"Die Ukraine hat in den letzten Monaten auch immer wieder Erfolge erzielt"

Oberst des österreichischen Bundesheers, Markus Reisner. Foto: Privat.

Das Land muss sich auf einen langen Krieg einstellen. Die Konsequenzen daraus sind nicht absehbar. Interview mit dem österreichischen Oberst Markus Reisner, Teil 1.

Herr Reisner, was bräuchte denn die Ukraine, um militärisch erfolgreich zu sein, um Russland besiegen zu können, bzw. um die erklärten Kriegsziele zu erreichen, und das wäre die Wiederherstellung der Grenzen vor 2014?

Markus Reisner: Die Situation ist die, dass die Ukraine es geschafft hat in den letzten Monaten signifikant auch immer wieder Erfolge zu haben. Drei Beispiele: Die Wiederinbesitznahme des Raums Kiew, die Offensive bei Charkiw und der Erfolg der Offensive bei Cherson. Es waren hier vor allen Dingen die US-amerikanischen Waffenlieferungen, die diese Erfolge ermöglicht haben.

Die europäischen Waffenlieferungen haben ebenfalls eine große Bedeutung, aber es sind vorwiegend spezielle Waffensysteme der USA, die hier einen Unterschied machen. Nach 19 Monaten kann man jetzt sagen, dass, wenn immer der Konflikt sich von einer symmetrischen Situation zu einer asymmetrischen entwickelt, also zugunsten der Russen, dass die Ukraine dann wieder Systeme bekommt, um hier auszugleichen.

Aber mehr auch nicht. Das ist hier ganz entscheidend.

Ein paar Beispiele: Das erste Waffensystem, das eine echte Veränderung herbeigeführt hat, das war das System Himars. Von den USA wurden 20 Stück geliefert und 18 weitere zugesagt für die nächsten Jahre. Und diese 20 Stück haben zwar keinen entscheidenden Effekt ausgeübt, aber sie haben den Effekt erreicht, dass die Ukraine Luft bekommen hat, um sich für die dann erfolgreichen Offensiven vorzubereiten.

Durch den Einsatz der Himars war es so, dass die Russen ihre Logistik und Gefechtsstandorganisation neu strukturieren mussten, da sie plötzlich mit einer Waffe konfrontiert waren, die 70 Kilometer wirken konnte. Allerdings ist es so, dass die Ukraine 100 oder 150 Stück gefordert hat, sie haben aber nur 20 bekommen. Frage: Warum?

Zweites Beispiel: ATACMS. Das sind diese Boden-Boden-Raketen, die von Himars-Fahrzeugen verschossen werden können. Hier gibt es von Anfang an eine Diskussion, die bisher ohne Ergebnis verlaufen ist. Jetzt gerade, nachdem die Offensive nicht den gewünschten Erfolg gebracht hat, verstärkt sich die Diskussion, ob die Ukraine diese ATACMS jetzt erhalten wird, um ihr wieder Luft zu geben, über den Winter, um sich dadurch auf die nächste Offensive im Frühjahr vorzubereiten.

Markus Reisner ist ein von Medien viel gefragter Militärexperte. Er hat praktische Erfahrung: Reisner war fast ein Jahrzehnt bei österreichischen Spezialkräften (Jagdkommando) tätig. Im Rang eines Oberst des Bundesheers ist er Kommandant der Garde. Zugleich arbeitet er als Historiker und ist Vorstandsmitglied des Clausewitz Netzwerks für Strategische Studien.

Das dritte Beispiel ist die Diskussion um die F-16, die jetzt geliefert werden und möglicherweise im Frühjahr für die nächste Offensive zur Verfügung stehen. Hier muss gesagt werden, dass die F-16 für die jetzt noch laufenden Offensive einen Unterschied gemacht hätten, wenn sie am 4. Juni bereits verfügbar gewesen wären.

Ich frage mich auch, warum das russische GPS-Pendant GLONASS nicht gestört oder zerstört wird, Stichwort Satelliten. Dadurch kommt es immer wieder zu russischen Erfolgen, dass Raketen oder Drohnen, die auf GLONASS aufsetzen, ihre Ziele treffen. Auch hier die Frage: warum ist das so?

Das letzte Beispiel ist der erfolgreiche Abzug der Russen aus Cherson – das hätte man womöglich unterbinden können.

Wenn wir uns das anschauen, dann kann man die Bewertung treffen, dass Lieferungen passieren, aber moderiert. Warum?

Da muss man aus meiner Sicht nur in die US-amerikanischen Medien blicken: Man möchte einerseits nicht, dass Russland zerbricht, weil die Gefahr Sorge besteht, wer sich dann der Tausenden Atomwaffen bemächtigt, und das zweite ist, dass möglicherweise eine Situation entstehen könnte, in der eine kleine Entourage um den Präsidenten tief im Bunker unterm Kreml eine Entscheidung trifft, die dann alle bereuen, also den Einsatz von Atomwaffen.

