Die Ukraine auf dem Weg in die Barbarei
Ein Augenzeugenbericht
Die Rufe, "der jungen Ukraine" zu helfen, werden immer lauter im Land. Realistische Einschätzungen der politischen Verhältnisse vor Ort sind dabei spärlich gesät und werden teilweise offenbar gezielt unterdrückt. Zur Frage einer realitätsnahen Einschätzung sprach Jens Wernicke daher mit Reinhard Lauterbach, Autor des soeben erschienenen Buches "Bürgerkrieg in der Ukraine", der sich vor Ort selbst ein Bild gemacht hat.
Herr Lauterbach, in Bezug auf die Situation in der Ukraine ist es schwer, sich selbst ein realistisches Bild der Lage zu verschaffen. Denn egal, was man hört und liest - für viele ist, egal, was geschrieben steht, alles schnell die "Propaganda" der einen oder anderen Seite. Sie waren in der Ukraine und haben hierüber ein Buch verfasst, das soeben erschienen ist. Wie ist die Situation vor Ort, was haben Sie erlebt?
Reinhard Lauterbach: Ich muss natürlich vorausschicken, dass das Buch Anfang Oktober Redaktionsschluss hatte und ich die letzten Aktualisierungen Ende Oktober vorgenommen habe. Seitdem bin ich nicht mehr in der Ukraine gewesen und insofern auch darauf angewiesen, das, was ich im Frühjahr und Sommer erlebt habe, anhand der im Netz verfügbaren Informationen fortzuschreiben.
Was ich aber erlebt habe, ist eine Gesellschaft, die sich extrem polarisiert hat. Es gilt nur noch "für uns oder gegen uns", und das auf beiden Seiten. Auf der ukrainischen Seite ist von "Wattejackenmenschen", "Separatisten" und "Terroristen" die Rede, die ostukrainischen Aufständischen revanchieren sich hierfür mit den Bezeichnungen "Ukry" bzw. "ukropy" - was eigentlich "Dillstengel" heißt und deshalb nicht ganz verständlich ist - oder "Liquidierungskommandos".
Wer sich als Politiker für eine Wiederannäherung der beiden Landesteile einsetzt, wird im besten Falle ausgelacht, in der Regel aber als feindlicher Agent diffamiert. Die Kiewer Politik hat als einziges Projekt gegenüber dem Donbass dessen Unterwerfung und, da dies militärisch vermutlich nicht zu erreichen sein wird, als Plan B dessen Hinausdrängen aus der Ukraine auf dem Programm.
Die Volksrepubliken scheinen sich noch nicht klar zu sein, was sie wirklich wollen, zumal dort im Moment heftige Flügelkämpfe im Gange sind, die auch mit Waffen und Anschlägen ausgetragen werden. Es gibt Stimmen - immer weniger - , die eine Rückkehr zu einem pragmatischen Nebeneinander mit Kiew fordern, und aber auch solche, die von einer Offensive in Richtung Kiew phantasieren. Die Bevölkerung will aber - das sagen laut US-Sender Radio Liberty auch ukrainische und westliche Quellen - nach den Bombardements des letzten Sommers nichts mehr davon wissen, unter ukrainischer Herrschaft zu leben. Ein kürzlich nach mehreren Monaten Gefangenschaft ausgetauschter ukrainischer Journalist berichtete mit allen Anzeichen des Erstaunens, dass sogar örtliche Kleinkriminelle, die von den ostukrainischen Milizen inhaftiert und - anders als er - auch stellenweise misshandelt worden seien, trotzdem zu den "Volksrepubliken" stünden und bereit seien, diese zu verteidigen.
Bezeichnend für die Stimmung auf ukrainischer Seite ist dabei vor allem, dass die immer wieder einmal aufkeimenden kleinen Friedenskundgebungen - wegen der Furcht vor Repressionen durch Polizei, Nationalgarde und "Rechten Sektor" meist nur als Flashmob für kurze Zeit praktiziert - unter der Parole stehen: "Stoppt den Bruderkrieg". Und dieser Appell an eine bürgerliche Gemeinschaft, die es vor dem Umsturz in der Ukraine noch gab, ist dabei heute bereits der Gipfel aller denkbaren Kritik.
Und wie ist es um die Intentionen und politischen Einstellungen der Kämpfenden auf beiden Seiten bestellt? Es gibt ja immer wieder Debatten darüber, ob die Behauptung, es kämpften zumindest auf ukrainischer Seite Faschisten mit, nun ein Propagandamärchen oder nicht doch eine Tatsachenbeschreibung sei… Wie verhält es sich hiermit?
