"Die Ukraine hat in den letzten Monaten auch immer wieder Erfolge erzielt"

Seite 2: Das Dilemma: Die Luftabwehr

Die Nato-Strategie zur Luftabwehr basiert aber hauptsächlich auf einer eigenen Luftüberlegenheit, das heißt, anders als in Russland, das auf bodengestützte Luftabwehrsysteme setzt, und die in diesem Bereich zu den stärksten der Welt gehören, ist das bei der Nato anders. Hätten wir denn überhaupt die verfügbaren Stückzahlen, um die Ukraine mit bodengestützten Luftabwehrsystem zu schützen?

Markus Reisner: Ja, das ist das Dilemma. Wir dürfen nicht vergessen, dass die russische Luftwaffe nach wie vor Einsätze fliegt, wir hören nur kaum etwas davon, weil wir das Narrativ haben, dass die Russen keine Einsätze fliegen würden, was so ja nicht stimmt.

An dem Punkt reden wir uns die Dinge schön. Russland fliegt allerdings in der Regel nicht in den ukrainischen Luftraum ein, sondern starten Drohnen oder Marschflugkörper aus dem eigenen Luftraum.

Bei der aktiven Komponente der Luftstreitkräfte, also bei Flugzeugen, sind die Nato-Streitkräfte ganz gut aufgestellt, allerdings bei der passiven Komponente, sprich bei der bodengestützen Fliegerabwehr, stehen die Dinge anders.

Wenn wir Russland jetzt vorwerfen, dass sie nicht in der Lage sind, ihre Grenzen zu schützen, dann muss man sagen, dass wir dieses Problem auch hätten, weil wir selber nicht die entsprechende Dichte von Fliegerabwehr aufbringen könnten, um einen lückenlosen Schutz darzustellen.

Wenn man das noch weiter denkt, im Hinblick auf die Drohneneinsätze, dann gilt für beide Seiten, dass die herkömmliche Fliegerabwehr auf große Radarquerschnitte kalibriert ist, Hubschrauber oder Kampfflugzeuge etwa, aber nicht auf diese kleinen Radarquerschnitte.

Dazu müssten sie das Radar runterkalibrieren, dann haben sie aber permanent Fehlermeldungen. Über diese großen Distanzen ist ein lückenloser Schutz im Moment nicht möglich.

Nochmal konkret: Wie viel Flugabwehrsysteme bräuchte die Ukraine und würde die gesamte Nato überhaupt die entsprechende Menge zur Verfügung haben?

Markus Reisner: Nun, das wird sich mit dem, was wir im Moment zur Verfügung haben, nicht ausgehen, wenn man den eigenen Schutz der Staaten nach wie vor gewährleisten möchte. Europa versucht zwar, mit Hochdruck Systeme zu produzieren, aber wir sind nicht in einer Kriegswirtschaft, sondern man produziert aus den bestehenden Fabriken mit einer erhöhten Arbeitsleistung das, was möglich ist. Aber auch nicht mehr.

Grob sprechen wir über folgende Zahlen: 2.000 Stück Manpads, also beispielsweise Stinger, das sind Systeme kurzer Reichweite, etwa 140 Starter mittlerer Reichweite, wie etwa das norwegisch/amerikanische NASAMS) und mehr als 100 Batterien an Systemen hoher Reichweite, wie zum Beispiel das US-Patriot-System.

Kriegswirtschaft?

Russland scheint auf Kriegswirtschaft umgestellt zu haben, Uralwagonzawod hat jetzt im Juni noch bekannt gegeben, dass sie jetzt alle zivilen Produkte komplett auslagern und sich als größte Panzerfabrik der Welt auf den Panzerbau konzentrieren. Was bedeutet das?

Markus Reisner: Da muss man sich die Zahlen genau ansehen. Die Russen produzieren zwischen 100 und 200 Panzer im Monat. Das erscheint auf den ersten Blick nicht viel, aber sie dürfen nicht vergessen, dass man dem auf der ukrainischen Seite etwas entgegensetzen muss – jeder dieser Panzer muss erst mal zerstört werden. Das gleiche natürlich bei den Kampfschützenpanzern und sofort.

Dann hat man natürlich noch große Mengen Material auf Halde, das die Russen versuchen, wieder instand zu setzen. Das hat natürlich nicht die Qualität eines Leopard-Panzers, aber es gelingt hier, Masse zu produzieren. Russland versucht, seine Wirtschaft langsam umzustellen, aber Russland ist offiziell noch nicht in der Kriegswirtschaft.

Dazu müsste Russland im Kriegszustand sein, so wie das auch viele russische Kommentatoren einfordern, endlich den verfassungsgemäßen Kriegszustand zu erklären. Man sieht aber, dass Putin nach wie vor versucht, den Druck auf die Bevölkerung so gering wie möglich zu halten, trotz der zwei großen Mobilisierungswellen, durch die jetzt rund 420.000 Russen in der Ukraine im Einsatz sind.

Das ist übrigens das Doppelte an Soldaten, die im Februar letzten Jahres in die Ukraine einmarschiert sind. Auch hier gilt, die Ukrainer müssen dem irgendetwas entgegenstellen. Dabei hören wir seit Monaten, dass die Moral der Russen am Boden ist, aber wir sehen das nicht in tatsächlichen, nachhaltigen Erfolgen. Es kommt zu keinem Dammbruch an der Front.

Morgen folgt Teil zwei des Gesprächs mit Markus Reisner. Darin geht es um die Aussichten der Gegenoffensive und Folgerungen für die Nato.

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