Die Amerikaner nennen dies die "Boiling-the-frog"-Strategie, das heißt, man sagt den Russen, seht her, es bringt nichts, am besten ist, ihr hört einfach auf, denn wir werden den Ukrainern immer das geben, was sie brauchen, solange, bis ihr in die Knie geht. Und darum zieht sich der Konflikt auch länger hin und wir reden am Ende der jetzigen Offensive bereits über die nächste Offensive im nächsten Jahr.

Folglich wird dieser Krieg nicht so schnell zu Ende sein, denn beide Seiten haben immer noch genug Ressourcen, um den Krieg weiterzuführen. Die Ukraine bekommt genug, um den Krieg weiterzuführen, aber nicht genug, um eine Entscheidung herbeizuführen. Man könnte sagen: Zu wenig zum Leben und zu viel zum Sterben.

Die Ukraine braucht jetzt ein sicheres Hinterland

Was bräuchte die Ukraine denn ganz konkret, können sie das einmal beziffern?

Markus Reisner: Die Ukraine muss sich auf einen langen Krieg einstellen. Was bedeutet das? Dass die Ukraine eine funktionierende, industrielle Basis braucht, um diesen Krieg mit Ressourcen nähren zu können. Das Dilemma ist aber, dass die Russen am 10. Oktober vorigen Jahres mit einer strategischen Luftkampagne begonnen haben.

Diese versucht die kritische Infrastruktur zu treffen, und das ist im 21. Jahrhundert vor allem die Stromversorgung. Das hat dazu geführt, dass ca. 50 bis 60 Prozent der Stromversorgung zerstört bzw. schwer beschädigt ist.

Die Ukraine braucht jetzt ein sicheres Hinterland, das so geschützt ist, dass die Ukraine wieder in der Lage ist, industrielle Kapazitäten aufzubauen, wenn sie vermeiden möchte, dass sie immer in einer absoluten Abhängigkeit zu Europa und zu den USA steht.

Das ist ja momentan der Fall. Sie können zwar Kleinstdrohnen erzeugen im großen Stil, aber jetzt wirklich industrielle Kapazitäten zum Betreiben eines Panzerwerkes und all diese Dinge, das ist herausfordernd.

Konkret heißt das, dass die Ukraine vor allem Fliegerabwehr braucht, um diesen Raum schützen zu können, der riesig ist. Sie haben ja jetzt schon mit den bereits gelieferten Systemen aus dem Westen das Dilemma, dass diese Systeme nicht ausreichen, um zwei Kernaufgaben gleichzeitig zu erfüllen, nämlich der Schutz der Kräfte an der Front vor Bedrohungen wie der Lancet-Drohne und der Schutz der Tiefe, also der Städte, aber auch so wichtiger Einrichtungen wie Flugplätze.

Und das, was bisher an Luftabwehr geliefert wurde, ist zu wenig, wenn sie sehen, dass das Niveau der russischen Produktion von Marschflugkörpern nicht nur das Vorkriegsniveau erreicht hat, sondern es sogar bereits übersteigt.

Oder wenn sie sehen, dass die Russen eine Drohnenfabrik in Betrieb nehmen wollen, die 6.000 Drohnen iranischer Provenienz herstellen kann, was natürlich heißt, dass all diese Drohnen erst mal abgeschossen werden müssen, denn wenn sie treffen, dann hat das natürlich einen Impakt.

Über wie viel Luftabwehrsysteme würden wir denn sprechen, könnten Sie den Bedarf quantifizieren?

Markus Reisner: Das ist natürlich schwierig, denn dazu müssten sie eine Prioritätenliste erstellen. Was möchte man schützen? Zum Beispiel die Städte, die Bevölkerung, die Industrie? Daraus ergeben sich dann Quantitäten. Fakt ist, dass das, was jetzt da ist, noch nicht ausreicht, um nachhaltig diesen Schutz zu bieten.

Es ist zwar so, dass die ukrainische Fliegerabwehr eine sehr hohe Abschussrate vorweisen kann, aber es reicht ja, wenn von 10 Drohnen eine trifft, wenn diese Drohnen dann Beispielsweise einen 750 kVA Transformer trifft, dann ist der zerstört, den bekommen sie nicht irgendwo beim Baumarkt, der muss zwei Jahre produziert werden, und kann erst im dritten Jahr geliefert werden.

Es gibt ja genug dokumentierte Fälle, wo man sieht, dass die Russen ja eben doch ihre Ziele im Wesentlichen treffen.

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