Reinhard Lauterbach: Dass auf ukrainischer Seite Faschisten kämpfen, kann eigentlich nur von denen noch bestritten werden, denen es jetzt womöglich peinlich ist, wen sie durch ihre Unterstützung des Euromaidan an die Macht gebracht haben. Wenn ich aus solchen Kreisen dann höre und lese, das seien ja keine Faschisten dort im deutschen Sinne, sondern nur "Ethnonationalisten", als könnte man den deutschen Faschismus mit seinem Herumreiten auf dem Deutschtum nicht auch als Ethnonationalismus beschreiben, dann erfüllt das den Tatbestand der Irreführung. Es erinnert mich an jenen polnischen Staatsanwalt in Białystok, der 2013 Ermittlungen gegen namentlich bekannte Hakenkreuzschmierer mit dem Argument, es sei nicht nachweisbar, dass die Beschuldigten den Faschismus hätten verherrlichen wollen, einstellte; das Hakenkreuz sei in Asien immerhin ein Glückssymbol.
Die nationalistische Bewegung der Zwischenkriegszeit, auf die die ukrainischen Rechten sich heute berufen, lehnte sich ideologisch übrigens an den damaligen italienischen Faschismus an und übersetzte Schriften von Mussolini und Auszüge aus "Mein Kampf" ins Ukrainische. Wie die Historikerin Franziska Bruder in ihrer Dissertation "Den ukrainischen Staat erkämpfen oder sterben" über die Organisation Ukrainischer Nationalisten (OUN) geschrieben hat, bezeichneten sich diese Leute nur deshalb nicht ausdrücklich als Faschisten, weil sie auf den Anschein politischer Originalität Wert legten und sich nicht als ideologische Trabanten einer ausländischen Bewegung bloßstellen wollten. Schriften dieser OUN wie etwa der "Dekalog des ukrainischen Nationalisten" wurden nun auf dem Maidan massenhaft verkauft und unter die Leute gebracht; und Parolen hieraus wurden plakatiert.
Ich habe selbst im von der "Swoboda" besetzten Kiewer Rathaus das Banner des ukrainischen Wehrmachtsbataillons "Nachtigall" an der Balustrade des großen Saals aufgehängt gesehen und eine Masse antisemitischer Karikaturen im Treppenhaus mit Texten wie: "Wenn ihr Janukowitsch verjagt, werdet ihr die (bestimmte, betont jüdisch gezeichnete Politiker aus dessen Partei) auch gleich mit los".
Sicherlich sind nicht alle Ukrainer heute Faschisten; aber die ukrainischen Faschisten haben ein erhebliches Maß an politischer Hegemonie im Gramscischen Sinne gewonnen. Das Rückgrat der ukrainischen Streitkräfte bilden dabei die Freiwilligenbataillone vom Typ "Asow" und "Aidar", denen sogar die im allgemeinen prowestliche Organisation Amnesty International Menschenrechtsverletzungen an der Zivilbevölkerung vorwirft. Und beide Bataillone führen klassische faschistische Embleme als Abzeichen, eines eben die Wolfsangel. Andere Bataillone hingegen, die von der faschistischen Gruppe OUN aufgestellt wurden, tragen ganz offen und unmissverständlich das Symbol der von Nazideutschland aufgestellten SS-Division "Galizien", einen goldenen Löwen auf hellblauem Grund, auf ihren Uniformärmeln. Und Vertreter all dieser Bataillone sind nach den letzten Wahlen ins ukrainische Parlament gewählt worden, weshalb es irreführend ist, nun nur auf das in der Tat relativ schwache Abschneiden der "Swoboda"-Partei zu verweisen und mit diesem Argument die politische Hegemonie der Faschisten zu bestreiten.
Es droht in der Ukraine also eine reale "faschistische Gefahr"?
Reinhard Lauterbach: Allerdings. Die Situation ist dabei vor allem deshalb inzwischen so gefährlich geworden, weil der Faschismus in die anderen Parteien bereits hineindiffundiert ist und inzwischen überall seine Vertreter sitzen hat. Zwei Beispiele dazu: Die im Westen als "Antikorruptionskämpferin" gehandelte Tetjana Tschornowol, heute Abgeordnete der "Volksfront" von Ministerpräsident Jazenjuk, hat eine Vergangenheit als Funktionärin der faschistischen UNA/UNSO, von der sie sich vor etwa zehn Jahren getrennt hat, weil sie diese für zu kompromisslerisch hielt; und der Swoboda-Mann Oleh Machnitzki, der nach dem Februarputsch vorübergehend als Justizminister eingesetzt war, bevor er dieses Amt im Sommer wieder aufgab, sitzt inzwischen im Beraterstab von Präsident Poroschenko. Das ist deshalb so bedeutsam, weil Beraterstäbe durch den Chef berufen werden, sich Poroschenko also keineswegs damit hinausreden kann, diesen Mann durch irgendeinen Koalitionsproporz aufgedrückt bekommen zu haben.
