Die Überschätzung des tatsächlichen Anstiegs der Coronavirus-Neuinfektionen

Seite 2: Der Facebook-Post von Boris Palmer

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In Reaktion auf meinen Artikel ist weiterhin ein Facebook-Post von Boris Palmer, Oberbürgermeister von Tübingen erschienen, in dem er meint, bei meinem Beitrag würde es sich um "schwer durchschaubare Fake News" handeln. Das Argument, auf dem diese Annahme beruht, ist das folgende (Zitat):

Völlig falsch ist auch die Behauptung, wir hätten nur mehr Fälle gesehen, weil wir mehr getestet haben. Das ignoriert die Tatsache, dass nur noch Menschen mit Symptomen getestet wurden, also zunächst erkannte symptomlose Fälle aus dem Raster fielen. Und bei der real durchgeführten Verzwangzigfachung der Tests hätte auch der Anteil der positiv getesteten drastisch abfallen müssen, wenn es keine Welle gegeben hätte. Tatsächlich ist er angestiegen. Die Infektionswelle zu bestreiten ist grober Unfug.

In Wirklichkeit verbreitet Boris Palmer hier statistischen Unfug, den man eigentlich leicht erkennen kann: Er meint, dass man zuerst eine Personengruppe getestet hätte, in der auch Personen ohne Symptome dabei waren, und dass man dann auf eine symptomorientierte Testung umgestellt hätte. Nehmen wir einmal an, das würde wirklich stimmen. Dann wäre das genau der Fall, in dem die berichteten Zahlen den wahren Anstieg in den Neuinfektionen sogar noch mehr überschätzen würden.

Das kann man sich leicht klarmachen: Nehmen wir an, 10% der Personen in einer Population sind krank, und das ändert sich auch nicht über die Zeit. Was würde nun passieren, wenn man von einer nicht symptomorientierten auf eine symptomorientierte Testung wechseln würde? Dann steigt der Anteil infizierter Personen in der getesteten Personengruppe: Wenn man beispielsweise in der ersten Woche blind alle Personen auf die Krankheit testen würde, dann hätte man natürlich viele Personen dabei, die gar nicht krank sind - der Anteil positiver Testergebnisse wäre damit relativ gering.

In der zweiten Woche wechselt man die Testkriterien, und man fängt an, nur noch Kranke zu testen. Damit steigt der Anteil positiver Testergebnisse. Der Anstieg im Anteil positiver Testergebnisse von der ersten auf die zweite Woche könnte nun bei einem naiven Betrachter die Illusion hervorrufen, dass sich womöglich die Krankheit stärker ausgebreitet habe. Aber das ist natürlich ein Trugschluss, denn der Anstieg spiegelt nur den Effekt der Änderung der Testkriterien von einer nicht symptomorientierten auf eine symptomorientierte Testung wider. Es ist also exakt andersherum als von Boris Palmer vermutet.

Auch die Vermutung, dass eine Verzwanzigfachung der Tests (Anmerkung: so stark wurde die Anzahl der Tests gar nicht erhöht von Kalenderwoche 10 auf 15) zu einem Abfall des Anteils positiver Testergebnisse führen müsste, ist falsch, wie oben bei der Diskussion des Arguments 3 von Prof. Schneider schon gezeigt.

Unabhängige empirische Evidenz für die Überschätzung des wahren Anstiegs der Neuinfektionen

Wie in meinem Nachfolgeartikel Die Überschätzung des tatsächlichen Anstiegs der Coronavirus Neuinfektionen außerdem gezeigt wurde, wird die Überschätzung des wahren Anstiegs der Neuinfektionen zudem durch weitere unabhängige empirische Evidenz bestätigt. Wie dort genauer beschrieben, werden im Rahmen der Influenza-Überwachung des Robert Koch-Instituts (RKI) die von Referenzpraxen eingesendeten Proben von Patienten mit Atemwegsinfektionen auf das Vorhandensein von Influenza- und Erkältungsviren und seit dem 24. Februar auch auf das Coronavirus untersucht.

Auch in dieser repräsentativen Stichprobe aus der Bevölkerung von Menschen mit Atemwegsinfektionen gibt es keinerlei Hinweis auf einen exponentiellen Anstieg der Coronavirus-Infektionen.

Das "Nowcasting"-Modell des RKI

Um die Ausbreitung des Coronavirus genauer einschätzen zu können, wird vom RKI die Entwicklung der Coronavirus-Ausbreitung mit Hilfe eines sogenannten "Nowcasting" modelliert. Anhand dieser Modellierung wird dann die sogenannte Reproduktionszahl R geschätzt. In jedem der täglichen Lageberichte des RKI werden die Ergebnisse dieser Modellierung als Graphik dargestellt und der damit geschätzte R-Wert genannt.

Das Nowcasting-Verfahren wird in einem Fachartikel des RKI im Epidemiologischen Bulletin genauer beschrieben. Interessanterweise erkennen die Autoren das Problem der Erhöhung der Testanzahl über die Zeit ebenfalls. So schreiben sie (auf Seite 15, Abschnitt 2):

"Ein weiterer Aspekt ist aber auch, dass in Deutschland die Testkapazitäten deutlich erhöht worden sind und durch stärkeres Testen ein insgesamt größerer Teil der Infektionen sichtbar wird. Dieser strukturelle Effekt und der dadurch bedingte Anstieg der Meldezahlen, kann dazu führen, dass der aktuelle R-Wert das reale Geschehen etwas überschätzt."

Trotz der Anerkennung des Problems, wird die Erhöhung der Testanzahl aber nicht in die Modellierung des Verlaufs der Coronavirus-Ausbreitung miteinbezogen. Gegeben, dass der Effekt der Testanzahl aufgrund der extremen Zunahme der Anzahl der Tests aber relativ groß ist, sind die Nowcasting-Schätzungen vom RKI damit aber vermutlich wenig valide. Die Begründung der Autoren, warum sie die Testanzahl nicht miteinbeziehen, lautet folgendermaßen (Seite 15):

"Eine Adjustierung für die höheren Testraten ist nicht ohne weiteres möglich, da keine ausreichend differenzierten Testdaten vorliegen."

Das ist etwas überraschend, da bereits im täglichen Lagebericht des RKI vom 15. April eine Abbildung gezeigt wird, in der die Anzahl der Tests pro Tag und des Anteils der erhaltenen positiven Ergebnisse gezeigt wird (Abbildung 6), die nachfolgende Abbildung zeigt das sogar aufgelöst nach den einzelnen Bundesländern.

Damit würden womöglich durchaus Testdaten vorliegen, welche differenziert genug sind, um den Faktor der Testanzahlerhöhung in das Nowcasting-Modell miteinzubeziehen.