Die Überschätzung des tatsächlichen Anstiegs der Coronavirus-Neuinfektionen
Seite 3: Interessante Leserfragen
Im Folgenden sollen noch einige interessante Fragen von Leserinnen und Lesern diskutiert werden.
Der Grund für die Erhöhung der Testanzahl
Eine interessante Frage betrifft den Grund, warum eigentlich die Anzahl der Tests über die Zeit hinweg erhöht wurde. Aus einer theoretischen Perspektive heraus gibt es hier zwei Möglichkeiten:
Die erste Möglichkeit ist die, dass man den wahren Ausbreitungsgrad einer Krankheit nicht kennt, und deswegen zunehmend mehr Tests durchführt, um den wahren Ausbreitungsgrad zunehmend zuverlässiger messen zu können. Dieser Fall trifft auf die Coronavirus-Testungen zu. So heißt es beispielweise in einem Strategiepapier des Innenministeriums, dass man nach dem Motto "Wir testen, um die Lage zu bestätigen" getestet hat. Die zahlreichen Forderungen von Experten, dass die Testkapazität erhöht werden müsse, um möglichst viele Infizierte zu finden, weisen ebenfalls darauf hin. In diesem Fall würde die oben beschriebene Kontrolle der beobachteten Zahlen um die Testanzahl den wahren Verlauf der Neuinfektionen zuverlässig schätzen.
Die zweite Möglichkeit ist die, dass man deswegen zunehmend mehr Tests durchführt, weil zunehmend mehr Personen mit einer Krankheit einen Arzt aufsuchen und dieser deswegen immer mehr Tests auf diese Krankheit durchführt. In diesem Fall würde die oben beschriebene Kontrolle der beobachteten Zahlen um die Testanzahl den wahren Verlauf der Neuinfektionen nicht zuverlässig schätzen.
Folgt man den Aussagen im erwähnten Strategiepapier des Innenministeriums, so kann man zunächst festhalten, dass dieser Fall auf die Coronavirus-Testungen nicht zutrifft, weil hier einfach versucht wurde, die Testkapazitäten möglichst weit auszuweiten, um den wahren Ausbreitungsgrad des Coronavirus möglichst gut abzuschätzen. Aufgrund der hohen Dunkelziffer war die wahre Ausbreitung des Coronavirus nicht abzuschätzen, und die Anzahl der Tests wurde erhöht, mit dem Ziel, diese Dunkelziffer möglichst aufzudecken.
Man kann sich diesen Fall aber noch genauer anschauen, ob dieser rein theoretisch überhaupt zutreffen kann. Das kann deswegen nicht der Fall sein, weil die Testung auf das Coronavirus neben einer hohen Dunkelziffer noch eine weitere Besonderheit aufweist: Von den getesteten Personen erhält nur ein sehr geringer Anteil der getesteten Personen ein positives Testergebnis. So lag der Anteil erhaltener positiver Testergebnisse nur zwischen 3.1% (bis Kalenderwoche 10) und maximal 9.0% (Kalenderwoche 14). Das heißt: Von 100 Tests wurden nur zwischen anfänglich 3 und maximal 9 Tests auf die richtige Personengruppe der Personen mit Coronavirus-Infektion angewendet.
Das hat eine erste interessante Konsequenz: An den Testkriterien allein kann ein Arzt nicht festmachen, wer am Coronavirus erkrankt ist. In der Tat heißt es in den Richtlinien des RKI, dass Personen mit "akuten respiratorische Symptome jeder Schwere" getestet werden sollen. Es wird also nicht zwischen "Coronavirus-Symptomen" versus "Atemwegserkrankungs-Symptomen verursacht durch andere Krankheitserreger" differenziert. Es kann also nicht sein, dass ein Arzt deswegen mehr Tests durchführt, weil er mehr Coronavirus-Infektionen erkennt.
Die Tatsache, dass man es bei den Testungen auf das Coronavirus mit einer Situation zu tun hat, in der die zu testende Personengruppe hauptsächlich aus Personen besteht, deren Krankheitssymptome auf andere Krankheitserreger zurückgehen, hat noch eine zweite interessante Konsequenz: Da deren Zahl in den drei ersten drei Märzwochen relativ stabil war und seitdem abnimmt, kann die Erhöhung der Testanzahl auch nicht dadurch getrieben sein, dass die allgemeine Anzahl der Atemwegserkrankungen zugenommen hat.
Die vom Coronavirus ausgehende Gefahr
Die Kontrolle der berichteten Zahlen zu den Neuinfektionen um die Erhöhung der Testanzahl legt nahe, dass der tatsächliche Anstieg in den täglichen Neuinfektionen weitaus geringer ist, als die berichteten Zahlen den Anschein erwecken.
