Die Vermessung der Geschlechterwelt
Seite 3: Mick Jagger ist nicht mehr das, was er mal war
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Da Emotionalität als solche nicht validiert werden kann, macht Kinsey den Orgasmus zum Dreh- und Angelpunkt. Dieser ist messbar nach Häufigkeit, Dauer, Frequenz und Intensität. Kinseys Resümee hinsichtlich beider Geschlechter ist einfach: Bei den sexuellen Reaktionen von Mann und Frau gibt es keine Unterschiede, die physiologisch begründet wären. Und: "Wir kommen also zu dem Schluss, dass die anatomischen Strukturen, die für den Orgasmus von wesentlicher Bedeutung sind, bei Mann und Frau fast identisch sind." Oder ganz konkret und en détail: Penis und Klitoris sind sensorisch gleichartig konditioniert.
Hier findet eine theoretische Vereinigung schon vor der praktischen Vereinigung statt. Kinseys Begründung ist bereits angedeutet. Sobald er den Behaviorismus mit seinem zoologischen Schema zusammengebracht hat, kann er die menschliche Physiologie, Anatomie und auch die Sensorik phylogenetisch von unseren tierischen Vorfahren herleiten. Da gibt es Gemeinsamkeiten zu entdecken, eine Entdeckung, die Kinsey auch auf Frau und Mann bezieht. Sie sind gleichartig. Homolog nennt er es. Oder auf einen anderen Nenner gebracht: Die Anlagen beider Geschlechter sind in jedem Menschen vorhanden. Das bietet Diskussionsstoff bis heute.
Kinsey weiß selbst, dass seine Schlussfolgerung der Empirie nicht standhält. Die Erkenntnis, dass es gelegentlich einiger Übung bedarf, um den Orgasmus der Frau und des Mannes zu harmonisieren, ist älter als die Sexualwissenschaft des 20. Jahrhunderts. Er schreibt nun selbst: Die Reaktionen sind bei zwei Menschen nie gleich. William Masters und Virginia Johnson, die in die Fußstapfen von Kinsey traten, verallgemeinern: "Bei der Frau dauert der Orgasmus meist eine längere Zeit." Das revidieren sie gleich wieder dahin, dass die Frau wiederkehrende Orgasmuserlebnisse aneinanderreihen kann. Für den Mann kann es geraten erscheinen, seinen Orgasmus hinauszuzögern.
An der Differenz entzündete sich eine ganze Spekulationsblase, die auch von Kinsey angeheizt wird: Die Männer "kommen" früher, weil ihr Sehsinn bereits aus der Ferne stimuliert wird, weil ihre Phantasie stärker angeregt wird. Die Frauen werden dagegen durch taktile Reize erregt. Nancy Friday bestreitet dies. Masters und Johnson berichten, wie Phantasievorstellungen auch Frauen erfassen können:
Eine junge Frau entwickelte starke Phantasievorstellungen von Sexualverkehr mit Mick Jagger. Nachdem sie als ein Groupie im Gefolge unterschiedlicher Musicbands regelmäßig Sexualverkehr hatte, kehrte sie beim Sexualakt selbst immer wieder zu den Bildvorstellungen mit Mick aus ihrer Kindheit zurück. Im Verlauf der Pilgerfahrten als Groupie traf sie dann schließlich den echten Mick Jagger. Und als sie endlich-endlich mit ihm im Bett war, stellte sie fest, dass sie noch immer auf den Mick Jagger ihrer Phantasievorstellung zurückgreifen musste, weil die Realperson, alles in allem, im Bett keineswegs dermaßen fabelhaft war, wie sie sich das so lange Zeit hindurch ausgemalt hatte.
Die Diskussion über Differenzen von Mann und Frau im Stimulus/Response-System bezieht sich auch auf einzelne Organe und Partien und gerät schnell in einen Circulus vitiosus, so auch über den vaginalen und den klitoralen Orgasmus. Anders als Sigmund Freud, der sich auf die Analyse von Einzelfällen und deren tiefsitzende traumatische Erlebnisse beschränkte, sucht die Sexualforschung alle Begründungen auf einer Ebene zusammenzuführen. Die hormonelle Steuerung und neuronale Vorgänge werden noch obendrauf gesetzt. Ganz zu schweigen von sozialen Bedingungen. Was soll nun Ursache, was Wirkung sein?
Im neuen "Kinsey Institut Report" von 1990 heißt es zu Erektionsproblemen: Nachdem physische Ursachen wie hormonelle oder neurologische Fehlfunktionen, ungeeignete Arzneimitteleinnahme, Diabetes oder Erkrankungen der Niere, Blase oder Harnleiter ausgeschlossen sind, wird man zunächst auf Stress und Müdigkeit schließen. - Diese Zuspitzung auf eine psychosoziale Ätiologie hatte jedoch niemand anderes als bereits Kinsey erkannt: "Das Vorhandensein oder Fehlen von Schuldgefühlen ist für viele Menschen der wichtigste Faktor bei der Determinierung des Befriedigungsgrades, der aus einer sexuellen Befriedigung resultiert." Das würde auch Freud unterschreiben.
Das ist der Zwiespalt Kinseys. Durch Quantifizieren und Messen des Orgasmus, durch die Mechanisierung der Sexualität, hat er Leistungsdruck und entsprechende Versagensangst aufgebaut. Durch nüchterne Offenlegung aller Sexualpraktiken eines Bevölkerungsquerschnitts hat er andererseits den Menschen geholfen, die Angst und das Schuldgefühl abzubauen, etwas Schädliches und Verbotenes zu tun. Sie waren auf einmal von vielen Delikten befreit. Sie waren nicht mehr befleckt, sondern wussten: Ob Onanie, ob außerehelicher oder gleichgeschlechtlicher Geschlechtsverkehr: Es ist normal und wird mit den vielen geteilt.
Demnächst Teil 2: Das lustlose Ende der sexuellen Revolution