Die Vereinzelung in der Gesellschaft als erzwungene Idiotie

Die drei Fratellinis mit einem Weißclown in der Mitte und zwei dummen Augusts. Bild: Bundesarchiv, Bild 102-00421A / CC-BY-SA 3.0

Zoran Terzic über Idiotentum und aktuelle Phänomene in der Politik, im Management und in der Corona-Krise

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Zoran Terzic hat mit seinem Buch "Idiocracy. Denken und Handeln im Zeitalter des Idioten" eine Kulturgeschichte der Idiotie verfasst, die mittels philosophischer und kultureller Referenzen von der Antike über Rousseau bis Donald Trump führt. Telepolis sprach mit dem Verfasser des "Standardwerks zum Idiotischen in unserer Kultur" (taz).

Was hat sie überhaupt auf dieses Thema gebracht?

Zoran Terzic: Nichts Konkretes, sondern eine grundsätzliche Stimmung. Das Thema schien mir naheliegend zu sein und ich dachte auch, es sei einfach. (lacht) Erst später habe ich herausgefunden, dass sich viele große Köpfe an dem Thema die Zähne ausgebissen haben.

Mir geht es nicht um den Gegenstand des Schimpfworts und auch nicht um Kranke, die in einer Anstalt sind. Sondern es geht um den, der ausschließlich seine eigenen Symptome pflegt, der sich selbst darstellt. Es geht um die Abwesenheit von Gedanken und die Abwesenheit von Erklärungen im Zuge einer Erklärung.

Ihr Buch funktioniert auch als Lexikon der Idiotie. Obwohl es flüssig geschrieben ist und einen stringenten Argumentationsgang hat. Schon in der Einleitung kommen seriöse Menschen wie Lavater, Georg Büchner und antike Autoren zu Wort, die das Motiv des Idioten beschreiben... Wir haben vielleicht in der Schule gelernt, dass "Idiot" ein Begriff ist, der aus der griechischen Antike stammt. Idiot beschreibt den Privatmann im politischen Sinne.

Zoran Terzic: Der Begriff meint unterschiedliche Dinge: Es gibt den Alltagsbegriff zur schnellen Disqualifikation. Wer einen anderen "Idioten" nennt, will nichts von ihm wissen und will nicht mit ihm sprechen. In der Antike meint er Menschen, die Privatiers sind und darauf verzichten, in der Agora teilzunehmen.

Die "Idiota" waren die Leute, die weiterhin ihren Geschäften nachgingen, auch wenn der Staat angegriffen war. Idiotie war das Merkmal dessen, der nach eigenem Gutdünken handelt, und derer, die unfähig sind, eine Gemeinschaft zu bilden. Menschen, die sich selbst ganz und gar im Recht sehen und nicht in der Lage sind, die Perspektive anderer einzunehmen.

Im Mittelalter war der Idiot dann der, der nicht studiert war. Man fragte sich: Wie kann ein simpler Holzlöffelschnitzer Sachen sagen, die intuitiv klüger sind als das, was die Gelehrten sagen? So etwas findet sich etwa bei Nikolaus von Kues.

Trickster

Was unterscheidet die Figur des Idioten von der des Narren, des Hofnarren, des Til Eulenspiegel von Clowns oder Spaßmachern, die wir ja spätestens in der Commedia dell'arte als Figuren in den verschiedenen Varianten kennen?

Zoran Terzic: In all diesen kulturell gewachsenen Figuren, Schelmen, diesen Trickstern, verbirgt sich Idiotisches, auch wenn man diese Akteure vielleicht nicht als Idioten bezeichnen würde.

Man kann das gut festmachen am Zusammenspiel vom sogenannten "Dummen August" und dem "Weißen Clown". Der weiße Clown gibt immer vergleichsweise smarte Anweisungen. Der August entlarvt diese Anweisung als dummköpfig. Er hat in dem Zusammenspiel die Funktion eines Idioten - der aber unterschwellig eine Wahrheit zutage bringt, die er körperlich oder intuitiv zur Schau stellt.

