"Die Wahrheit ist hier, der Spaß in einer anderen Welt"

Seite 2: Wir erleben einen Totalitarismus mit bürokratischen Normen

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Wie lässt sich nun nach Ihrer Vorstellung die kranke gesellschaftliche Seele therapieren?

Robert Pfaller: Ich glaube, dass die Philosophie einige sehr effiziente kleine Handgriffe entwickelt hat, mit denen man jemand da herausreißen kann. Man kann sich zum Beispiel die Frage stellen "Was weiß ich denn?" Das war eine skeptische Technik, sich aus fixen Ideen zu befreien, die Michel de Montaigne verfolgt hat.

Ein schöner Kunstgriff ist dem stoischen Philosophen Epiktet zu verdanken, den ich auch als einen Materialisten sehe. Als er auf einem Schiff reiste und ein Sturm aufkam und die Matrosen bleich wurden und starr vor Angst, hat er ihnen zugerufen: Was schaut Ihr den Ozean an, als ob Ihr ihn austrinken müsstet, wo zwei Liter genügen, um jeden von Euch ertrinken zu lassen. Das ist auch so ein Gegengedanke, der eigentlich paradox ist, weil er kränkend ist. Aber er holt diese starren und in panischer Paranoia befangenen Matrosen heraus aus ihrem Objektverlust und macht sie so klein, dass sie wieder mit der Welt umgehen können.

Wir waren immer gewohnt, dezisionistische Entwicklungen als hierarchisch und despotisch anzusehen und alles, was Recht und Transparenz schafft, als emanzipatorische Fortschritte. Im Moment erleben wir aber das Gegenteil. Wir erleben einen Totalitarismus mit bürokratischen Normen, der alles was der Gesellschaft an Entscheidungen am Entscheidungen nützen könnte, durch ausufernde Kontrollzwänge unterdrückt, und dem müssen wir entgegensteuern.

Können Sie dafür ein Beispiel geben?

Robert Pfaller: Die EU-Staaten hätten zum Beispiel ihre Bildungssysteme sehr leicht vereinheitlichen können - durch den einfachen Beschluss, ihre bestehenden Universitätsabschlüsse wechselseitig anzuerkennen. Stattdessen haben sie unter dem Namen "Bologna-Reform" eine ungeheure Bürokratie installiert, um die Studiengänge einander anzugleichen, was überhaupt nicht funktioniert und erheblichen Schaden angerichtet hat.

Man muss hier zur Kenntnis nehmen, dass sogar wissenschaftliche Vernunft letztlich immer ein "Faktum" (Kant) ist, das nicht im Vorhinein legitimiert werden kann. Oder wie Spinoza schrieb: Die Idee geht notwendigerweise der Idee der Idee voran. Wenn man dieses Moment von nicht legitimierbarer Entscheidung dem Zwang zur Legitimation unterwirft, dann zerstört man Realität durch ihre Aufzeichnung. Dieses Ersetzen von Entscheidung durch bürokratische Scheintransparenz ist es, was man derzeit auch als "Gouvernementalität" bezeichnet, das typische Symptom "post-politischer" Verwaltungsgesellschaften.

Was dieses Ausufern bürokratischer Kontrolle verhindern kann, zumindest auf der Ebene der Einbildungen, durch die sie sich legitimieren, ist eine Figur, die ich bei Epikur gefunden habe: die der Verdoppelung. So wie Epikur sagt, damit die Mäßigung überhaupt eine Mäßigung ist, muss man sie maßvoll einsetzen, dasselbe kann man auch über die Vernunft sagen. Man muss auch auf vernünftige Weise vernünftig sein. Wenn man überall Transparenz walten lässt, macht man die Vernunft kaputt. Dasselbe gilt auch für das Leben.

Von Juvenal stammt dieser schöner Vers: Betrachte es als die höchste Schande, das nackte Leben höher zu stellen als die Scham und um des Lebens willen die Gründe für das Leben zu verlieren. In diesem Vers verdoppelt sich die Figur des Lebens. Juvenal sagt, wenn wir alles nur tun um das nackte Leben zu retten, dann ist das Leben kein Leben mehr. Das heißt auch lebendig sind wir nur dann, wenn wir auf lebendige Weise am Leben sind.

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