Die Volksparteien haben das Volk belogen und betrogen

Seite 4: Zwischen Globalisierung und Nationalismus besteht kein Widerspruch

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Die globalisierte Wirtschaftsordnung ist gerade das Mittel, mit dem jedes Land seine nationale Position festigt und sich gegen andere Länder durchsetzt. Ein Widerspruch besteht vielmehr zwischen den Anforderungen des Kapitalismus (nämlich konstante Profite für die Kapitaleigner zu erwirtschaften) und dem, was sich die meisten Menschen unter einer gerechten Wirtschaft vorstellen (nämlich einen funktionierenden Sozialstaat und sichere, angenehme, gut bezahlte Jobs für alle).

Das basierte darauf, dass die deutsche Arbeiterklasse zum Wohle der nationalen Industrie Opfer brachte: in Form von "Lohnzurückhaltung", aber auch durch die neoliberale Transformation des Sozialstaates seit den 1990er Jahren. Die Gesellschaft, die dabei entstand, ist geprägt von Leiharbeit, prekärer Beschäftigung, wachsender Armut und sozialer Unsicherheit.

All das wäre ohne die wirtschaftsliberalen Reformen der rot-grünen Schröder-Regierung kaum möglich gewesen. Die Agenda 2010 und die explizit neoliberale Wendung der SPD rührten eben nicht daher, dass sie sich einem exzessiven "Globalismus" verschrieben hätte. Vielmehr erwiesen sich die Sozialdemokraten als gute deutsche Patrioten: Sie opferten die sozialen Interessen eines Großteils ihrer Basis, um die deutsche Wirtschaft, um die Nation, das nationale Kapital wieder stark zu machen.

Gerade deswegen ist es geradezu absurd, die "Kosmopoliten" als Sündenbock heranzuziehen, um die Krise der Sozialdemokratie in Europa zu erklären. Doch tatsächlich steht dahinter eine völlig andere Konstellation. Nach dem Zusammenbruch der bipolaren Welt und dem Ende der ideologischen Konfrontation zwischen Ost und West haben sich nach Überwindung der anfänglichen Orientierungslosigkeit nach und nach und immer stärker antidemokratische Autokratie und nationale Egoismen durchgesetzt.

In deren Gefolge etablierten sich allenthalben auf privater Ebene krassester Egoismus und auf nationaler Ebene unkontrollierte nationalistische Eigensucht mit deutlich faschistischen Zügen. Es ist wesentlich plausibler, die Existenz der angeblichen "Kommunitaristen" als eine Art Wiedererwachen der faschistischen und nationalsozialistischen Denkmuster der Vergangenheit, natürlich in zeitgemäß modernem Gewande, zu deuten und - ganz und gar unabhängig davon - den Niedergang der Volksparteien als einen Prozess zu deuten, der so gut wie ausschließlich darauf zurückzuführen ist, dass wachsenden Teilen der Bevölkerung immer klarer geworden ist, dass Volksparteien nichtsnutzige PR-Veranstaltungen darstellen, die stets den Mund zu voll nehmen, deren Horizont stets nur bis zum nächsten Wahltag reicht und die keins der vielen Versprechen halten, die sie stets in reichem Maße im Volk lancieren.

Rechtsextremismus ist weiterhin die Sammelbezeichnung für neofaschistische, neonazistische oder ultra-nationalistische politische Ideologien und Aktivitäten, deren gemeinsamer Kern die Orientierung an der ethnischen Zugehörigkeit, die Infragestellung der rechtlichen Gleichheit der Menschen sowie ein antipluralistisches, antidemokratisches und autoritär geprägtes Gesellschaftsverständnis ist. Daran ist aber auch absolut gar nichts Neues.

Politischen Ausdruck findet dies in Bemühungen, den Nationalstaat zu einer autoritär geführten "Volksgemeinschaft" umzugestalten. Der Begriff "Volk" wird dabei rassistisch oder ethnopluralistisch gedeutet. Da sich Rechtsextremisten in unterschiedlichen soziokulturellen Kontexten auf unterschiedliche Konzeptionen von Nation beziehen, unterscheidet sich die Definition des Rechtsextremismus in einzelnen Staaten.