Dies bestätigen auch die Ergebnisse zum Nachweis des Coronavirus in der repräsentativen Stichprobe aus der Bevölkerung von Menschen mit Atemwegsinfektionen aus der Influenza-Überwachung, welche ebenfalls keinerlei Hinweise auf einen exponentiellen Anstieg der Coronavirus-Infektionen erkennen lassen. Da die Ausbreitungsgeschwindigkeit ein wichtiger Maßstab für die von einem Virus ausgehende Gefahr ist, ist die vom Coronavirus ausgehende Gefahr damit geringer einzuschätzen, als anfänglich vermutet.
Eine interessante Nachfrage von Leserinnen und Lesern betrifft den Aspekt, inwiefern bei der Bewertung der vom Coronavirus ausgehenden Gefahr auch noch einbezogen werden muss, dass es eine hohe Dunkelziffer an Personen gibt, welche zwar eine Infektion aufweisen, aber nicht getestet werden, weil entweder die Testanzahl zu gering ist, oder die infizierten Personen nur milde oder gar keine Symptome zeigen, was laut Studien relativ häufig der Fall ist. Für die Frage nach der Ausbreitungsgeschwindigkeit des Virus ist diese Frage nicht relevant, zumindest, wenn man annimmt, dass die Ausbreitung des Virus bei allen infizierten Personen vergleichbar abläuft.
Diese Frage ist allerdings hochrelevant für einen zweiten wichtigen Maßstab zur Bewertung der von einem Virus ausgehenden Gefahr: Der Sterblichkeitsrate. Die einfachste Berechnung der Sterblichkeitsrate besteht darin, die Anzahl der Todesfälle durch die Anzahl der infizierten Personen zu teilen. So gibt es laut aktuellem Stand in Deutschland 159.119 Infizierte und 6.288 Todesfälle (Stand 30.4.), so dass sich eine Sterblichkeitsrate von 3.95 Prozent ergibt.
Wenn es aber nun eine hohe Dunkelziffer an unentdeckten Infizierten gibt, ist die wahre Zahl an Infizierten in Wirklichkeit viel höher, und damit wäre die wahre Sterblichkeitsrate viel geringer. Um nun die wahre Dunkelziffer wirklich zu wissen, bräuchte es repräsentative Studien, in denen man nicht nur Personen mit Symptomen testet, sondern auch Personen mit nur milden oder gar ohne Symptome, da ja ein relativ großer Teil der vom Coronavirus infizierten Personen nur geringe oder keine Krankheitssymptome zeigt. Die ersten vorläufigen Ergebnisse aus solchen Studien weisen in der Tat darauf hin, dass die Sterblichkeitsrate in Wirklichkeit substantiell kleiner ist, als die berichteten Zahlen zu den Infektionen und Todesfällen es vermuten lassen.
Eine der aktuellsten Studien stammt von John Ioannidis, Gesundheitswissenschaftler an der Standford University und einer der bekanntesten Methodenexperten der medizinischer Forschung. Basierend auf einem Coronavirus-Antikörpertest an 3.300 Freiwilligen in Santa Clara (Kalifornien) kommt seine Forschergruppe zur Schätzung, dass zwischen 2,49 Prozent und 4,16 Prozent der Bevölkerung dort in Wirklichkeit infiziert waren - das ist um das 50- bis 85-fache der Zahl der dort laut den bisherigen Testungen dokumentierten Fälle. Sollten diese Zahlen stimmen, wäre die wahre Sterblichkeitsrate in Santa Clara um das 50- bis 85-fache kleiner als angesichts der bisher dokumentierten Infektionen vermutet.
Die wahre Sterberate läge dann nur noch zwischen 0,12 Prozent und 0,2 Prozent, was in etwa der Sterberate beim Grippevirus entsprechen würde. Interessanterweise stimmt dies relativ gut mit den Ergebnissen einer vergleichbaren Studie im Landkreis Heinsberg überein, welche von Prof. Hendrik Streeck vorab auf einer Pressekonferenz veröffentlich wurden. Dort wurde die Sterberate bezogen auf die Gesamtzahl der Infizierten auf ca. 0.37 Prozent geschätzt. Wichtig ist aber anzumerken, dass beide Studien noch nicht von Fachexperten begutachtet sind und es im Vorfeld kritische Anmerkungen gab, und dass offen ist, ob diese Ergebnisse auch für andere Regionen gelten.