Und auf der "anderen Seite" sieht es … anders aus?
Reinhard Lauterbach: Jein, ehrlicherweise muss man sagen, dass die politischen Auffassungen auch auf der Seite der Aufständischen im Donbass teilweise nicht besser wirklich sind.
Unter den zahlreich vertretenen Freiwilligen aus Russland finden sich dabei etwa Fans des Zarenregimes, Kosaken, die Putin als "ihren Zaren" bezeichnen und im übrigen ihre Autorität vor Ort durch öffentlich vollzogene Prügelstrafen an Straftätern zu stärken suchen, großrussische Nationalisten mit einer Vergangenheit in Rockerbanden oder als Fußball-Hooligans - und also keineswegs Leute, denen man ein Land gern anvertrauen mag.
Der eben schon mal erwähnte Bericht dieses zeitweise in Lugansk inhaftierten ukrainischen Journalisten weist allerdings darauf hin, dass sich die Basis der Volksmilizen aus Einheimischen, insbesondere Bergleuten, zusammensetzt. Der vor kurzem bei einem Anschlag umgekommene Kommandeur eines Bataillons in der Volksrepublik Lugansk, Alexander Bednow alias "Batman", ein ehemaliger Offizier der ukrainischen Spezialeinheiten, hat in einem Interview kurz vor seinem Tod darauf hingewiesen, dass hinter dem Aufstand auch die Energie einer sozialen Revolte stünde. Die Bergleute wehrten sich dabei nicht nur gegen das Oligarchenregime, das sie genauso ausbeutete wie die gesamte Ukraine, sondern auch gegen die neue Staatsmacht in Kiew, die auf sie auch in sozialer Hinsicht herabsah und sie sogar öffentlich als "asozialen Abschaum" bezeichnete.
Die Ukraine auf dem Weg in die Barbarei (14 Bilder)
Im inoffiziellen Hofsender des Euromaidan, dem von George Soros, den USA und den Niederlanden finanzierten "Bürgerfernsehen", hat im Frühjahr ein selbsternannter Experte unwidersprochen erklärt, von den Bewohnern des Donbass müssten mindestens 1,5 Millionen "verschwinden", weil sie unproduktiv und überflüssig seien. Und das ist nicht nur so dahergesagt; dahinter steht ein knallhartes Programm der Kahlschlagsanierung des ostukrainischen Bergbaus im Interesse der Haushaltskonsolidierung und der "Reformen", das die Regierung Jazenjuk im Herbst erst bestätigt hat. Danach sollen von 80 staatlichen Bergwerken 63 geschlossen werden. In diesem Zusammenhang ist es naheliegend, festzustellen, dass Kiew das Donbass erst zerstört und dann über den Ausschluss aus der ukrainischen Volkswirtschaft sowie das Einstellen der Lohn- und Rentenzahlungen gerade versucht, das Donbass als "Schwarzen Peter" Russland zuzuschieben, dem sowieso jede Hilfsaktion als getarnte Aggression angelastet wird.
Was weiß man denn über die humanitäre Situation im Donbass?
Reinhard Lauterbach: Sie ist, zurückhaltend gesagt, äußerst angespannt. Die Leute bekommen seit Monaten keine Löhne und Renten mehr, die Preise steigen, die russischen Hilfslieferungen werden offenbar zumindest teilweise unterschlagen und dann auf Märkten verkauft.
Das ist sowieso eine traurige Ironie mit der Hilfe für die Kriegsopfer. Natürlich nutzt Russland seine Hilfskonvois auch aus, um politisch Punkte zu machen - die Behauptung allerdings, es würden unter der Hand Waffen in den LKWs transportiert oder strategisch wichtige Industrieanlagen demontiert und auf dem Rückweg mitgenommen, ist unbewiesen, egal wie oft sie aus Kiew wiederholt wird.
Die ukrainische Haltung: Hilfskonvois nur, wenn wir die Grenze kontrollieren, heißt in der Praxis konkret: Nur, wenn ihr euch vorher unterwerft, kriegt ihr auch was zu essen, ansonsten verreckt ihr halt. Denn die Ukraine lässt humanitäre Hilfe aus dem Westen, etwa aus Deutschland, nicht in die Aufstandsgebiete durch. Wer also soll den Leuten denn sonst helfen als Russland, wenn es Kiew nicht tut und sich der Westen diesen Boykott durch die Ukraine einfach gefallen lässt und ihn damit anerkennt?
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