Die Volksparteien haben den Karren mit großem verbalem Aufwand an die Wand gefahren und hampeln hilflos umher. Bloß: Lösungen haben sie so gut wie kaum gefunden.

Wie hat es überhaupt je dazu kommen können, dass die Wähler dies immer noch alles so widerstandslos, apathisch, ja gelangweilt über sich ergehen lassen? Im Gespräch zeigt sich jeder Einzelne zutiefst frustriert über die Irrungen und Wirrungen und die Perspektivlosigkeit der Politik. Doch wenn es darum gehen könnte, Konsequenzen zu ziehen, machen sie bei Wahlen immer noch ihr Kreuzchen an der Stelle, an der sie das schon meistens früher gemacht haben, oder vielleicht auch mal an einer anderen Stelle. Aber das macht auch nicht viel aus.

Die Wahlen gingen während der hohen Zeit der Volksparteien halt immer ähnlich aus. Im Prinzip änderte sich nie viel. Es ging immer nur um ein paar Prozent nach oben oder nach unten. Mal gewannen die einen und verloren die anderen, aber immer waren die Volksparteien mit von der Partie. Mal gewannen die anderen und verloren die einen. Politisch aber blieb meistens alles beim Alten. Empörung? Wut? Aufruhr? Revolutionäre Stimmung? Politikverdrossenheit? Ja, höchstens nach dem siebten Bier. Nur die Apathie großer Teile der Bürger nahm laufend zu. Und der Politik und den Volksparteien war das lange Zeit sogar noch recht bequem.

Die Wissenschaft hat für dieses Verhalten den Terminus "rationale Ignoranz" geprägt. Jeder Wähler weiß, dass er mit seiner Stimme nur einen minimalen Einfluss auf das Wahlergebnis hat. Könnte der einzelne Wähler eine Wahl entscheiden, wäre das gewissermaßen der Höchstnutzen, den die Entscheidung ihm bringen könnte.

Bei einer konkreten politischen Abstimmung stehen die Wähler vor dem Problem, einerseits mit verschwindend geringer Wahrscheinlichkeit die Wahl zu entscheiden (Nutzen) und andererseits beliebig viel Zeit investieren zu müssen, um sich tatsächlich zu jedem Thema eine Meinung zu bilden (Kosten).

Weil die eigene Stimme in der repräsentativen Demokratie der Volksparteien fast gar keinen Einfluss auf das Wahlergebnis und die daraus folgende Politik hat, lohnt es sich für den "homo oeconomicus" nicht, hohe Informationskosten auf sich zu nehmen. Was er an Informationen aufnimmt, hängt eher vom Unterhaltungswert der Nachricht als von deren politischer Bedeutung ab. Wenn die eigene Stimme in einem Millionenmeer von anderen Stimmen versinkt, dann ist diese Ignoranz auch ganz vernünftig, wenn es politisch um das große Ganze geht.

Völlig anders stellt sich das bei partikularen Interessen dar. Da geht es um die ganz persönlichen Vorteile. Da kann sich keiner Ignoranz erlauben. Landwirte wissen über Agrarsubventionen, Unternehmer über steuerliche Abschreibungsmöglichkeiten, über 65-Jährige genauer über Renten und Studenten über Studiengebühren ziemlich gut Bescheid.

Wenn aber nur Leute mit Partikularinteressen halbwegs informiert sind, die Masse der nur indirekt als Steuerzahler oder Konsumenten betroffenen Bürger aber fast gar nicht, dann lohnt es sich für Politiker, die ja gewählt werden wollen, sich weitgehend den Wünschen der betroffenen und informierten Minderheiten, ihrer Klientele, zu unterwerfen und für diese spürbare und möglichst große Vorteile durchzusetzen - auch und gerade zu Lasten schlecht oder gar nicht informierter Mehrheiten.

Rationale Ignoranz der Wähler führt in der Konsequenz zu einer Wirtschaftspolitik, die sich gegen das Gemeinwohl und gegen die Interessen der Gesamtbevölkerung richtet.