Die Versammlungsfreiheit in der Postdemokratie
Vereine, Verbände und Gewerkschaften sehen sich durch die neuen Versammlungsgesetze bedroht
In einer Kneipe sitzen einige Gäste zusammen und führen politische Gespräche. Andere gesellen sich hinzu und reden mit. Die Diskussion wird lauter, die Fäuste werden geballt und auf den Stammtisch geknallt, dass die Bierkrüge hüpfen. Da betritt ein Trupp Polizisten den Raum, verhaftet die Gäste und löst die Versammlung auf.
Was wie eine Szene aus deutscher Vergangenheit klingt, könnte nach dem Willen der baden-württembergischen Landesregierung eine der Zukunft werden. Die plant ein neues Versammlungsgesetz, das so restriktiv ausgelegt werden kann, dass Vereine, Verbände und Gewerkschaften sich bedroht sehen.
Die neugeborenen Versammlungsgesetze sind Kinder der Föderalismusreform. Die Ministerpräsidenten ließen sich ihre Zustimmungsrechte im Bundesrat teuer abkaufen. Unter anderem erhielten die Länder die Kompetenz, eigene Versammlungsgesetze zu beschließen. Bayern hat bereits ein neues Versammlungsgesetz beschlossen; andere Bundesländer planen welche. Zwar will die FDP als neuer Koalitionspartner der CSU das bayrische Gesetz etwas mildern. Dies hindert die baden-württembergische Landesregierung jedoch nicht daran, sich weiterhin an der bayrischen Vorlage zu orientieren.
Über die naheliegendsten Nachteile muss man nicht lange nachdenken: Die länderübergreifend eingesetzte Polizei steht vor der Herausforderung, ihren Einsatzkräften die jeweiligen Landesgesetze beizubringen, was entsprechenden Protest der Gewerkschaft der Polizei hervorruft, und Demonstrationszüge über die Ländergrenze hinweg werden erschwert. Doch dabei bleibt der baden-württembergische Entwurf nicht. Das Problem sind weniger die Paragrafen selbst als ihre bisher unklare Auslegung. Die weit gefassten Formulierungen in den bisherigen Entwürfen ermöglichen den Behörden den Missbrauch durch eine restriktive Auslegung. „Unsere Kritik richtet sich nicht nur gegen das Geschriebene, sondern auch gegen das, was man daraus machen könnte“, meint dazu Fabian Reidinger von Mehr Demokratie.
Beispielsweise muss der Veranstalter jeden seiner Ordner bei der zuständigen Polizeibehörde anmelden. Sollte sie die Ordner für ungeeignet betrachten, kann sie deren Einsatz ablehnen. Diese Regelung richtet sich angeblich nur gegen gewaltbereite oder gewalttätige Ordner; dies steht aber nicht im Gesetz, sondern lediglich in der Begründung. Zudem kann die Meldepflicht unbescholtene Bürger davon abschrecken, sich als ehrenamtliche Ordner zur Verfügung zu stellen.
Aber nicht nur die Ordner, auch der Versammlungsleiter selbst kann von der Behörde als ungeeignet abgelehnt werden. Dies gilt auch für Versammlungen in geschlossenen Räumen. Ein Verein, Verband oder eine Gewerkschaft kann nicht mehr uneingeschränkt selbst darüber bestimmen, von wem ihre Versammlungen geleitet werden – nach ihrer Ansicht ein klarer Verstoß gegen das Prinzip der Vereinigungsfreiheit und somit verfassungswidrig.
Dem Veranstalter werden weitere Pflichten auferlegt, die größtenteils nur dürftig definiert und schwer nachvollziehbar sind. Sollten die Behörde aber mit der Mitwirkung des Veranstalters nicht zufrieden sein, kann ihr dies als Vorwand dienen, eine Demonstration nicht zuzulassen. Widerspruch und Klage gegen diese Entscheidung hätten keine aufschiebende Wirkung. Die Behörde hingegen ist noch nicht einmal dazu verpflichtet, ihre Entscheidung in einer bestimmten Frist zu fällen, damit noch rechtzeitig Widerspruch und Klage eingelegt werden können. Damit steht jede Versammlung bis zuletzt auf der Kippe und kann sogar verschleppt werden.
Besonders problematisch ist das Uniformierungs- und Militanzverbot
Unter das Verbot fallen nämlich auch Uniformen „gleichartige Kleidungsstücke“. Ein Kommentar zum Versammlungsgesetz des Bundes zählt dazu auch Krawatten, Roben, Sportbekleidung und Schutzhelme – also auch Streikende in Arbeitskleidung. Das grundgesetzlich garantierte Streikrecht könnte so ausgehebelt werden. Dagegen hilft die Beschränkung wenig, dass das Verbot die Absicht voraussetzt, Gewaltbereitschaft zu vermitteln, die Bevölkerung einzuschüchtern oder den öffentlichen Frieden zu stören – denn dies ließe sich auch Streikposten unterstellen. Daher hält der DGB auch diesen Passus für grundgesetzwidrig und fordert eine eindeutigere Formulierung.
Das Uniformierungs- und Militanzverbot richtet sich, so der federführende Innenminister Baden-Württembergs, Heribert Rech, in einem Interview mit der dpa, gegen Aufmärsche militant auftretender Rechtsextremisten. Dies mögen die meisten Bürger kurzsichtig begrüßen. Aber das Versammlungsrecht gilt auch für Rechtsextremisten, und die müssen sich auf ihren Versammlungen so geben können, wie sie sind: militant und latent gewaltbereit. Der Innenminister trägt durch die Verschärfungen dazu bei, dass aus den bisher abschreckenden Aufmärschen junger Neo-Nazis eine friedlich demonstrierende Versammlung wie jede andere auch wird. Rechtsextremisten dürfen sich fortan nicht mehr unfreiwillig selbst entlarven, sondern werden nun zu etwas gemacht, was sie nicht sind: friedliche Mitbürger, die lediglich öffentlich ihre Meinung kundtun.