Der Filmregisseur Fellini hat diese zwei Figuren auf die Weltgeschichte übertragen und hat behauptet, dass sich Geschichte immer wieder in Form von diesen zwei Figuren und ihrem Zusammenspiel ereignet. Für ihn war Hitler der weiße Clown und Mussolini der dumme August. Man sieht wie viele Anknüpfungspunkte es gibt. Die Figur des weißen Clowns sehe ich überall da, wo kalte Rationalität herrscht.

Das Idiotische ist ein Wirkprinzip. Der Idiot ist immer derjenige, der unterschwellig gegen das Normative wirkt. Das kann eine positiv oder eine negativ besetzte Figur sein. Es ist gefährlich, hier allzu schnell normativ zu denken.

Die Gegen-Figur des Idioten in der Antike ist der Strategos. Der, der Schritte vorausberechnet, der sein Gegenüber gut einschätzen kann, und danach handelt. Dem liegt eine bestimmte Vorstellung der Rationalität zugrunde. Der Idiot ist in dem Fall eine Figur, der das strategische Geschick fehlt, und der nicht marktkonform handelt, also nicht vorhersieht, was der Kunde XY dann und dann interessant findet.

Sondern der etwas in die Welt wirft, das unter Umständen sogar den Marktgesetzen widerspricht. Also überall, wo Strategien herrschen und der Gedanke des kühl denkenden weißen Clowns vorherrscht, dort taucht zwangsläufig der Usurpator und Saboteur auf, der je nach Positionierung als positive Destruktion eingeschätzt werden kann oder als negative.

Im Film sind Figuren aus Ihrem Buch wie etwa Forrest Gump und Pippi Langstrumpf positiv konnotierte Idioten, aber wir haben natürlich auch einen amtierenden US-Präsidenten, der auch in Ihrem Buch vorkommt und vielleicht weniger positiv konnotiert ist. Nehmen wir mal dieses Figuren-Dreieck: Wie würden Sie diese drei verschiedenen Idiotie-Typen voneinander unterscheiden? Was haben sie gemeinsam?

Zoran Terzic: Das ist ein schönes Triumvirat. Man stelle sich mal eine Regierung dieser drei vor. [Lacht] Man könnte sagen, dass Donald Trump eine dunkle Synthese der beiden anderen ist. Wie Forrest Gump gefällt er sich darin, keine Ahnung von Geschichte zu haben und diese Ahnungslosigkeit auch zur Schau zu tragen. Zugleich versetzt er sich selbst immer wieder aufs Neue in bestimmte Kulissen der amerikanischen Geschichte.

Die Pippisierung der Welt hatte in den 1960er Jahren einen sozial revolutionären Anstrich: ein rebellisches anarchistisches Mädchen, das mit dem queeren Äffchen alleine in einer kunterbunten Villa lebt, das hat auf den ersten Blick nicht Idiotisches und Trumpisches.

Trump ist ein sehr guter Onstage-Performer. ein guter Stand-up-Comedian. Wenn man Trump nicht als Politiker, sondern als Komiker wahrnimmt, muss man zugeben: Trump hat große Fähigkeiten zur Improvisation und Bühnen-Potential. Das meine ich nicht zynisch. Er ist in der Lage, unmittelbar auf seine Umgebung zu reagieren - das ist auch ein seltenes Talent.

Die Globalisierungskritikerin Naomi Klein hat gesagt: "Donald Trump ist ein Idiot, aber unterschätzen Sie nicht wie gut er darin ist." Das meint genau diese mediale Performance-Qualität. Die Empfehlung, Desinfektionsmittel gegen Corona zu trinken, wäre im Slapstick-Film ein guter Gag.

Selbst in der ausgefeiltesten Strategie steckt der Wurm drin

Um mal Hitler außen vor zu lassen, aber inwieweit können eigentlich Verbrecher im klassischen Sinn, zum Beispiel Serienmörder oder bestimmte Personen in der Mafia, als Idioten begriffen werden?

Zoran Terzic: Im Grunde hat jede das Zeug zum Idioten, vor allem Männer. Wenn wir das Idiotische in der Gegenwart suchen, dann muss unser Blick auf die Finanzbranche fallen. Die Mafia ist irgendwie out.

