"Die Verwandlung des Internets in eine neue Art des Fernsehens"
Hossein Derakhshan, früherer König iranischer Blogs, hat auf falsche Weise Recht
Der kanadisch-iranische Blogger Hossein Derakhshan ("Hoder") hat früher mal den Westen für seine Liberalität gelobt, dann geschworen, das Recht Irans auf Atombomben höchstpersönlich mit der Waffe in der Hand zu verteidigen - auch wenn er an Israel, dem ersten Ziel dieser Atomwaffen, sollten sie je gebaut werden, viel Gutes fand.
Für diesen Schlingerkurs hat ihn die iranische Regierung mit sechs Jahren Haft im berüchtigten Evin-Gefängnis in Teheran belohnt. Begründung: Er habe ein feindliche Macht begünstigt (Israel nämlich), Propaganda gegen die iranische Regierung verbreitet, "konterrevolutionäre Gruppen" unterstützt und den Islam und islamische Würdenträger beleidigt. Bevor er in den Knast ging, war er der König der lebendigen iranischen Bloggerszene (Link auf 27897), aber nachdem er im November 2014 vorzeitig entlassen wurde (eigentlich hätte seine Strafe 20 Jahre dauern sollen), gefiel ihm das Internet nicht mehr.
König ohne Land
Heute fühlt er sich als König ohne Land. Schuld sind: Facebook, Instagram und irgendwie die Amerikaner, die ja in gewisser Weise an allem schuld sind. Zwar auch am Internet insgesamt, aber nicht an dem, in dem Hossein Derakhshan der ungekrönte König geblieben wäre.
Hört man den König ohne Land selbst, dann klingt das alles ganz anders. Denn in einem aktuellen Text mit dem pompösen Titel The Web we have to save verwandelt er seine persönliche Enttäuschung darüber, nicht mehr so viel gelesen zu werden wie früher, in eine webpolitische Tatsache von historischer Dimension.
Seiner kulturpessimistischen Lesart nach haben Konsumismus, die Jagd nach dem Neuen und Populären das gute, das wahre Internet zerstört - ein Internet des Worts, der wohlüberlegten Blogeinträge von hoher textlicher Qualität. Man ahnt über die ganze Länge des Textes, dass das wahre Internet eigentlich die Wolke aus iranischen Blogs in Farsi sein sollte, die er vor einem Jahrzehnt durch sein Engagement mitermöglicht hat.
Größtes Verbrechen des neuen Internets ist es seiner Ansicht nach, den Hyperlink "zerstört" zu haben. Die neuen Könige des Netzes gäben dem einzelnen und vereinzelten Text-, Bild- und generell Medienhappen deutlich mehr Aufmerksamkeit und Gewicht als dem sorgfältig durchdachten und verlinkten Blogbeitrag. Alles, was heutzutage zähle, seien Streams aus diesen Konfettiteilchen der Aufmerksamkeitsökonomie.
Der Tod des Hyperlink
Derakhshan berichtet, dass seine Versuche, auf Facebook Fuß zu fassen, kläglich gescheitert seien - auf die Veröffentlichung eines Links zu einem seiner Beiträge habe es nur drei Likes gegeben, wie er verbittert verkündet. Früher, ja früher, da habe er 20.000 Leser am Tag gehabt und Leute nach Belieben "unterstützen oder beschämen" können.
Mal abgesehen von der gehörigen Portion Narzissmus und Paschatum, die diese Äußerungen erkennen lassen, hat er natürlich Recht, wenn er Tendenzen des Internets zur Verwandlung in eine neuen Art des Fernsehens diagnostiziert. Aber er hat auf falsche Weise Recht.
Wie jeder regressive Kulturkritiker phantasiert er sich ein goldenes Zeitalter zurecht, das nun beklagenswerterweise dem allgemeinen Sittenverfall zum Opfer gefallen ist - gerade so, als sei der Kommerzialisierungsdruck im Internet neu. Ich kann mich sehr gut an Parolen in deutschen Computerzeitschriften erinnern, die 1995 zu dem Jahr erklärten, in dem das Internet endgültig, komplett kommerzialisiert sein werde.
Der angebliche Tod des Hyperlinks, von dem Derakhshan fabuliert, und den er mit einer ganzen blumigen Phraseologie über "sehende" und "blinde" Webkonstrukte umgibt, ist in diesem Zusammenhang ein Mythos, der ihm die Möglichkeit gibt, lauter zu klagen.
Dass der Kapitalismus periodisch Produktions- und Distributionsmittel hervorbringt, die seiner Zielrichtung zumindest tendenziell widersprechen; dass er aber gar nicht anders kann, als diese Produktions- und Distributionsmittel in sein Waffenarsenal heimholen zu wollen - das ist ein altbekannter Widerspruch dieser Produktionsweise.
Diesen Widerspruch aufzuzeigen, ihn in jeder Phase der Entwicklung zuzuspitzen, und ihn da, wo es geht, zum Zweck der Aufklärung zu benutzen - das ist die wirkliche Aufgabe der Kritik. Und wo könnte, nach der Kritik, eingreifender Widerstand ansetzen? Der Widerstand gegen das, was Derakhshan beklagt, ist erstaunlich lebendig.
Stockholm-Syndrom?
Als Beispiele seien nur Dinge wie Ello genannt (Hallo, Hallo?), die Tatsache, dass Apple demnächst Werbeblocker für seinen mobilen Internetbrowser zulassen wird, und der Kampf um die Netzneutralität, dem erst vor vier Monaten durch eine Entscheidung der FCC kräftiger Rückenwind verliehen wurde.
Das moralisierende Gerede Derakhshans jedoch nützt in diesem Zusammenhang überhaupt nichts, im Gegenteil. Bei nüchterner Betrachtung ist es wenig mehr als das emotional verständliche, aber ansonsten komplett überflüssige Klagelied eines ehemaligen Internetstars. Da der Verlust seines Starstatus in Wirklichkeit auf das Wirken des iranischen Mullahregimes zurückgeht, lässt sich aus seinen aktuellen Äußerungen zudem ableiten, dass er offensichtlich an einer aggressiven Form des Stockholm-Syndrom leidet.
Denn trotz seiner Gefängniserfahrung schließt er politisch mit seinem "antiimperialistischen" Geschwafel genau da an, wo er kurz vor seiner Inhaftierung aufhörte, als er sagte:
Ich glaube, die Sache der Islamischen Republik ist ehrenwert; sie sollte verteidigt werden, da sie selbst in ihren negativsten Aspekten viel besser ist, als alles, was die USA oder irgendjemand sonst dem Iran bringen können. [Übersetzung M.H.]
Das höchst fragwürdige Nuklearabkommen des Westens mit dem Iran interpretiert Derakhshan als Beweis dafür, dass sich das iranische Volk nicht durch die aggressiven Sanktionen habe unterkriegen lassen, die gegen es gerichtet gewesen seien.
Von dem islamistischen Expansionismus, der von Teheran ausgeht, dem bösartigen Stellvertreterkrieg gegen Israel (via Hisbollah), von dem ganzen unterdrückerischen, klerikalfaschistischen Charakter des Regimes, das ihn sechs Jahre seines Lebens gekostet hat - kein Wort. Man kann bloß hoffen, dass die Mullahs nicht trotzdem wieder irgendeinen Grund finden, ihn wieder ins Gefängnis zu stecken. Seine "Analysen" aber braucht die Welt ebenso wenig wie eine iranische Atombombe.