Dass es sich bei dieser Begründung aber nur um einen Vorwand handelt und es vor allem der CDU-Fraktion eher um linkes Gewaltpotenzial geht als um rechtes, lässt sich ihrer Anfrage an das Innenministerium vom 24.07.07 entnehmen – zumal die CDU Baden-Württemberg traditionell nur geringe Probleme mit nationalsozialistischen Umtrieben hat. Einen weiteren möglichen Vorwand, um Demonstrationen vorschnell zu verbieten, liefern die „gleichrangigen Rechte Dritter“, auf die im Genehmigungsverfahren Rücksicht genommen werden muss. Wer sind die „Dritten“, und was sind ihre „gleichrangigen Rechte“? Sind es die Verkehrsteilnehmer, die sich nicht von Demonstrationen aufhalten lassen wollen? Anwohner, die nicht möchten, dass auf „ihrer“ Straße eine Kundgebung stattfindet? Arbeitgeber, die keine Streikposten dulden wollen? Kaufleute, die es nicht ertragen, dass ein Schweigemarsch an ihrem Laden vorbei-, aber nicht in ihn hineinläuft? Dem Bedürfnis der Abgeordneten, sich nicht mit den Anliegen ihrer Wähler beschäftigen zu müssen, dient bereits die in der Vorlage eingearbeitete Bannmeile. Das Ziel von Demonstrationen und Streiks ist es, Aufmerksamkeit zu erlangen. Damit naturgemäß verbunden ist eine gewisse Einschränkung des öffentlichen Lebens – was die Justiz genauso sieht. „Rechte Dritter“ sind daher immer betroffen – und öffentliche Versammlungen daher immer gefährdet, von der Polizeibehörde nicht zugelassen zu werden.
Bürokratische Hürden, unklare Formulierungen, weitreichende Befugnisse der Datensammlung
Für Vereine, Verbände und Gewerkschaften schwer nachvollziehbar sind bürokratische Hürden, die eher dazu beitragen, freie Versammlungen zu verhindern als zu ermöglichen. Beispielsweise beträgt die Anmeldefrist für eine Veranstaltung 72 Stunden. Im Versammlungsgesetz des Bundes von 1953, dem Vor-Internet-Zeitalter, waren dies bereits 48 Stunden. Demonstrationen zu aktuellen Ereignissen werden durch die lange Frist unnötig erschwert, obwohl die Kommunikationsmittel und -möglichkeiten sich seit 1953 vervielfacht haben.
Sollte eine Demonstration trotz alledem genehmigt worden sein, kann sie mit Leichtigkeit von Provokateuren der Gegenseite gesprengt werden. Eine Versammlung, die einen gewalttätigen Verlauf nimmt, muss vom Veranstalter unverzüglich aufgelöst werden. Ein Unterbrechen der Versammlung, um die Lage zu beruhigen, ist nicht mehr möglich. Da hilft es wenig, wenn das Stören von Versammlungen grundsätzlich unter Strafe gestellt wird. Es gehört zur Taktik der agents provocateurs, unerkannt in der Menge zu verschwinden, was ihnen der Gesetzgeber durch die sofortige Auflösung der Versammlung nach ihrer erfolgreich getanen Arbeit noch erleichtert. Einige Vereine haben sogar den Schluss gezogen, dass Veranstalter für die Schäden, die durch Unruhestifter verursacht werden, privatrechtlich zur Verantwortung gezogen werden können. Jede Demonstration würde dadurch zum unkalkulierbaren Risiko.
Die Formulierungen sind aber nicht nur ungenau, sondern teilweise sogar missverständlich. Nach dem Wortlaut eines Paragrafen können Versammlungen in geschlossenen Räumen verboten werden, auf denen Ansichten vertreten oder Äußerungen geduldet werden, die ein Verbrechen zum Gegenstand haben. Demnach wären die scheinwissenschaftlichen Vorträge von Holocaustleugnern ebenso verboten wie die wissenschaftlichen Vorträge im Rahmen des fünfzigjährigen Bestehens der Zentralen Stelle für die Aufklärung von NS-Verbrechen in Ludwigsburg. Dieser Fehler wurde fast wortwörtlich aus der bayrischen Vorlage abgeschrieben. Wie der Paragraf tatsächlich gemeint ist, geht nur aus den Erläuterungen im Anhang hervor.
Vor allem von Datenschützern kritisch betrachtet werden die weitreichenden Befugnisse der Polizei, Daten zu sammeln und zu speichern. So darf die Polizei Bild- und Tonaufnahmen von Personen anfertigen, wenn sie sie nur verdächtigt, die Versammlung stören zu wollen. Dies gilt auch für Außenstehende, die gar nicht an einer Versammlung teilnehmen, sondern ihr lediglich zusehen.
Diese neuen Regelungen gehen einher mit einem vor wenigen Wochen beschlossenen neuen Polizeigesetz. Wegen einer Verfassungsbeschwerde gegen das bayrische Versammlungsgesetz verhält sich die baden-württembergische Landesregierung nach der ersten Lesung ihres Entwurfs abwartend. Ihr bleibt nichts anderes übrig, denn sie hat ihn weitgehend vom bayrischen Gesetz abgeschrieben. Sollte die Klage erfolgreich sein, würde sich zeigen, dass hier mit größter Selbstverständlichkeit gegen das Grundgesetz verstoßen wurde.