Es gibt eine Dialektik der Inkompetenz: Selbst in der ausgefeiltesten Strategie steckt der Wurm drin. Darin steckt etwas, dass ich als idiotisches Moment bezeichnen würde. An dem offenbart sich das Idiotische dann in einer Art von Selbst-Sabotage. Das moderne Wirtschaften ist im Grunde ein sehr gutes Beispiel dafür. Darin geht es vermeintlich nur um Strategie und man glaubt, es gibt viel Weisheit, viel Theorie. Wir sprechen von Wirtschaftsweisen, die zukünftige Entwicklungen glauben vorhersagen zu können, aber unter allem liegt etwas grundsätzlich Idiotisches, Ignorantes, Laienhaftes.

Ich würde immer wieder auf den Gegensatz zwischen Strategos und Idioten zurückgehen: Überall wo etwas ausgehebelt wird, wo etwas erscheint, dem kein Gedanke zugrundeliegt und das von einer fundamentalen Laien-Position aus geschieht, darin steckt das Idiotische.

Die Ökonomie ist in sich ineffizient, ein Sand im Getriebe, der sozusagen mit dem Getriebe mitkommt - diesen Gedanken sollten wir nicht vergessen.

Ist Idiotie effizient? Oder ist gerade die Ineffizienz das Wesen der Idiotie?

Zoran Terzic: Effizienz und Kompetenz hängen in der modernen Berufsgesellschaft zusammen. Es gibt aber immer wieder Beispiele für offensichtlich inkompetente Mitarbeiter, die trotzdem auf ihrem Posten bleiben oder sogar in der Hierarchie aufsteigen - aus verschiedensten Gründen: Nepotismus, Beziehungen, etc.

Trotz ihrer Inkompetenz erfüllen sie in diesem Unternehmensverbund eine bestimmte Funktion. Es ist oft nicht auf den ersten Blick ersichtlich, wie diese merkwürdige Kompetenz der Inkompetenz eigentlich wirkt. Oft dienen diese Idioten als eine Art Ableiter von Frust. Man kann sich sehr schnell auf diese Personen einigen: Sie sind die Oberfläche der Kritik, eine Art neurotischer Schwamm, der Spannungen aufsaugt.

Das hat in Unternehmen eine ähnliche Qualität wie der Hofnarr bei Hofe: Das sind archaische Funktionen, die sich in modernen Gesellschaften transformieren, aber nicht verschwinden. Die Idioten sitzen dann nicht mehr neben dem Thron, sondern sie sitzen im Aufsichtsrat.

Grundprinzip in der Idiokratie: Die Abwälzung auf den Einzelnen

Kommen wir mal auf die Zeiten von Corona. Du hattest vorhin gesagt, dass in der griechischen Antike jene als Idioten galten, die sich nicht am Politischen beteiligen, auch wenn der Feind vor den Toren steht. Idioten waren die, die zu Hause bleiben.

Wenn du jetzt auf Corona und die Folgen blickst: Wo sind da die Idioten? Sind es wieder die, die zu Hause bleiben? Manche Corona-Party-Feierer sind vermutlich genauso Idioten, wie jene, die zu Hause bleiben und diesen Zustand dann verklären. Hat Idiotie auch etwas mit dem Verhältnis zur Gefahr zu tun, mit Risikobereitschaft, oder umgekehrt mit dem Vermeiden aller Risiken?

Zoran Terzic: Die Gegenwart zeigt eine Paradoxie, weil sich die Gesellschaft nur dadurch erhalten kann, dass jeder zu Hause bleibt. Das dreht das Prinzip der Antike um.

Für mich drückt sich darin sinnbildlich etwas aus, das schon längst vor Corona da war. Nämlich das, was Soziologen als die Singularisierung der Gesellschaft beschreiben, als die "Gesellschaft der Singularitäten", also die Rückführung des Gesellschaftlichen auf das einzelne Individuum. Die Privatisierung sozialer Probleme auf die Psyche des Einzelnen. Die Depression ist zur Modediagnose geworden. Da wird deren gesellschaftlicher Ursprung immer wieder durch die Probleme des Einzelnen verdeckt. Wir erleben solche Abwälzung von allem auf den Einzelnen. Dies ist das Grundprinzip in der Idiokratie, der Herrschaft des Idiotischen.