Allerdings kommen vergleichbare Befunde aus Island, welches die Besonderheiten aufweist, dass es das Land mit dem höchsten Verhältnis der Anzahl der Tests in Relation zur Bevölkerungsanzahl ist, und dass routinemäßig Personen ohne Symptome getestet wurden. Dort liegt die Sterblichkeitsrate aktuell bei 0.57 Prozent. Und interessanterweise wurde das sogar von Christian Drosten von der Charité Anfang März noch so eingeschätzt. Auf einer Pressekonferenz schätzte er damals die Sterblichkeitsrate auf 0,3 bis 0,7 Prozent und ging sogar davon aus, dass diese mit der weiteren Verbreitung des Virus eher noch sinken würde.
Die Dunkelziffer bei den Todesfällen
Einschränkend könnte aber noch hinzukommen, dass es vermutlich auch bei den Todesfällen eine Dunkelziffer an zwar am Coronavirus verstorbenen aber diagnostisch nicht erfassten Fällen gibt. Angesichts der in manchen Ländern wie Italien, Spanien oder Großbritannien beobachteten Übersterblichkeit wurde das in einigen Artikeln auch so angenommen. Wäre dem so, würde die Sterblichkeitsrate bei Einbezug dieser Dunkelziffer steigen.
Allerdings gibt es auch Gründe zur Annahme, dass diese Interpretation womöglich nicht stichhaltig ist. Gegeben, dass in all diesen Ländern der Anteil an getesteten Personen, die eine positive Corona-Diagnose erhalten, relativ gering ist, geht womöglich ein Teil der Übersterblichkeit gar nicht auf das Coronavirus zurück. Um das empirisch prüfen zu können, bräuchte man allerdings zum einen die Anzahl der an den Verstorbenen durchgeführten Tests und die Anzahl erhaltener positiver Ergebnisse. Weiterhin müsste man die Sensitivität des Tests in den verschiedenen Ländern kennen. Zu beiden Aspekten sind aber keine Daten verfügbar.
Zudem wird oft nicht unterschieden, ob eine Person mit oder am Coronavirus verstorben ist. Sollte es Personen geben, die in Wirklichkeit gar nicht am Coronavirus verstorben sind, würde die Sterblichkeitsrate sogar noch weiter sinken. Dazu bräuchte man Obduktionen. Laut einem ZDF-Bericht legen hier erste Ergebnisse aus Hamburg nahe, dass von 65 als Corona-Todesfälle geführten Todesfällen 61 am und vier mit dem Coronavirus verstorben sind.
In Italien könnte dieses Problem sogar noch ausgeprägter sein. So betont Angelo Borrelli, Leiter Zivilschutz Italien, auf einer Pressekonferenz am 21.3. explizit: "dass wir alle Verstorbenen zählen, dass wir nicht unterscheiden zwischen Corona-Infizierten, die gestorben sind und denen, die wegen des Coronavirus gestorben sind".
Die Gefahr des Virus für Menschen mit versus ohne Vorerkrankungen
[Dieser Abschnitt wurde am 03.05. hinzugefügt]
In diesem Zusammenhang ist es wichtig, sich noch eine feinere Unterscheidung bei den Personen klarzumachen, die tatsächlich am Coronavirus verstorben sind. Eine Coronavirus-Infektion kann entweder unabhängig vom Vorhandensein anderer gleichzeitig vorliegender Erkrankungen ursächlich für das Versterben einer Person sein, oder aber im Zusammenspiel mit gleichzeitig vorliegenden Erkrankungen zum Versterben einer Person beitragen. Reinhard Dettmeyer, Präsident des Berufsverbandes Deutscher Rechtsmediziner, erklärt dies in einem Beitrag im Tagesspiegel folgendermaßen:
"Je nach Schweregrad der Vorerkrankungen gebe es aber auch Menschen, die beispielsweise an einem Herzinfarkt oder einem Schlaganfall bei einer SARS-CoV-2-Infektion sterben. Die Infektion werde dann als „auslösende Gelegenheitsursache“ bezeichnet. 'In beiden Fällen wäre der Mensch – häufig, wenn auch nicht immer – aber ohne die SARS-CoV-2-Infektion nicht zum gegebenen Zeitpunkt verstorben', so der Arzt des Universitätsklinikums Gießen. Insofern könne man auch sagen, dass er 'an' der Infektion gestorben sei. Dettmeyer weist jedoch auch darauf hin, dass im Einzelfall eine andere Erkrankung als die Infektion derart dominieren könne, dass der Infektion eine untergeordnete Bedeutung zukomme."
Laut den erwähnten Obduktionen in Hamburg ist es so nun, dass alle der obduzierten Corona-Todesfälle an erheblichen Vorerkrankungen wie beispielsweise Krebs, chronische Lungenerkrankungen oder Herz-Kreislauf-Erkrankungen litten. Selbst bei den Personen, bei denen zuvor keine Vorerkrankungen bekannt waren, stellte sich heraus, dass auch bei diesen Personen Vorerkrankungen vorhanden waren, dass diese davon bisher nur nichts wussten.
