Hallo, Hallo?
Ello im Selbstversuch
Jedes neue soziale Netzwerk will anders sein. Ello hat seit seinem Start im März des vergangenen Jahres vor allem mit seiner Selbstverpflichtung Wind gemacht, "niemals" auf Werbung zu setzen, und die Beziehungen zwischen den Usern als menschliche Beziehungen ernst zu nehmen. Aber wie fühlt sich Ello im Gebrauch an?
So viele soziale Netzwerke, so wenig Zeit. Ja, man kann das natürlich alles für Kram halten, immer noch, oder für die ewige Wiederkehr des Immergleichen. Aber es kann durchaus interessant sein, sich in mehreren sozialen Netzwerken parallel mit ähnlichen Themen und Inhalten herumzutreiben; für Leute, die "irgendwas mit Medien machen", kann es sogar essentiell sein.
Wie man sich in unterschiedlichen Freundeskreisen und Cliquen unterschiedlich verhält und bewegt; wie man auf die eigenen Impulse im Sportverein andere Rückmeldungen erhält als am Arbeitsplatz, so bieten die Beziehungssimulationen der sozialen Netzwerke auch verschiedene Spiel- und Übungsplätze für das je Eigene.
Und Ello hat Alleinstellungsmerkmale zu bieten, das kann man gleich vorausschicken, die beispielsweise weder Diaspora noch Hi bieten können - zwei Netzwerke, die ganz sicher von sich behaupten würden, anders als Facebook zu sein. Ein bisschen ist es vielleicht wie bei verschiedenen Kneipen in der gleichen Stadt: Die Preise unterscheiden sich, das Dekor, die Atmosphäre, das Publikum. Und je nach Geschmack fühlt man sich in der einen wohler als in der anderen.
Was für eine Kneipe ist Ello?
Da sind zunächst einmal die kühnen Claims, die man seit einem Jahr vor sich herträgt: Ello werde immer werbefrei sein. Es gehe nicht um das Abschöpfen von Daten und das Verkaufen von Werbung, sondern um soziale Beziehungen. Wer das für bloße Sprüche hielt, den überraschte Ello Ende Oktober, indem es sich in ein gemeinnütziges Unternehmen verwandelte (eine "Public Benefit Corporation"), was, laut Eigenauskunft dazu führte, dass man juristisch an die eigenen Versprechungen bezüglich der Werbefreiheit und der Userdaten gebunden ist.
Bezahlt wir das Ganze im Moment noch durch Risikokapital; in naher Zukunft will man "Features" anbieten, die wenig kosten und trotzdem toll sind. Versprochen.
Das kann ökonomisch funktionieren oder auch nicht - aber die Benutzeroberfläche von Ello weiß jetzt schon durchaus zu gefallen. Bilder können beliebig groß und Texte beliebig lang sein. Das Hochladen von Bildern und die Formatierung von Texten ist einfach, ebenso wie das Aus- und Abwählen von Kontakten, die im Ello-Jargon, wer hätte es gedacht, "friends" heißen. Dass die Benutzeroberfläche noch öfter die Grätsche macht und sich manche Benutzer darüber heftig beschweren, während sie, wir erinnern uns, nicht einmal mit ihren Nutzerdaten für Ello bezahlen - geschenkt.
Aber wer nutzt Ello? Bei oberflächlicher Betrachtung könnte man schnell auf den Gedanken kommen, dass vor allem Leute dabei sind, die "irgendwas mit Medien machen", und zwar von allem ein bisschen, gleichzeitig. Haufenweise "Kreative" sind darunter, und sie unterteilen sich in Lager, die ich als die "Bauhaus forever"- und die "Je bunter, je Hipster"-Fraktion bezeichnen würde.
Schnell merkt man, dass es bei all der forcierten Individualität mit wirklicher Unverwechselbarkeit nicht weit her ist. Viele von diesen Kreativen sind vielleicht eigen, aber etwas Eigenes ist ihnen noch nicht eingefallen - was bei den Post-Post-Bauhäuslern naturgemäß schneller auffällt als bei den bunten Hipstern, die dann aber bald den Verdacht aufkommen lassen, dass die beiden großen Ds (Design & Drogen) oft eben nicht zu Bewusstseinserweiterung führen, sondern nur zu komischen Bärten, Brillen und Hobbies (wie z.B. dem Stricken).
Die Zurückweisung jeder Hoffnung ist ermüdend
Wer sich nach diesem Befund von Ello wieder abwendet, hat mein Verständnis, aber möglicherweise ist das dennoch ein Fehler. Es braucht ein paar Tage, vielleicht auch eine Woche, um Fotos zu finden wie die von Robert Larson oder die von Markus Pfeffer, die digitalen Collagen von Bill Domonkos oder die Fabelwesen von Maryanna Hoggatt.
Vielleicht hat jede/r Zwanzigste, der oder die unter den Rubriken "Recommended", "Related" und "Random" angeboten wird, etwas zu zeigen, das man sich dann näher anschauen möchte - eine recht hohe Trefferquote. Dass ich oben vor allem visuelle Künstler verlinkt habe, ist kein Zufall - bis jetzt eignet sich das Interface von Ello vor allem für die Präsentation von statischem Bildmaterial, bald aber sollen bessere Einbindungsmöglichkeiten für Videos und Audiodateien hinzukommen.
Katzenbilder sind noch extrem selten. Die Mobbing- und Trollrituale, die man von so traurigen Orten wie z.B. manchen Gegenden in Second Life kennt, habe ich noch gar nicht wahrgenommen - was die Sozialkompetenz der Teilnehmer angeht, weist Ello bis jetzt eine wohltuende Gemeinsamkeit mit dem bereits oben erwähnten Hi und dem altgedienten JPGmag auf.
Mit anderen Worten: Ello ist bis jetzt, von der anscheinend wirksam versprochenen Werbefreiheit abgesehen, eines der üblichen Internet-Neuländer. Ich würde mich nicht allzu sehr darauf verlassen, dass Ello nicht eines Tages doch Werbung akzeptieren muss - ich nehme nicht an, dass die Rückumwandlung einer "Public Benefit Corporation" in ein ganz normales Unternehmen völlig unmöglich ist.
Aber erstens bin ich zum Beispiel immer noch der Meinung, dass selbst Facebook seinen guten Nutzen haben kann, und zweitens ist die Zurückweisung jeder Hoffnung genauso ermüdend und reaktionär wie ewiger, realitätsverleugnender Optimismus. Von daher wünsche ich Ello alles Gute.
Hinweis: Bis jetzt muss eingeladen werden, wer bei Ello mitmachen will. Das sollte aber bei den dreißig Einladungscodes, die jedes neue Mitglied generieren kann, kein wirkliches Problem sein. Marcus Hammerschmitt bei Ello.