Das Coronavirus ist eine Art Stichwortgeber der modernen Paradoxie, die ironischerweise die Gesellschaft auf den zurückgezogenen Einzelnen projiziert und damit ihr eigenes Prinzip illustriert - indem jeder zu Hause bleiben muss. Wenn man die Maßnahmen noch weiterdenkt und radikalisiert, dann haben wir die totale Abschottung als idealtypischen gesellschaftlichen Zustand.

Die erzwungene und vielleicht auch gut begründete Vereinzelung der Gesellschaft, in der viele Leute zu Hause bleiben müssen, bestenfalls als Paar oder Klein-Familie, aber viele auch als Single über Monate allein zu Hause, verbunden mit einem Kontaktverbot, verbunden mit der Schließung der Lokale - das alles kann man beschreiben als eine erzwungene Idiotie.

Braucht eine Gesellschaft nicht eine bestimmte Risikobereitschaft, sowie soziale Kontakte auch in normalen Verhältnissen schon risikobehaftet sind?

Zoran Terzic: Mich interessiert da der Status der Ungewissheit. Es ist mir zumindest aufgefallen, dass in den letzten zwei Monaten viele, die im Grunde in einem gesicherten Arbeitsverhältnis steckten, plötzlich eine Ungewissheit verspürt haben, die Leuten die in der Kulturproduktion tätig sind, schon immer klar war, und für sie nichts Neues ist.

Ich glaube nicht, dass das Leben zu Hause völlig risikolos und sicher ist, denn man muss ja trotzdem den Schritt vor die Tür machen. Es treten nur andere Sachen zu Tage, die so eine Art merkwürdige Aktualität bekommen, wie zum Beispiel das Miteinander-umgehen - als ob das vorher etwas gewesen ist, das sicher war.

Als ob man sich nicht schon vorher überlegen musste, wie man mit anderen umgeht. Jetzt wird es plötzlich zu einer Bürgerpflicht, dass man solidarisch ist. Wäre es vorher absolut unmöglich gewesen solidarisch zu sein? Oder warum muss man das jetzt verordnen, warum ist es jetzt an der Tagesordnung und wird zum Thema. Das ist merkwürdig, als ob das vorher kein Gebot gewesen wäre.

Gebote der Obrigkeit zeigen gerade, dass offenbar nicht alle solidarisch sind. Deswegen braucht man es jetzt...

Zoran Terzic: Das liegt wieder an der erwähnten Vereinzelung. Jeder ist durch Arbeitsverhältnisse in bestimmte Nischen und Spezialgebiete gezwungen, die wiederum einzelne Horizonte erfordern, die nicht kompatibel sind mit Menschen, die in anderen Feldern arbeiten. Diese von Soziologen beschriebene Vereinzelung gab es schon vorher.

Brauchen wir Idioten? Und wenn ja: wozu?

Zoran Terzic: Je nachdem, wen man fragt. Bei dem Wirtschaftstheoretiker Schumpeter gibt es das Motiv der "schöpferischen Zerstörung". Davon führt eine direkte Linie zu der Idee der "Disruption", die in modernen Managementtheorien Bedeutung hat und die für die Wahrnehmung oder das Verständnis von Donald Trump wichtig ist.

Trump ist so eine Art verkörperte Dauerkrise - es gibt keine Ruhe, aber auch keine Langeweile. Alles was er von sich gibt scheint interessant.

Er hat die Politik völlig ins Gegenteil verkehrt. Er kann sich im Stil eines Wutbürgers über die Regierung, die er selbst führt, beschweren. Er ist der "Disruptor in Chief".

Zoran Terzic wurde in Banja Luka geboren, studierte Soziologie, Jazz Piano und Kommunikations-Design in Nürnberg und Wuppertal, Bildende Kunst in New York. 2006 promovierte er mit einer literaturwissenschaftlichen Arbeit. Seit 2001 lebt er als Autor, Musiker und Kurator in Berlin.