Klaus Püschel, der mit seinem Team die Obduktionen in Hamburg durchführt, sagte dazu in einem Interview im NDR :
"Die Fakten sind so, dass wir bei uns hier in Hamburg bisher über 100 Corona-Tote sorgfältig untersucht haben, die sind alle zwischen 50 und 99 Jahren, das Durchschnittsalter ist bei 80 Jahren und bisher haben alle mindestens eine aber in der Regel mehrere relevante Vorerkrankungen (…). Ich kann sagen, dass viele von denen die wir untersucht haben, tatsächlich in einem so moribunden Zustand waren, dass die Lebenserwartung eingeschränkt war. Damit will ich überhaupt nicht in Abrede stellen, dass wir auch bei denen natürlich uns medizinisch sehr viel Mühe geben, um ihre Krankheit zu behandeln und das Leben zu verlängern soweit das möglich ist."
Bei der Abschätzung der Gefahr des Coronavirus für individuelle Personen ist es also wichtig zu unterscheiden, ob eine betroffene Person Vorerkrankungen aufweist oder nicht. Für Personen ohne Vorerkrankungen scheint laut den Obduktionen in Hamburg die vom Coronavirus ausgehende Gefahr extrem gering zu sein.
Dies wird durch eine zur Publikation eingereichte, aber noch nicht begutachtete Studie von John Ioannidis, einem der weltweit bekanntesten Gesundheitswissenschaftler, bestätigt. Dort wird – anhand der Anzahl der Coronavirus-Todesfälle bis einschließlich des 4. Aprils – für verschiedene Länder das Risiko für eine Person berechnet, am Coronavirus zu versterben.
Für Deutschland ergibt sich für eine durchschnittliche Person unter 65 Jahren (hier sind die Menschen mit Vorerkrankungen eingeschlossen), dass für den Zeitraum bis zum 4. April das Risiko am Coronavirus zu versterben bei 1 : 1.700.000 lag. Das entspricht dem Risiko, das man auf sich nimmt, wenn man täglich 14,5 Kilometer mit dem Auto fährt.
Interessanterweise zeigt die Studie von Ioannidis auch, dass in Deutschland selbst für Personen über 80 Jahre das Risiko, am Coronavirus zu versterben, relativ gering ist. Für den Zeitraum bis zum 4. April lag das Risiko für eine durchschnittliche über 80-jährige Person (hier sind die Menschen mit Vorerkrankungen eingeschlossen) nur bei 1 : 6.000. Um dieses Risiko beurteilen zu können, muss man es noch in Relation dazu setzen, wie hoch das allgemeine Risiko für eine über 80-jährige Person an sich ist, zu versterben.
Laut einem Interview mit Sucharit Bhakdi, vielfach ausgezeichneter Wissenschaftler im Bereich der Mikrobiologie und Infektionsepidemiologie und Leiter des Instituts für Medizinische Mikrobiologie und Hygiene an der Johannes Gutenberg-Universität von 1991 bis 2012, liegt das allgemeine Risiko für eine über 80-jährige Person auf das ganze Jahr gerechnet bei 720 : 6.000.
Nimmt man noch hinzu, dass laut Sucharit Bhakdi in etwa 10% der Personen über 80 Jahre an Atemwegsinfektionen versterben, beträgt das Risiko einer über 80-jährigen Person an einer Atemwegsinfektion zu versterben 72 : 6.000. Verglichen damit erscheint die vom Coronavirus ausgehende Gefahr – angesichts der Tatsache, dass es aktuell kaum mehr Neuinfektionen gibt und die Coronavirus-Ausbreitung damit vorbei ist – sogar für Menschen über 80 Jahre relativ gering zu sein.
Eine Abschlussbemerkung
Mit diesem Artikel soll in keiner Weise die vom Coronavirus ausgehende Gefahr insbesondere für bestimmt Risikogruppen verharmlost werden. Auch das Leid betroffener Menschen soll in keiner Weise verharmlost werden. Hier muss es das höchste Ziel einer jeden Gesellschaft sein, diesen Menschen bestmöglich zu helfen.
Es geht hier ausschließlich darum, das von vielen angenommene Szenario einer epidemischen Ausbreitung des Coronavirus mit mehreren Millionen von Infizierten zu hinterfragen. Denn sollte dieses Szenario in Wirklichkeit gar nicht drohen, würden viele Menschen ohne wirklichen Grund so große Ängste erleben, und man würde ohne wirklichen Grund Maßnahmen ergreifen, deren dramatische negative Nebenwirkungen noch gar nicht abgeschätzt werden können.
Prof. Dr. Christof Kuhbandner, Fakultät für Humanwissenschaften, Universität Regensburg