denn sie stehen ständig auf dem Prüfstand, zum Beispiel durch Experimente und den rationalen Diskurs mit Kollegen; jederzeit können sie - je nach Faktenlage - verworfen und neu formuliert werden. Wie schon Galilei erkannte, liegt gerade darin die große Stärke der Wissenschaften.
Kampf gegen die populistische Psychologie
All diese Verluste von Wahrheiten haben Auswirkungen auf die menschliche Psyche. Eindeutige Wahrheiten, klare spirituelle Grundlagen und unverrückbare Prinzipien sind offenbar wichtig für uns, damit wir uns in der Welt zurechtfinden. Das Vakuum, das der Verlust alter Gewissheiten hinterlässt, erzeugt in uns eine tiefe Verunsicherung. So kommt es, dass angesichts der Komplexität gesellschaftlicher, politischer, wirtschaftlicher und wissenschaftlicher Fragen für so manchen ein Fluchtweg in die Vergangenheit führt, in der vermeintlich alles einfacher und besser war.
Slogans wie "Die Relativitätstheorie ist unlogisch. Newton hatte recht" sind attraktiver als sich durch die mathematische Komplexität der moderne Physik zu kämpfen, ganz so wie "Make America Great Again" oder "Es gibt keinen menschenverursachten Klimawandel" in vielen Ohren besser klingt als die Diskussion über komplexe internationale Handelsbeziehungen oder nichtlineare globale meteorologische Effekte durch die Erwärmung unserer Atmosphäre.
Diese beiden Punkte, die durchaus ernste Gefahr einer ausschließlich kapitalistischen Verwertungslogik neuer wissenschaftlicher Erkenntnisse und die Flucht in einfache "Wahrheiten", spielt heutigen Populisten, Vereinfachern und Wissenschaftsgegnern in die Hände. Ihr Erfolg liegt in der verzerrenden Simplifizierung intellektuell fordernder gesellschaftlicher und wissenschaftlicher Zusammenhänge und dem verschwörerischen Verweis, dass die Wissenschaftler nur ihren eigenen Interessen folgen.
Und wer sagt eigentlich, dass Populisten, Relativitätskritikern, Evolutionsgegnern und Klimawandelleugnern nicht mit dem gleichen Anspruch wie die Wissenschaftler "wissen" dürfen, was sie wollen? Was ist der Unterschied zwischen wissenschaftlicher Wahrheit und populistischer Wahrheit? Der Unterschied liegt in der Motivation der Beteiligten. Wissenschaftler wollen in einer Welt voller Unsicherheiten ihr Wissen vergrößern - uneingeschränkt, aufrichtig, rational und methodisch. Dazu stehen ihnen die mächtigen Tugenden der Wissenschaften zur Verfügung:
- Abkehr von Dogmen und eine kompromisslos reflexive Einstellung zum eigenen Wissen,
- Neugier und Vertrauen auf eigene Beobachtungen sowie das ehrliche Bekenntnis zu Fakten und ihre empirische Überprüfung,
- Vertrauen in unbestechliche Mathematik,
- Anwendung von Wissen in Form von Technologie zum Wohle der Menschen.
Den Populisten dagegen geht es nicht um Wissensvermehrung, sondern um Glaubensbestätigung. Sie setzen klare unumstößliche Wahrheiten voraus; was nicht "ihrer Wahrheit" entspricht, wird mit Mitteln der Macht bekämpft, nicht mit denen des Argumentes oder der Faktenlage. Dies ist buchstäblich ein Rückschritt ins frühe Mittelalter, als es eine selbstreferentielle Einstellung zum eigenen Wissen nicht gab. Wissen diente damals einem fremden Zweck, zumeist dem, einen bestimmten Glauben zu bestätigen.
Erst ab dem 12. Jahrhundert begann Wissen, "eigensinnig" zu werden. Und genau dies versuchen die Populisten nun umzudrehen. Noch einmal, diesem verhängnisvollen Trend gegen müssen wir begegnen!
Der Beitrag von Lars Jaeger erschien zuerst auf seiner Website larsjaeger.ch. Jaeger ist ein schweizerisch-deutscher Unternehmer, Wissenschaftler, Schriftsteller, Finanztheoretiker und alternativer Investmentmanager. Er studierte Physik und Philosophie an der Universität Bonn in Deutschland und der École Polytechnique. Seinen Doktortitel in theoretischer Physik erwarb er in Studien am Max-Planck-Institut für Physik komplexer Systeme in Dresden. Zuletzt ist von ihm das Buch "Mehr Zukunft wagen! Wie wir alle vom Fortschritt profitieren" erschienen.
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